Die Linkspartei und Annäherungen zur SPD: Warum sollen uns Parteien interessieren, die im Wahlkampf nur ihre Ziele plakatieren, sie aber nicht verfolgen wollen?
"Soll die Linke auf die SPD zugehen?" Das fragte sich vorgestern Herbert Schui, Bundestagsabgeordneter der Linken, in der Jungen Welt. Man kann die Frage dem trivialen politischen Alltagsgeschäft zurechnen, wird es immerhin ein wenig interessant finden, sie von einem Mann gestellt zu sehen, der auch emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre und Mitbegründer der Bremer Memorandumgruppe für alternative Wirtschaftspolitik ist. Allgemeines, nicht nur die aktuellen Sorgen der Linken betreffendes Interesse zieht der Artikel aber dadurch auf sich, dass Schui "Bei Max Weber nachgeschaut" hat, wie es die Hauptüberschrift festhält.
Auf Webers Vortrag "Politik als Beruf", einen der in Deutschland einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Texte, greift man heute me
nen der in Deutschland einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Texte, greift man heute meistens nur noch wegen seiner Unterscheidung von "Gesinnungs- und Verantwortungsethik" zurück. Allenfalls wird hier und da noch der trocken poetische Satz zitiert, Politik bedeute "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich". Schui indessen erinnert daran, dass gerade in diesem Satz das Entscheidende nicht vorkommt, als Begriff jedenfalls nicht, nämlich eben die Verantwortung. Die theoretische Aussage hinter dem poetischen Bild ist nämlich, dass "Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß" für den Politiker "entscheidend" seien. Verantwortung erschöpft sich nun aber nicht darin, das Gegenteil von Gesinnung zu sein. Sie stellt vielmehr laut Weber sicher, dass die Leidenschaft einer Sache dient, statt "ohne inhaltlichen Zweck" in Macht um ihrer selbst willen investiert zu werden. Der sachliche Dienst gilt "nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen Zielen", fügt er noch hinzu, als ob sich das nicht von selbst verstünde. Ja, versteht es sich denn von selbst? Wenn Weber im selben Atemzug vor "politischen Erfolgen" warnt, über denen der "Fluch kreatürlicher Nichtigkeit" liege, dann ahnt man, dass sich in dem überflüssig scheinenden Hinweis auf "Ziele" eine gewisse Verzweiflung ausspricht.Handeln wie ein ThermostatWeber verdankt Nietzsche viel. Er weiß, dass ein sich ausbreitender Nihilismus es immer mehr erschwert, zu Zielen überhaupt noch stehen, ja sie überhaupt noch finden zu können. Inzwischen liegen derlei Diagnosen der Politikwissenschaft ganz fern, dabei könnte sie sich einmal darüber wundern, dass Parteien sich heutzutage Programme geben, die nach eigenem Bekunden nur noch darlegen, wie sie sich in besonderen "Werte"-Verständnissen bewegen wollen, während man unter einem Programm sonst den "Prozess" zu einem Ziel hin verstanden hat. Die Ziel-Orientiertheit des Prozesses und damit des Programms war daran zu erkennen gewesen, dass sie sich als "in seine logischen Abschnitte [aufgelöst]" präsentierten. So formuliert Schui mit einem weiteren Weber-Zitat. Es ist nicht dasselbe, ob sich ein Parteiprogramm an Werten oder ob es sich an Zielen orientiert. Eine Orientierung an Werten kann zum Beispiel heißen, dass eine Partei "die soziale Gerechtigkeit" auf ihre Fahnen schreibt und dann einen Bundeswirtschaftsminister aufbietet, der sagt, gerecht sei es "heute", dem Kapital Steuern zu erlassen, weil dann vielleicht mehr Arbeitsplätze enstünden. Wenn es so weit kommt, ähnelt das Handeln einer Partei dem Thermostat: Wie es nie vorkommen kann, dass ein Zimmer überhaupt keine Temperatur hat, so gibt es ebenso wenig eine Gesellschaft ohne jeden Gerechtigkeitsgrad. Die wertgebundene Partei kann daher immer schon mit sich zufrieden sein, ist sie doch mit dem Versuch, die Temperatur, sprich Gerechtigkeit etwas zu erhöhen oder ihr Absinken etwas zu mildern, in der Tat pausenlos beschäftigt.Da Herbert Schuis Artikel ein Plädoyer für die Fortsetzung der Politik Oskar Lafontaines ist, gewinnt der scheinbar so abstrakte Rückblick auf Weber bestürzende Aktualität. Lafontaine ist hierzulande der letzte bedeutende Politiker gewesen, der sich noch von Zielen leiten ließ. Wahrscheinlich erklärt sich ein Großteil der öffentlich geschürten Befremdung über ihn daraus, dass die anderen Politiker samt ihren Gefolgschaften so eine Haltung immer weniger verstehen. Wenn Schui noch einmal die Ziele nennt, die von der Linken im Wahlkampf plakatiert wurden und auf deren unbedingte Geltung Lafontaine die Partei noch im Abgang verpflichten wollte: "Hartz IV abwählen, Mindestlohn gerade jetzt, gegen die Rente ab 67", dann wirkt das zunächst so trivial – weil es so sehr auf der Hand liegt, wie berechtigt die Forderungen sind. Die eigentlich interessante Frage scheint nur darin zu liegen, bis zu welchem Grad sie denn auch umgesetzt werden können. Weil man sie doch an gewünschte Koalitionspartner adressieren muss. Weil die SPD sich wahrscheinlich querstellen wird. Ja, aber das sind Ziele, nicht Temperaturgrade. Was sollen mich Parteien interessieren, die Ziele nur plakatieren, aber nicht auch verfolgen? Eine Partei für Temperaturgrade brauche ich nicht, denn solche kann ich allein messen.