Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat am Dienstagmorgen deutliche Worte gefunden: Bei der Berechnung der Regelsätze für Empfänger von Leistungen nach Hartz IV habe der Gesetzgeber gravierende Fehler begangen. Mit ihren Schätzungen „ins Blaue hinein“, den empirisch unbelegten Kürzungen und anderen unvertretbaren Methoden verstoße die Berechnung der Regelsätze gegen das Grundgesetz.
So viel war von dem Urteil auch erwartet worden. Der Bund muss nun nachbessern und bis Ende des Jahres eine verfassungskonforme Regelung schaffen. Das Urteil wird gravierende Auswirkungen haben, auf das Sozial- und Steuerrecht. Eine rückwirkende Neufestsetzung der Regelsätze wird es nicht geben. Die schwarz-gelbe Koalition muss allerdings nich
ückwirkende Neufestsetzung der Regelsätze wird es nicht geben. Die schwarz-gelbe Koalition muss allerdings nicht nur die Berechnungsmethode überholen, sondern auch eine Härtefallklausel einführen, um einen „besonderen Bedarf zu decken, wenn es im Einzelfall für ein menschenwürdiges Existenzminimum erforderlich ist“ – wobei die Richter davon ausgehen, dass dies „nur in seltenen Fällen in Betracht“ kommt. Bis Ende 2010 können die knapp sieben Millionen Hilfebedürftigen solche ergänzende Leistungen aufgrund einer Anordnung des Bundesverfassungsgerichts beanspruchen.Zur Höhe der Leistungen haben die Karlsruher Richter keine Vorgaben gemacht. Eine Zahl könne aus der Verfassung nicht direkt abgeleitet werden, sagte Papier. Die Regelsätze für Erwachsene und Kinder, die dem Urteil zugrunde gelegt wurden (es handelt sich um ältere Summen, da die Verfahren schon eine Weile laufen), könnten aber „nicht als evident unzureichend angesehen werden“. Mit anderen Worten: Die damaligen Sätze von 345 Euro für Erwachsene, 311 Euro für erwachsene Partner und 207 Euro für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres würden zur „Sicherung der physischen Seite des Existenzminimus" ausreichen. Die Richter unterließen freilich nicht den Hinweis darauf, dass zum Existenzminimum auch ein "Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich" ist."Nicht evident unzureichend"Die Kritik der Verfassungsrichter setzt bei den Berechnungsverfahren an. Die Sätze seien „nicht in verfassungsmäßiger Weise ermittelt worden“. Zwar hat Karlsruhe das angewandte Statistikmodell grundsätzlich als vertretbare Methode durchgewunken, auch die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe sei als empirische Datengrundlage angemessen. Angesichts der freihändigen Abweichung des Gesetzgebers von seinem eigenen Modell, der willkürlichen Abschläge, eines „sachwidrigen Maßstabswechsels“ und des Übergehens von wichtigen „Ausgabepositionen“ ohne jede Begründung könnte das Verfahren nicht den Anforderungen der Verfassung genügen.Das Karlsruher Urteil ist nichtsdestotrotz mehr als nur Kritik an einem technischen Detail. Es geht nicht nur um Regelsätze und Bedarfsermittlung. Selbst mit dem Hinweis auf die überaus wichtige Frage des Existenzminimums, die das soziale Selbstverständnis einer Gesellschaft berührt, ist die Dimension des Urteils noch nicht vollständig umrissen. Der Spruch der Verfassungsrichter ist so etwas wie die urkundliche Bestätigung eines Scheiterns, das sich die Politik nicht selbst eingestehen wollte. Es ist auch der Scheitelpunkt einer Etappe deutscher Politik.Schon lange haben Experten vor den sozialen und kulturellen Folgen der Hartz-Reform gewarnt, haben Politiker die handwerklichen Schwächen beklagt, haben Juristen auf die daraus resultierende Überlastung der Gerichte hingewiesen, haben Gewerkschaften die verheerende Wirkung auf das Lohnniveau beschrieben, haben die Kommunen die mit Hartz verbundene Bürokratie kritisiert.Ware Arbeitskraft verbilligtGebracht hat Hartz wenig – jedenfalls aus dem Blickwinkel derer, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, weil die Gesellschaft ihnen andere Chancen oft genug gar nicht erst ermöglicht hat. Kapitalistisch betrachtet war die Reform dagegen ein Segen, weil sie die Ware Arbeitskraft verbilligt hat und wie eine gewaltige Umverteilungsmaschine wirkte.All das ist seit langem bekannt, eine Mehrheit in der Bevölkerung hält Hartz entweder für komplett falsch oder jedenfalls falsch gemacht – und weil das so ist, sickerte der Geist der Abkehr längst auch in die Stockwerke der Politik ein. Man darf sich freilich nicht über die jeweiligen Motive täuschen, aus denen vom „Original-Hartz“ abgerückt wird. Die Liste wurde mit jeder Wahl länger, nicht etwa mit jeder Studie, die die verheerenden Folgen belegte. Schonvermögen, Regelsätze, Wohnkosten, Bürokratie, der Jobcenter-Streit – die Diskussion ist längst über den Stand hinausgewachsen, der mit dem Inkrafttreten der Reform 2005 gesetzt wurde.Es ist durchaus passend, dass das Urteil zu Beginn jenes Jahres kommt, das der Agenda 2010 ihren Namen gab. Hartz IV stand für mehr als ein Programm des sozialpolitischen Rückbaus, es stand stellvertretend für eine gravierende Änderung gleich mehrerer Dimension der Gesellschaft: Es wurden die alten gesellschaftlichen Rettungsleinen gekappt, enormer Armutsdruck wurde freigesetzt, einer ganzen Kultur des Normalarbeitsverhältnisses schlug man den Boden aus. Was die soziale Landkarte veränderte, wirkte sich auch auf die politische Sphäre aus. Die SPD stürzte ab, eine neue Linke etablierte sich und mit ihr ein ganz anderes Parteiensystem – mit Folgen für Mehrheits- und Meinungsbildung.Neue Mehrheiten nötigDieser Prozess ist nun zu einer Reife gelangt, die eine grundlegende Frage stellt: Was kommt nach Hartz IV. Es wird auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ankommen, ob sich Ursula von der Leyen durchsetzt, die das Regelsatz-Regime am liebsten umbenennen würde, weil der Name so schlecht beleumundet ist. Oder Roland Koch mit seiner Arbeitspflicht. Oder die so genannten Wirtschaftsexperten, die genau das sind: Experten der Wirtschaft, und die mit ihrer Forderung nach Verringerung des Hartz-Betrages zugleich für Lohndrückerei eintreten.Aber das sind bloß Varianten auf einem Pfad. Die Alternative wird man nur auf einem ganz anderen Weg erreichen. Wer „Hartz muss weg“ sagt, hat Recht – aber noch keine Antwort darauf gegeben, was an die Stelle treten soll. Grundsicherung oder Grundeinkommen? Individualisierung, Statussicherung, gleiche Beträge für alle? Koppelung an das Lohnarbeitssystem oder steuerfinanziertes Bürgergeld? Diese Debatte muss jetzt in den Vordergrund treten. Und sie muss in dem Bewusstsein geführt werden, dass für die Verwirklichung des Sozialstaatsgedankens nicht nur Urteile benötigt werden, sondern auch neue Mehrheiten in der Gesellschaft und im Parlament.