Mit dem Goldenen Bären für den iranischen Film "Nader And Simin, A Separation" hat die Jury um Isabella Rossellini den Favoriten von Presse und Publikum ausgezeichnet
Einen Berlinale-Jahrgang gleich nach der Abschlussveranstaltung zu beurteilen, ist ein bisschen so, wie Wein gleich nach dem Keltern zu verköstigen. Denn auch für Filme gilt: Um ihre wahre Qualität zu zeigen, müssen sie eigentlich mindestens ein Jährchen altern – und im Gedächtnis der Filmkritik reifen. Erst wenn sich das von Schlafentzug und Festivalgereiztheit gestörte Erinnerungsvermögen restauriert hat, wird sich zeigen, was von der 61. Berlinale wirklich zu halten war. Und spätestens wenn es genau in einem Jahr dann heißt, der Jahrgang 2012 sei nun wirklich der Tiefpunkt der Festivalgeschichte, wird man über 2011 vielleicht doch wieder anders denken.
Die noch während des Festivals abgegebenen Urteile zur diesjährige
#228;hrigen Ausgabe klangen erstmal verheerend. Bezeichnungen wie „Schmalkost“ oder „Magerquark“ für das ausgedünnte Wettbewerbsprogramm von nur 16 Filmen waren in diesem Zusammenhang noch milde Ausdrücke. Doch schon die Preisvergabe veränderte die Stimmung. Mit dem Goldenen Bären für Nader And Simin, A Separation vom iranischen Regisseur Asghar Farhadi hatte die Jury um Isabella Rossellini einmal das getan, was Jurys sonst meiden wie der Teufel das Weihwasser, nämlich den erklärten Favoriten von Presse und Publikum ausgezeichnet. Dass diese Wahl dazu noch die politisch nächstliegende war, kam als Glücksfall dazu: zum einen wegen der aktuellen Ereignisse und zum andern, weil die ganze Berlinale in diesem Jahr im Zeichen der Solidarität mit dem im Iran inhaftierten Filmemacher Jafar Panahi stand, der eigentlich als Jurymitglied berufen war, dessen Stuhl aber leer blieb, was auf der Eröffnungs- und Abschlussgala mit einem symbolischen Sessel samt Aufschrift demonstriert wurde. Als habe sie ausdrücklich dem Anschein widersprechen wollen, ihre Entscheidung sei rein aus politischen Gründen erfolgt, verlieh die Jury dann noch beide Darstellerpreise an das weibliche und männliche Schauspielerensemble des berührenden Films aus dem Iran, der mit seiner präzisen Schilderung eines privaten Konflikts einen tiefen Einblick in die Lebensrealität der modernen iranischen Gesellschaft zu vermitteln versteht. Und keiner, der den Film gesehen hat und mitgerissen wurde vom vielschichtigen, feinpsychologischen Spiel der Darsteller im Alter von 7 bis 80, hatte an dieser Wahl etwas auszusetzen.Genauso wenig umstritten war die Vergabe des großen Preises der Jury, sozusagen die Silbermedaille der Berlinale, an The Turin Horse vom ungarischen Meisterregisseur Béla Tarr. Zwar hatte nicht jeder Kritiker und Zuschauer die zweieinhalb Stunden wirklich genossen, in denen Tarr in Stummfilmästhetik mit bestechend schönen Schwarzweißaufnahmen die Vergeblichkeit menschlichen Tuns abhandelt. Die cineastische Meisterschaft aber, mit der Tarr Kargheit und Monotonie über Kamera, Ton und Ausstattung als pessimistische Oper von Mensch gegen Natur inszeniert, war selbst für jene ersichtlich, die sich schon nach 20 Minuten ermattet aus dem Kino schlichen. In fast rührend altmodisch-idiosynkratischem Auteur-Gehabe hatte Tarr zudem erklärt, das dies sein letzter Film sei. Den Bären nahm er schweigend entgegen, die heute ganz anachronistisch wirkende Haltung demonstrierend, dass doch das Werk gefälligst für sich spräche.Europa-Afrika-BeziehungMit etwas weniger Zustimmung, aber ganz ohne Proteste wurde der Rest der Preisvergaben aufgenommen. Wie etwa der Silberne Bär für das Beste Drehbuch für The Forgiveness Of Blood, in dem der amerikanische Regisseur Joshua Marston die Folgen von Sippenhaftung und Blutrache im heutigen Albanien illustriert. In der filmischen Methodik verfährt Marston ganz ähnlich wie der Iraner Farhadi, er folgt seinen Figuren, filmt sie fast wie dokumentarisch bei Verrichtungen und Gesprächen, und lässt zwischendurch mit Großaufnahmen der Gesichter immer wieder Zeit, um sich einzufühlen in die widersprüchlichen Emotionen, die die Figuren umtreiben. Liegt es an den Schauspielern, liegt es an der Inszenierung oder doch dem gesamtpolitischen Kontext, dass The Forgiveness Of Blood sein Publikum weniger involvieren und mitreißen konnte als Nader And Simin, A Separation? Auch das eine Frage, die erst die Zeit beantworten wird.Nur den langjährigen Berlinale-Besucher konnte dagegen erstaunen, mit wie wenig Ressentiment die deutsche Kritik auf die Tatsache reagierte, dass beide deutsche Beiträge im diesjährigen Wettbewerbsprogramm mit Preisen bedacht wurden. Und es wurde auch nicht nur auf das schlechte allgemeine Niveau der Filme geschoben, dass etwa Ulrich Köhler den Silbernen Bären für die beste Regie für seinen Film Schlafkrankheit erhielt. Nein, mit seiner ungewöhnlicher Personenführung – alles Unsympathen! – und dem Mut zum bruchstückhaftem Erzählen – nach einer Stunde wechselt der Film radikal seine Perspektive – lieferte Köhler eine zugleich intellektuell als auch cineastisch überzeugende Analyse der postkolonialen Europa-Afrika-Beziehung, der man den Bären von Herzen gönnt.Dass man ihm den Preis mehr gönnt, als ihn für verdient erachtet, trifft den Fall von Andres Veiel. Für sein Spielfilmdebüt Wer wenn nicht wir erhielt der bekannte Dokumentarfilmer den Alfred-Bauer-Preis, einen Preis, der damit definiert wird, für Filme vorbehalten zu sein, die neue Perspektiven im Weltkino aufzeigen. Gerade das aber hatte vielen an Wer wenn nicht wir gefehlt: dass er etwas Neues aufzeige, sei es in Form oder Inhalt. Es gab jedoch keinen anderen Film auf der Berlinale, über den so heftig diskutiert wurde. Die Geburt der RAF aus dem Geist der engen, muffigen Elternhäusern der BRD der frühen sechziger Jahre mag vielleicht keine ganz frische These sein, Veiel aber kann für sich beanspruchen, den in den letzten Jahren modisch gewordenen, sensationsheischigen Interpretationen von Andreas Baader und Gudrun Ensslin als „Popstars“ zu widersprechen und die Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF damit wieder auf eine Ernsthaftigkeit zurück zu führen, die die Diskussion lohnt.