Kurz vor dem Jahreswechsel 1989/90 wird die DDR-Kultur-Wochenzeitung Sonntag, nicht zum ersten Mal in dieser umstürzlerischen Zeit, ungemein retrospektiv. Vermutlich geschieht das, ohne den Blattmachern ins Bewusstsein zu steigen. Die literarische Reportage von Lutz Rathenow Berlin fetzenweise in der Ausgabe vom 10. Dezember 1989 (Nr. 50) erweist sich als pointiertes Milieu- und Sittengemälde der DDR-Hauptstadt Ende der achtziger Jahre.
Auf der Kippe
Der Autor flaniert erlebnisfreudig von Episode zu Episode, der Bezirk Prenzlauer Berg wird zum urbanen Stilleben wider Willen, Volkspolizisten und Kneipen-Gänger bilden die Komparserie, aber so nah oder fern dies alles dem Leser in dieser Tour d'Horizon auch sein mag – es gerät, wer sich auf die Wanderung durch Straßen, Kneipen und andere Schlupflöcher einlässt, unversehens ins Gestern im Heute. Denn alles, was da bemerkt und beschrieben wird, steht auf der Kippe. Schon in wenigen Jahren wird sich die „intershoplose Gegend“, wie sie Rathenow in den Blick nimmt, aus dem Staub gemacht haben, weil es nach dem 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion und des DM-Empfangs im Osten, einigermaßen absurd und gegenstandslos geworden ist, von solchen Gegenden zu reden. Anstelle von Straßen- wird dann viel Baudreck zu inhalieren sein.
Kaum ein anderer Bezirk Ostberlins erfährt bis zur Jahrhundertwende einen solch radikalen Wandel wie dieser, nirgendwo kommt es zu einem derartigen Austausch der Bewohner wie am Prenzlauer Berg. Die geheime Zukunft des Quartiers, in dem die Zeit manchmal stehen geblieben scheint, ist schon geschrieben, als die Sonntag-Redaktion den Rathenow-Text druckt und kaum geahnt haben dürfte, wie sie Denkmalpflege betreibt, weil die Zeit ins Laufen und Rasen kommen soll fortan.
Der Reißverschluss
Mit Berlin fetzenweise wird der Sonntag-Leserschaft freilich kein Erstdruck geboten, erschienen ist das Werk bereits im Erzählband Motive aus Berlin-Ost – die andere Seite der Stadt in der Harenberg Edition. Dortmund 1989. Lutz Rathenow, geboren 1952, lebt seit Mitte der siebziger Jahre in Ostberlin, arbeitet als Theaterdramaturg und Schriftsteller, ohne in der DDR publiziert zu werden. Sein erstes Buch Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet erscheint 1980 in Frankfurt/Main. Danach an ihn gerichtete Ausreiseangebote in den Westen schlägt Rathenow immer wieder aus. Zur Wendezeit gehört er zu den Begründern der Bürgerrechtsgruppe Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), die zeitgleich mit Erscheinen das Sonntag-Artikels am Zentralen Runden Tisch der DDR neben dem Neuen Forum und anderen Bewegungen Platz genommen hat.
Besonders lesenswert wirkt – gerade im Rückblick –, was der Autor über die Mauer schreibt, dieses „Messer der Geschichte“, wie er meint, das rabiat einen Ort entzwei schneide, „der sich dadurch zu mehr auswuchs als zwei Hälften. Im Moment der Trennung waren beide Teile am Auseinanderfallen, so dass die Mauer sie zusammenfügte. Ein Reißverschluss. Der Kitt von Ganzberlin ...“
Diese genuine Dialektik wirkt so prophetisch wie beruhigend, fast balsamierend in einer Zeit Ende 1989, da kein Augenblick mehr ohne die Anmaßung auszukommen meint, "historisch" genannt zu werden. Wie sich der Reißverschluss wieder schließt und den Beweis antritt, einer zu sein, lässt sich am 22. Dezember 1989 besichtigen, dem Tag der Öffnung des Brandenburger Tores durch die beiden deutschen Regierungschefs Kohl und Modrow.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.