Von Einheit war nie die Rede

Wende 89: Schwerin Die Diskussionsreihe des "Freitag" zu 20 Jahren Wende beginnt mit der Erinnerung daran, dass die friedliche Revolution auch Ausdruck eines Generationenkonflikts war

Draußen vor den Fenstern liegt der Pfaffenteich. Am Abend des 23. Oktobers spiegelten sich da die Kerzen, mit denen 40.000 Schweriner für eine andere DDR demonstrierten. Vor zwanzig Jahren. „Auf alles waren wir vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete“, sagte der SED-Funktionär Horst Sindermann später. Martin Klähn war damals auch dabei, einer von den Vielen, aber nicht irgendeiner: Er gehörte zu den ersten Bürgerrechtlern der Wende in Schwerin und er war der einzige Vertreter Norddeutschlands bei der legendären Gründungsveranstaltung des Neuen Forums in Grünheide. „Er hat’s nicht weitergesagt“, witzelt ein Mann in der erste Reihe des kleinen Veranstaltungssaals der Friedrich Ebert Stiftung: „Ich wäre sonst mitgekommen.“ Er kennt Klähn von damals. Alle kennen sich hier. Zwanzig Jahre später treffen sie sich heute, um sich zu erinnern, zu reden: Wie alles kam, was daraus wurde, was wohl so sein musste, und was anders hätte laufen können.

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„Mir war nicht klar, dass wir an diesem Wochenende irgendetwas gründen werden“, sagt Klähn: „Ich habe angenommen, wir werden in Grünheide eine Theorie-Arbeitsgruppe verabreden. Erst vor Ort habe ich gemerkt: das verspricht Spaß zu werden.“ Klähn kehrte nach Schwerin zurück, den Gründungsaufruf im Gepäck. Er war damals 29 Jahre alt, ausgebildeter Bauingenieur, der aber DDR-Computer programmierte und schon lange gewohnt war, den sonderbaren Freiraum zu nutzen, den die DDR ihren unzufriedenen Bürgern bot, auch wenn das im Westen heute niemand mehr wahrhaben will: Hausbesetzungen in Schwerin, Mahnwachen in Berlin, Rangeleien mit der Volkspolizei – das war alles denkbar in einem ostdeutschen Jugendleben in den Siebziger und Achtziger Jahren. Er erzählt, wie seine Eltern, Säulen des Systems, SED-Mitglieder der ersten Stunde, unter dem Abweichlertum des Sohnes litten, und es wird an diesem Abend auch deutlich, dass in dieser ‘89er Bewegung auch ein Generationenkonflikt aufbrach ähnlich dem, der zwanzig Jahre zuvor den Westen erschüttert hatte: Hier rechnete eine Jugend mit den Eltern ab, die den Sozialismus vor die Wand gefahren hatten.

Denn es ging den meisten den Vorkämpfern der Wende ja darum, die DDR zu reformieren. Nicht sie abzuschaffen.Von irgendeiner „Wiedervereinigung“ sei damals natürlich nicht die Rede gewesen, sagt Klähn: „Meine Idee war, dass wir DDR-weit ein Bündel von Fachforen bilden, die nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum etwas Neues ausprobieren.“ Viele im Neuen Forum dachten so wie er. Die ersten Volkskammerwahlen belehrten ihn dann eines Besseren. Die Menschen hatten die Nase voll von der DDR. Endgültig. „Zusammenburch und Anschluss“ nennt Klähn die Wende darum auch. Klähn sagt, das Chaos der Übergangszeit, das sei für ihn eine wunderbare Zeit gewesen, sein eigener „kurzer Sommer der Anarchie“. Er ging nicht in die Politik. Er machte lieber das weiter, was er damals begonnen hatte: Erwachsenenbildung, Menschen die Demokratie erklären, und die deutsche Geschichte, die ihn und seine Familie ja offenbar im Griff hat: Seine Tochter arbeitet an der Universität gerade über das Neue Forum.

Zur Person:

Martin Klähn (49)

Beruf: damals Bauingenieur, heute in der politischen Bildung aktiv
Initialzündung: Die Besetzung der Umweltbibliothek in der Zionskirche in Berlin: "Bei der Besetzungsaktion saßen all diese bärtigen Typen mit Bier in der Hand herum und mittendrin drei Typen in Regenmänteln mit Goldstiften: Westjournalisten von den Tagesthemen. Ich dachte: so funktioniert das also mit den Nachrichten, interessant. Schließlich hat die Regierung die Leute freigelassen und sich sogar erklärt. Das war für mich der Beginn, da dachte ich, hier kann man einen Hebel ansetzen."
Rolle in der Revolution: Einziger Norddeutscher, der 89 an der Gründung des Neuen Forums in Grünheide teilnahm
Das Neue Forum: DDR-Bürgerbewegung, die 1989 als erste mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit trat.
Prägende Lektüre: Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus

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Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin „Kultur“

Christine Käppeler leitet seit 2018 das Kulturressort des „Freitag“, davor schrieb sie als Redakteurin vor allem über Kunst und die damit verbundenen ästhetischen und politischen Debatten. Sie hat Germanistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Journalismus in Mainz und Hamburg studiert und nebenbei als Autorin für „Spex. Das Magazin für Popkultur“ gearbeitet.

Christine Käppeler

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