Was 1991 geschah, wollen die Herausgeber von "Kaltland" nicht vergessen. Gestern lasen sie aus Texten über die Zeit des Nachwende-Ostens. Sie erzählen auch von heute
In der Schankwirtschaft Baiz, in der Torstraße in Berlin-Mitte, wird noch geraucht.
Die Leute qualmen wie Schlote, als würden sie gleich wieder eingesperrt.
Die Lesung findet im Hinterzimmer statt, aber als sie am gestrigen Donnerstagabend anfangen soll, ist der Raum noch leer. Auf den Tischen stehen Wodkaflaschen an deren Hälsen rotes Wachs herunter rinnt, auf einem Holzstuhl sind sechs Exemplare des Buches Kaltland aufgestapelt, aus dem die Herausgeber lesen wollen. Das Cover ist so schwarz wie das Thema: Die Texte in diesem Sammelband sollen an den Ausländerhass und brennende Asylbewerberheime der Nachwendezeit erinnen: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen. Der Osten und seine Gespenster.
Ein älterer Herr mit grauem Bart und Strickpullover erscheint. Hoyerswerda sei
over erscheint. Hoyerswerda sei eigentlich austauschbar, sagt er, der aus Zeiss bei Jena stammt. Diese"Ost-Community" könnte auch Guben, Schwedt, Zehdenick sein. Er war Pfarrer zu DDR-Zeiten, seine Gottesdienste hätten sogar in der Zeitung gestanden. Er ist aber nicht gekommen, um etwas über Hoyerswerda oder Brandanschläge zu hören. "Ich möchte mir die Performance anschauen."Neben ihn setzt sich eine junge, ernste Frau, die hier ist, weil sie gerade eine Wanderausstellung betreut, in der die 156 Todesopfer rechter Gewalt zwischen 1990 und 2010 dokumentiert werden. Mölln, Solingen, Lübeck. Hoyerswerda komme nur am Rande vor, sagt sie, "da gab es keine Toten" - aber es spiegele "die Stimmung".Nach dem doppelten akademischen Viertel ist der Raum dann gut gefüllt, und die Vorleser betreten die Bühne: "Hat so' n bisschen was von Parteitag", sagt Herausgeber Karsten Krampitz. "Fehlt aber dit Transparent im Hintergrund", erwidert ein junger Typ, wahrscheinlich Student, aus der hinteren Reihe.Ein hagerer Kokser namens HitlerWieso nochmal über Hoyerswerda reden?In der Nachwendeliteratur sei es immer nur um Erfolgserlebnisse gegangen, dort seien Neonazis kaum vorgekommen, "das hat uns geärgert", erklärt Markus Liske, der zweite Herausgeber, der aus Bremen stammt. Erstmal ein Lied. Manja Präkels, Frontfrau der Band Der singende Tresen, ist laut. Mit eigener Ukulele und vom Akkordeon begleitet spricht sie mehr als sie singt: "Keine Bange, ich ward so lange, vor den Toren dieser Stadt...bis sie das bisschen Glück ..wieder ausgespiehen hat". Manja Präkels erzählt von der Traurigkeit der alten Schiffer an der Havel, von ihren Spelunken, von unheimlichen Alten und einem Jungen, der sich irgendwann sein Haar kahl schor, ein hagerer Kokser der sich selber Hitler nannte. "Wir, die anderen, waren wenige". Die sich aufbäumten, gegen Stimmen und Stiefeltritte.Nach einer Weile wird es etwas langatmig. Natürlich, die Guten, sie haben 1991 die Bilder von Hoyerswerda gesehen und geweint. Man weiß es, und es bekommt schnell einen etwas selbstgerechten Beigeschmack. Manja Präkels singt dann wieder - und der alte Pfarrer fotografiert sie mit seinem iPhone.Dann folgt die Westperspektive auf die 'Zone'. Markus Liske liest seinen Text "Erstkontakt". Es geht darin auch um die untergehende Insel Westberlin, um Pizza im Kofferraum, um "Scheiß Ostweiber", die einen bei der Dorfdisco abblitzen lassen und um "postrevolutionäre Traumata". Eine einsame Mös - äh - Möwe fliegt durch die Luft, verhaspelt sich Liske und erntet Lacher. Man folgt diesem unterhaltsamen Road-Movie der Wohlstandsjungs von drüben, die auf Volksfesten in Brandenburg Stripshows sehen und NPD-Würstchen essen - und es abenteuerlich finden, wenn alle warnen: "Macht einen Bogen um Schwedt".Drei Monate später kamen die Bilder, "auf die wir warteten" - sagt Liske. Die aus Hoyerswerda. Da ist es wieder still im verqualmten Raum.Diese Geschichte ist irgendwie naiv, ehrlich, weil der Autor seine Lebenswelt beschreibt und die der Menschen, denen er begegnet, aber er erhebt sich nicht über sie. Er war zu dieser gewissen Zeit an diesem seltsamen Ort, dem Niemandsland, der ostdeutschen Provinz - und seine diffusen Begegnungen erklären mehr als Fernsehkameras vor Asylbewerberheimen.Momentaufnahme"Gebt mir Schnaps" fordert Manja Präkels erfrischend bodenständig, sie singt frei nach Erich Mühsam und ein älterer eleganter Monsieur prostet ihr mit einem Kurzen zu. Pause möchte keiner machen, also wird sofort weiter gelesen.Auch diesmal ist Hoyerswerda nur der Anlass - Karsten Krampitz berichtet amüsant und scharfzüngig über seine letzten Tage bei der Zeitung Junge Welt. Er war 20 als die Mauer fiel, und "sowat von links", heizt er die Zuhörer an. Er hatte eine Kolumne geschrieben, in der er per Horoskop voraussagte, es würde bald eine Briefbombe auf den eigenen Geschäftsführer abgefeuert. Hinterher durfte er nur noch die Fernsehseite füllen. Seine Texte, u.a. über die RTL-Show Tutti Frutti hat er durchs Telefon diktiert. Auch er verspricht sich in Freudscher Manier: Krampitz sagt Opportu - äh - Optimismus. Lieber noch mehr Musik.Das letzte Lied handelt von Rosi und Klaus, die Zeitungen austragen müssen und vor dem Rausschmiss aus ihrer Wohnung stehen. Die Liebe war groß, aber Geld hatten sie keins. Willkommen in der Gegenwart.Hoyerswerda hin oder her, hier geht es um die Lebenswelt der Prekären.Der Abend kam ohne anklagende Töne aus, es reihten sich lauter Alltagsszenen aneinander, ironisch, schockierend, individuell, nie nach schnellen Effekten haschend. Die meisten anderen in dem Buch versammelten Texte - u.a. von Roger Willemsen, Alexander Osang, Jakob Hein, Jutta Dittfurth, Peter Wawerzinek, Annett Gröschner oder Alexander Kluge - sind eigens für das Projekt entstanden. Es sind viele Momentaufnahmen darunter, Stimmen von Menschen, für die die Präsenz und Brutalität der Neonazi-Szene alltäglich war, die zu Opfern wurden und das beklemmend, aber gottseidank unpathetisch beschreiben.Zwanzig Jahre nach den Anschlägen von Hoyerswerda ist dies ein Versuch, Milieus und deren Universen zu ergründen. Der Band erzählt von Menschen, ihren Abgründen, ihrem Scheitern, ihren Kämpfen. Natürlich kommt auch Gerhard Gundermann vor, der Baggerfahrer, der sich in seinen Liedern abgearbeitet hat an HoyWoy.Lauter Stories, die in einer anderen Zeit spielen aber man kann sie so wohl erst jetzt so erzählen.