Nasskalt und neblig. Auf dem Stützpunkt amerikanischer B-17 Bomber im südenglischen Bassingbourn müssen die Flieger am 2. Februar 1945 ihren Angriff auf Berlin verschieben. Am Tag darauf ein neuer Anlauf. Für die Männer in Bassingbourn heißt das: Um drei Uhr Frühstück – Rühreier, fettige Wurst, trockener Toast, Zigaretten, Kaffee und bitterer Grapefruitsaft aus der Dose. Briefing um vier. Tagesbefehl, Lagebericht und Wettervorhersage. Und die ist besser, also in die Maschinen.
Von den damaligen Entscheidungsträgern ist keiner mehr am Leben, von den B-17 Crews selbst sind es auch nicht mehr viele. Doch in den USA sorgt die neue Dokumentation The Bombing of Germany im Fernsehnetwork PBS – produziert „in Zusammenarbeit mit Spi
ammenarbeit mit Spiegel TV“ – für Aufsehen. Der Film greift in die seit Jahren kochende Debatte über den Bombenkrieg gegen Nazi-Deutschland ein und stellt die These auf, die US-Flieger hätten bei diesem Angriff auf die Reichshauptstadt die selbst errichtete „moralische Schwelle“ überquert, die Zivilbevölkerungen nicht gezielt zu bombardieren. Nach Berlin sei alles andere, „einschließlich der Atombombe, ein klein wenig leichter“ gewesen.Sam Halpert, seinerzeit 24 Jahre alt, Erster Leutnant und B-17 Navigator in der 91. Bombergruppe der 324. Schwadron der 8. US-Army Air Force, hatte ein denkbar ungutes Gefühl an diesem Februartag in Bassingbourn. Berlin mit den massiven Flak-Batterien. Das konnte nicht gut gehen. Hitlers Hauptstadt sollte Halperts 35. Mission sein. 35 war die magische Zahl bei der Air Force. Wer so viele Flüge überlebt, darf nach Haus gehen. 34 Angriffe hat Halpert geflogen, darunter Ludwigshafen am 9. September 1944 (IG Farben), Köln am 29. September (Opel), Merseburg („Mörderburg“) am 21. November (Leuna-Werke) und Kassel am 4. Dezember (Gleisanlagen). Der Angriff auf Berlin – 937 B-17 und Hunderte Kampfflieger – sollte einer der bislang schwersten sein. Flughöhe 25.000 Fuß. In den fliegenden Aluminiumkisten kein Druckausgleich, keine Heizung. Neun Mann Besatzung, fünf davon MG-Schützen gegen die Jagdflieger der Luftwaffe. Navigator Halpert musste sich ganz vorn in die Maschine zwängen. Zwischen ihm und der Außenwelt nur Plexiglas.Fliegen in die Flak hineinHalperts Schwadron hatte Befehl, Bomben auf die Regierungsgebäude in der Innenstadt abzuwerfen. Reichskanzlei, Gestapo-Hauptquartier, Luftfahrtministerium. Der Flug über die Nordsee und über Land Richtung Berlin verlief relativ ruhig. „Aber etwa zehn Minuten vor dem Ziel kam die Flak hoch“, erzählt Halpert 65 Jahre später, „schwere Flak“. Explosionen nahe am Flugzeug, die Besatzung trug Helme und eine 30 Kilogramm schwere Schutzkleidung gegen die Flaksplitter.„Total verrückt“ sei sie eigentlich gewesen, die amerikanische Bombardierungsstrategie. „Wenn man als Soldat im Feld beschossen wird, dann duckt man sich oder springt in einen Schützengraben.“ Nicht so in der Luft: Man flog in die Flak hinein, um sein Ziel zu erreichen. Die britische Royal Air Force bombardierte deshalb nachts und flächendeckend. In Hamburg im Sommer 1943 zum Beispiel sorgte die RAF für ein Brandinferno, während die Amerikaner ihre Bomben auf die Bloom am Hafen abwarfen. Die US-Planer hielten Zerstörung von Gleisanlagen, Verschiebebahnhöfen, Ölraffinerien und Rüstungsfabriken für effektiver als das Bombardieren von Bevölkerungszentren.Ausweichmanöver seien bei den Bombardierungsflügen nicht möglich gewesen in den letzten Anflugminuten, erinnert sich Halpert. „Um so genau zu treffen wie möglich, brauchte der Bombardier eine stabile Platform.“ Zudem flog man in starrer, dichter Formation. Zwölf B-17 in einer Schwadron, drei Schwadronen in einer Gruppe. Das Leitflugzeug mittendrin, das einzige mit Radar und Bombenvisier, lässt die Bomben über dem Ziel fallen. Die restlichen B-17 nehmen die Öffnung des Bombenschachts als Signal, ihre Ladungen gleichfalls abzuwerfen."Ich sah Körper herausfallen"Der 3. Februar 1945 war ein Samstag, aber der Volksgerichtshof in einem „Regierungsgebäude in der Innenstadt“ ruhte nicht. Richter Roland Freisler nahm sich Fabian von Schlabrendorff vor, einen Mitverschwörer des 20. Juli 1944. Der preußische Offizier hatte bereits im März 1943 eine Bombe in Hitlers Flugzeug geschmuggelt, die aber nicht explodierte. Schlabrendorff war dem Tod geweiht. Bis die dröhnenden B-17 auftauchten. Freisler hat diesen Samstag nicht überlebt. Er soll beim Angriff mit der „Akte Schlabrendorff“ in der Hand getötet worden sein. Schlabrendorff überlebte und wurde in den sechziger Jahren Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.Überlebt hat auch Sam Halpert, trotz seiner Vorahnungen. Gerade noch. Beim Bombenabwurf sei das Leitflugzeug seiner Schwadron von Flak getroffen worden, „keine zehn Meter von unserer Maschine, und brach in der Mitte auseinander. Ich sah ein paar Köper herausfallen. Aber keine Fallschirme. Dann traf es ein zweites Flugzeug. Die Maschine stürzte ab, sieben Fallschirme.“ Flaksplitter drangen auch in Halperts Bomber. „Ich habe nicht bemerkt, dass irgendwie der Schlauch meiner Maske zum Sauerstoffregulator durchgetrennt wurde.“ Er verlor das Bewusstsein. Einer von der Crew habe es gesehen, ihn wiederbelebt und an eine Sauerstoffflasche angeschlossen.23 B-17 wurden an diesem 3. Februar 1945 über Berlin abgeschossen, 309 kehrten mit Flakschäden zurück. Gemessen an anderen Flügen sei das „ein guter Tage gewesen für uns“. Sam Halpert ist heute 89 Jahre alt. Lange hat er nicht viel über den Krieg gesprochen. Vor allem, nachdem seine damals zwölfjährige Tochter ihn gefragt habe, ob er wirklich Menschen zu Tode bombardiert habe. Halpert arbeitete als Schriftsetzer und Lehrer, mit 68 schrieb er seine ersten Kurzgeschichten, und mit 74 seinen ersten Roman unter dem sarkastisch gemeinten Titel A Real Good War. Es ging um die B-17 Crews in Bassingbourn. Ein „qualvolles Porträt der Mitleidslosigkeit des Krieges“, rezensierte der Miami Herald. Ein „fesselnder Roman“, schrieb die New York Times.Programmbeschwerde gegen PBS„Was ist die Hölle?“ – fragt Sam Halpert heute. Wer einen Krieg erlebt habe, wisse das. Wenig Geduld hat er mit der Kritik am Luftkrieg der Air Force. Lange Zeit hätten die Alliierten Hitler nur so treffen können. „Natürlich hat darunter in Deutschland auch die Zivilbevölkerung gelitten“, sagt Halpert. Nach Schätzungen sind rund 600.000 Deutsche im Bombenkrieg umgekommen. Beim Angriff auf Berlin Anfang Februar 1945 wohl mehrere Tausend. Furchtbar, aber was hätte man tun sollen? „Wir haben getan, was wir konnten, um Zivilisten zu verschonen, so weit wie möglich.“ Aber man habe den Krieg gewinnen müssen gegen Hitler. „Damals war niemand neutral.“Gar keine Geduld hat Halpert mit den Machern von The Bombing of Germany. Er selbst kommt im Film kurz vor in einem Interview. Doch den Hauptteil bestreiten ein paar Historiker – Jörg Friedrich, Donald Miller, Tami Davis Biddle. Vertreten wird die These, dass bei Kriegsende die ursprünglichen „hohen Ideale“ der Amerikaner, keine Bombenflüge gegen die Zivilbevölkerung zu unternehmen, „in Trümmern lag“. Führende US-Militärs seien Anfang 1945 „zutiefst deprimiert“ gewesen, sagte Historikerin Biddle. Die Nazis gaben nicht auf, und im Pazifik drohte ein langer, harter Krieg gegen Japan. So habe man Bombenangriffe auch gegen zivile Ziele gerichtet oder, wie Historiker Miller es formuliert, eine „moralische Schwelle“ überschritten.Halpert hat eine „Programmbeschwerde“ eingereicht bei PBS gegen die „Entstellung der Geschichte“. Bis zum Ende des Krieges hätten die Crews jeden Morgen spezifische Befehle bekommen, kriegswichtige Ziele zu bombardieren. Man sei im Februar, März und April 1945 so riskant geflogen wie immer: In die Flak hinein. Weil man bestimmte Ziele treffen wollte. Die Einsatzbefehle belegten das: Am 6. Februar Gleisanlagen in Magdeburg und Chemnitz, am 9. Februar eine Ölraffinerie in Magdeburg. Auch für Dresden am 14. und 15. Februar. Am 15. mit 211 B-17 und am 14. mit 316 Bombern. Getroffen habe man Gleisanlagen. Die britische Royal Air Force habe bei Nachtbombardements die Stadt in Brand gesteckt.Besonders nerven Halpert und andere Luftkriegsveteranen heutige Beschwerden, man habe so kurz vor Schluss doch nicht mehr so wüst zerstören müssen. Damals habe man nicht gewusst, dass die Deutschen bald kapitulieren würden. Beim letzten Einsatz am 25. April ging es gegen die Skoda-Rüstungsfabriken bei Pilsen. Dort seien die Arbeiter in den umliegenden Wohnsiedlungen am Vortag gewarnt worden, nicht ins Werk zu gehen.