In hohem Alter bemerkte Johann Wolfgang von Goethe einmal gegenüber Eckermann: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben vortreffliche Dichter vor mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir und es werden ihrer nach mir sein. Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewusstsein der Superiorität über viele.“ Dass es Goethe mit der Farbenlehre ernst war, belegt auch eine Anekdote von seinem Todestag – noch da habe er „viel von seiner Farbenlehre gesprochen, ließ sich 7 Uhr früh eine Mappe mit Farbphänomenen bringen.“
In diesem Jahr sind 200 Jahre ve
r sind 200 Jahre vergangen, seit besagtes Werk erschien. In heutigen Ausgaben nimmt es fast 1.400 Seiten ein, mit zusätzlich „sechzehn Tafeln“ und weiteren 27 zu Goethes Beiträgen zur Optik: Ein Riesenwerk, dem, man muss es sagen, bis heute die Anerkennung versagt geblieben ist. Man kennt, wenn überhaupt, den Titel – gelesen aber, geschweige denn experimentell auf die Probe gestellt, wie Goethe es sich von seinen Lesern gewünscht hatte, wird die Farbenlehre so gut wie nie.Eine andere ModerneAus dem Schatten dieses Übersehenwerdens zieht nun eine bemerkenswerte, man darf sagen bahnbrechende Ausstellung das Werk ins Licht. Sie ist von enzyklopädischem Format und im Goethe-Nationalmuseum in Weimar zu sehen, bis Mitte nächsten Jahres: groß, didaktisch, anschaulich, sogar, wie es heutzutage heißt, „interaktiv“ – und jede Anreise wert. Warum?Zu besichtigen ist in Weimar eine Wegscheide. Die Erinnerung an die Möglichkeit einer anderen wissenschaftlichen Moderne als jener, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ihrer Verbindung mit Kapitalismus und Industrieller Revolution den Sieg davontrug – von deren Früchten wir uns im heutigen Wohlstand zwar nähren, deren Früchte uns aber täglich auch problematischer, um nicht zu sagen ungenießbarer werden. Am vorläufigen Ende des damals beschlossenen Sieges über die Natur steht nicht nur Hiroshima, sondern auch die Atomenergie, deren gefährliche Abfallprodukte wir nicht wieder loswerden.Wer auch nur oberflächlich von Goethes Farbenlehre gehört hat, der weiß, dass es darin um eine leidenschaftliche Kritik an Isaac Newtons (1642-1727) bis heute gültiger Theorie vom Ursprung der Farben aus der Brechung des weißen, des Sonnenlichts geht, deren unübersehbarer und unwiderlegbarer Beweis der Regenbogen ist. Newton hatte das Farbenspektrum im Experiment sichtbar gemacht, indem er das Licht durch ein kleines Loch und ein Prisma in eine Dunkelkammer schickte.Kontrast zur Apparate-PhysikGoethe sah darin eine Vergewaltigung des Lichts, die eben durch die Methode dieses Erkenntnisgewinns zu falschen Schlüssen führen müsse. Die gewaltsame Unterwerfung der Natur – in der Wissenschaft durch Apparaturen aller Art – führte in letzter Konsequenz zu ihrer Zerstörung und damit zur Zerstörung der Grundlage der menschlichen Existenz. Das sah Goethe als Möglichkeit über den Menschen der Zukunft hereinbrechen, daher rührte sein Engagement für eine andere Wissenschaft.Etwa die Hälfte des Goethe’schen Lebenswerkes ist naturwissenschaftlichen Untersuchungen gewidmet. Er durfte sich – auch wenn das von Zeitgenossen eher als Grille des Dichters wahrgenommen wurde – als Wissenschaftler sehen, tat das aber mit einem anderen Ansatz: mit der absoluten Priorität sinnlicher Wahrnehmung der Phänomene. Darum war er von der Farbe derart fasziniert, wie, warum und mit welchen Wirkungen wir sie wahrnehmen.Nichts ist so aufregend und eindrucksvoll in der Weimarer Ausstellung wie die Fülle und die handwerkliche Genauigkeit der Originalzeichnungen, mit denen Goethe seine Befunde dokumentierte. Nur ein kleiner Teil der mehr als 500 wissenschaftlichen Zeichnungen, die er allein zum Phänomen der Lichtbrechung anfertigte, können dort gezeigt werden. Für die Methode des Beobachtens erfand Goethe den Begriff von der „zarten Empirie“ als Kontrast zur Empirie der Apparate-Physik und -Wissenschaft.Warum beruhigt grün?Dafür liefert die Weimarer Schau schönstes Anschauungsmaterial, die Kuratoren legen großen Wert darauf, dass die Besucher Goethes Experimente selbst nachvollziehen können – ob es sich nun um das Phänomen der „farbigen Schatten“ handelt, dem Ausgangspunkt von Goethes Farben-Faszination, oder um die optische Demonstration seiner Hauptthese, dass Farben dort an den Rändern entstehen, wo das weiße Licht auf dunkle Widerstände trifft. Für Newton ist die Dunkelheit kein Gegenstand wissenschaftlicher Neugier, weil sie keinen „Strahl“ produziere, also nicht zerlegbar sei. Für Goethe gibt es ohne Dunkelheit kein Licht. Und umgekehrt.Die Polarität von Licht und Dunkelheit gehört zu den fundamentalen Elementen von Goethes Weltsicht und Wissenschaft – einer Wissenschaft, die allen Menschen gehört, nicht nur den Experten. Geradezu provozierend formuliert er im Schlusswort der Farbenlehre: „Es ist daher niemand, der nicht seinen Beitrag den Wissenschaften anbieten dürfte. Alle Naturen, die mit einer glücklichen Sinnlichkeit begabt sind, Frauen und Kinder, sind fähig, uns lebhafte und wohlgefasste Bemerkungen mitzuteilen.“Was die Ausstellung in Weimar über die im engeren Sinne naturwissenschaftliche Farbenlehre hinaus darstellt, ist Goethes Interesse an der „sinnlich-sittlichen Wirkung“ der Farben, an den psychischen Reaktionen, die bestimmte Farben im Menschen hervorrufen. Warum etwa das Grün auf uns eine beruhigende Wirkung ausübt oder der Purpur die Farbe der Macht ist: Goethe ist der erste, der eine systematische Farbenpsychologie entwickelt, die er in Form eines Farbenkreises darstellt. Er formuliert aufgrund seiner Beobachtungen aber auch die erstaunliche These, dass Lebewesen desto weniger farbig sind, je höher ihre Entwicklungsstufe ist. Oder er experimentiert mit der Wirkung farbigen Lichts auf Pflanzen.In den Sinnen verankertDie Intensität und Gründlichkeit, mit der Goethe seine Farbenstudien betrieb und von der gerade diese Ausstellung ein überwältigendes Zeugnis ablegt, macht deutlich, für wie wichtig er seine in den menschlichen Sinnen verankerte Methode hielt, Wissenschaft zu betreiben. Und auch, warum er die mathematisch begründende Wissenschaft so erbittert bekämpfte. Andererseits müsste die Erinnerung an Goethes Farbenlehre heute zumindest bei auch nur leidlich Gebildeten bewirken, dass sie die oft zitierte Rede des Psychologen Kurt Eissler von Goethes Newton-Polemik als „paranoide Psychose“ nicht ernst nehmen. Sie verkennt ganz offensichtlich die außerordentliche Bedeutung des Richtungskampfes um die wissenschaftliche Weichenstellung vor 200 Jahren.Aktuell stellt sich mit Goethes – hier ebenso eindringlich wie leicht zugänglich präsentierter – Farbenlehre die Frage, ob dieser Kampf tatsächlich endgültig von der Moderne gewonnen wurde, oder ob die Erinnerung an die andere Moderne der Goethezeit nicht eine Kurskorrektur bewirken oder sie doch wenigstens nachdenkenswert machen könnte.