Auf ewig süchtig

Kulturkommentar Adieu, Laster: Die Tugend hält Einzug in die Literatur. Aber Gregor Hens hält mit seinem großartigen Buch "Nikotin" tapfer dagegen

Am Anfang war das Fleisch. Es mag daran gelegen haben, dass der ästhetische Aspekt der Massentierhaltung unausweichlich Widerwillen in der zarten Künstlerseele erzeugen muss. Vielleicht ist es auch die Sehnsucht nach Elastizität und Jugendlichkeit, die gerne mit dem Vegetarierdasein verbunden wird. Oder die großen, über das Ich hinausreichenden Fragen sind einfach derart überstrapaziert, und das Naheliegende ist so nahe, dass sich die asketische Selbstbespiegelung tatsächlich einen festen Platz in der gehobenen Literatur fern des Moppel-Ich ergattern konnte. Selbst erfolgreiche Romanautoren greifen statt aufs Fiktive jetzt auf die reale Erfahrung am existenziellen Selbst zurück. Nicht nur beim Fleisch, sondern überhaupt. Was esse ich? Was trinke ich? Wie lebe ich? Wie erreiche ich dabei eine höhere Stufe der Tugendhaftigkeit?

Der erzählte Versuch, auf diese nur scheinbar lapidaren Fragen eine Antwort zu finden, geht leider nicht immer gut. Man musste das etwa in Karen Duves Schweinsgalopp durch vier Ernährungsideologien in Anständig Essen ­erfahren. Die Autorin lebt da eine ­Beispielhaftigkeit vor, deren missio­narischer Hintersinn sich nicht zuletzt in Duves Talkshowauftritten als „Expertin“ zum Thema Essen spiegelte – ­darüber hinaus las sie auch auf einer Veganer-Messe vor. Aber es besteht Grund zur Hoffnung: Gregor Hens zum Beispiel hat ein Buch geschrieben, das Nikotin heißt und laut Klappentext eine „Hommage an die Zigarette“ sein soll – wie provokativ! –, tatsächlich aber das packende Protokoll einer selbst­zerstörerischen Hassliebe darstellt (S. Fischer Verlag, 2011). Hens ist süchtig, er war es von Kindesbeinen an, er wird es immer bleiben, und schon deshalb steht nicht zu erwarten, dass er zur Ikone der gesellschaftlichen Raucher-Ächtung würde. Wer Rückfallzigaretten auf so verklärende und zugleich be­rührende Art beschreibt, taugt nicht als leuchtendes Beispiel.

Eine kleine Gruppe Aussätziger

Oder doch? Selbst wenn das eigentlich betörende an Nikotin die Nicht-Übertragbarkeit von Hens Erfahrung sein dürfte, beweist er doch, wie eng verwoben das einfache Ding, die schmutzige vermeintliche Nebensache mit einem persönlichen Leben, aber genauso mit gesellschaftlicher Veränderung verbunden sein kann. Da sind die Autofahrten im selbstverständlich vollgequalmten Auto der Eltern damals, das über den Tod hinaus reichende Zigaretten-Deputat der Großtante als Statussymbol. Und da ist die kleine Gruppe Aussätziger heute, die auf der Straße oder in Raucherkabinen tut, was nicht mehr konsensfähig ist aus guten Gründen, aber in dieser Weise auch bei Hens nicht das Gefühl generiert, auf der richtigen Seite zu stehen.

Er sympathisiert mit den Rauchern auf der Straße, steht wohlwollend auf der anderen Seite, wissend, dass es diese Geschichte gibt und die Tugendhaftigkeit unserer Zeit auch die Form einer Sucht annehmen kann. Vielleicht nicht so einer wie der nach Nikotin, aber mit derselben Unausweichlichkeit. Dafür einen Blick und Worte zu haben, ohne auch nur einmal missionieren zu wollen, das ist dann doch das gute Beispiel, dem man folgen könnte, auch andere Dinge betreffend. Nur erschließt sich dieses Fazit leider nicht allen. Die FAZ verdächtigt Hens der „Siegerpose“ und stellt diese denn auch gleich infrage: Fünf Jahre habe der Autor gebraucht, um ein neues Buch vorzulegen. Ohne Nikotin gebe es da wohl Probleme. Ist das alles, will man rufen? Wer die Tugend in der Literatur nicht sehen will, hat sie nicht verdient.




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Geschrieben von

Kathrin Zinkant

Dinosaurier auf der Venus

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