Mit dem Stromvertrag, der die ostdeutsche Energiewirtschaft unter die drei großen westdeutschen Stromkonzerne aufteilt, hat sich die „Privatisierung von unten“ erledigt
Die Kombinats- und Betriebsleitungen der Braunkohlekraftwerke und Verbundnetze in der DDR sind Mitte 1990 vollauf damit beschäftigt, die Umwandlung der Volkseigenen Betriebe (VEB) in Aktiengesellschaften zu regeln. So jedenfalls fordert es das Treuhandgesetz vom 1. März 1990, das freilich offen lässt, ob die neuen Aktiengesellschaften oder GmbH ein gesamtes Kombinat erfassen sollen oder auch nur einen Kombinatsbetrieb allein umfassen können.
Parallel dazu ist das Management der DDR-Energieproduzenten darauf aus, Westpartner für Gemeinschaftsunternehmen zu finden. Nur so kann das bei der anstehenden Modernisierung der Ost-Betriebe benötigte Know how erworben werden. Betriebsräte kämpfen darum, bei anstehenden Verhandlungen ein entscheidendes Wort mitre
Wort mitreden zu können. Sie sind zumeist in den ersten Monaten des Jahres 1990 gewählt worden und genießen das Vertrauen ihrer Belegschaften, während die alten „Leitungskader“ kaum über einen solchen Bonus verfügen. So kommt es im April und Mai 1990 in den Energieunternehmen zu „Vertrauensabstimmungen“. Nur wer dabei Mehrheiten gewinnt, darf bleiben.Boxberg schert ausÜber einen Wandel der Eigentumsverhältnisse wird hingegen in den Betrieben wenig nachgedacht, auch der im März gewählten Regierung de Maizière scheinen keine radikalen Lösungen vorzuschweben. Wer am 20. April die Zeitung aufschlägt und die Regierungserklärung des DDR-Ministerpräsidenten liest, findet dort Sätze über „Aufgaben und Struktur der Treuhand-Anstalt“. Die diene als „Instrument zur Beeinflussung der Entflechtung volkseigener Betriebe und zur Überführung in geeignete Rechtsformen“. Die Umwandlung in AGs oder GmbHs sollten bis zum 1. Juli 1990 abgeschlossen sein. Wenig überraschend halten einige Energiebetriebe eine Zukunft außerhalb des ehemaligen Kombinats für aussichtsreicher – sie dürfen sich durch de Maizières Entflechtungsoption ermutigt fühlen.Für gekappte Verbindungen zur Kombinatsleitung Kraftwerke ist auch die Direktion des in der Lausitz gelegenen Kraftwerks Boxberg, eines der moderneren Werke, dessen Energieblöcke überwiegend zwischen 1975 und 1980 installiert wurden. Innerhalb weniger Wochen entfaltet Engelbert Toscher, bisheriger „staatliche Leiter“, beachtliche unternehmerische Aktivitäten. In der ersten Maihälfte findet er in den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen AG (VEW) einen Modernisierungspartner. Der will sich zwar nicht an einer Boxberg Energie AG (BEAG) beteiligen, erklärt aber am 3. Mai seine Bereitschaft, „Unterstützung und Einblick in Fragen seiner Organisationsstruktur und seines Geschäftsablaufes zu gewähren und gemeinsame Arbeitskreise einzurichten“. Am 9. Mai gibt die Deutsche Kreditbank AG zu verstehen, sie wolle die Modernisierung des DDR-Kraftwerks unterstützen. Mitte Mai schließt das Braunkohlenwerk Glückauf, Boxbergs traditioneller Rohstofflieferant, mit Engelbert Toscher eine Vereinbarung über bedarfsrechte Versorgung mit Braunkohle bis 2010 – damit ist der „Input“ für Strom, Hauptprodukt der künftigen BEAG, gesichert. Wegen des Absatzes wendet sich Toscher an die in der Region gelegenen Unternehmen, die Boxberg den Strom seit dessen Inbetriebnahme abnehmen. „Das war die Grundidee damals, eine Produktkette und alles in einer Hand zu haben. Das wäre doch ein ideales Ding gewesen“, gibt Toscher zehn Jahre später – über die Privatisierung von Boxberg befragt – zu Protokoll. „Der Betriebsrat war sofort Feuer und Flamme: Alles hatte ja einen Rochus auf die Kombinatsleitung“. Die Belegschaft stimmt ab und befürwortet die neue Unternehmensstrategie. Sie tut es mit großer Mehrheit.Was weder die Leitung von Boxberg noch dessen Belegschaft übersehen, das sind die Aktivitäten zur Privatisierung der DDR-Energieunternehmen auf höchster Ebene. Bereits im April 1990 haben sich die damaligen „großen Drei“ der bundesdeutschen Energiewirtschaft – die Konzerne PreußenElektra AG, RWE Energie AG und Bayernwerk AG (heute Eon und RWE) – darauf geeinigt, die gesamte ostdeutsche Energiewirtschaft (vom Kraftwerk bis zum Netz) zu übernehmen. Ein im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) angefertigtes Gutachten bestätigt, dass sofort Gewinne zu erzielen seien, da es – anders als in anderen ostdeutschen Branchen – keine konkurrierenden Lieferungen aus dem Westen geben werde. Die Folge fast völlig fehlender Verbundleitungen von West nach Ost wie auch des damals noch in der Bundesrepublik geltenden Regionalmonopols von Energieunternehmen. Die „großen Drei“ können den Minister für Umweltschutz und Reaktorsicherheit im Kabinett de Maizière, Karl-Hermann Steinberg, überzeugen: Nur die Übernahme der Geschäftsbesorgung der ostdeutschen Energieunternehmen durch sie garantiere dem Osten eine geregelte Energieversorgung für 1990/91. Der Kauf der Energiebetriebe sollte später folgen. Wichtigste Bedingung für die Übernahme: es müssen alle Betriebe davon erfasst sein. Ohne Ausnahme.Eklat in BogenseeDen Vertrag legen die „großen Drei“ Mitte Juni 1990 auf einer vom Steinberg-Ministerium organisierten Tagung vor, die in der ehemaligen FDJ-Jugendhochschule am Bogensee nördlich von Berlin stattfindet. Das zuständige DDR-Ministerium hat sich zuvor verpflichtet, noch bestehende Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Vor allem gilt es, die „Boxberger Separation“ zu beenden.Engelbert Toscher erinnert sich: Erst unterschrieben die Verbundunternehmen nicht, dann wurde das Kreditversprechen zurückgezogen, schließlich bekam auch VEW kalte Füße. Am ersten Tag der Bogenseekonferenz setzt das Ministerium der Boxberger Delegation die Pistole auf die Brust. Toscher: Man wehrte sich, „aber schließlich haben wir doch zugesagt, ohne nochmalige Abstimmung mit der Belegschaft“. Nach Boxberg zurückgekehrt, versucht der Betriebsdirektor den Mitarbeitern das Ende der „Privatisierung von unten“ so zu erklären: „Meine innere Überzeugung ist nicht so, aber die Großwetterlage hat sich geändert. Es gibt einen Stromvertrag, und wir werden gekauft.“ Als Reaktion in Boxberg erinnert Toscher: „Die haben zwar rumgemosert und so, aber es ist nichts passiert.“Es passiert jedoch etwas Unerwartetes am zweiten Tag der Bogenseekonferenz, als Minister Steinberg schon glaubt, den Stromversorgungsvertrag unter Dach und Fach zu haben: Es gibt heftige Proteste von fünf kleineren westdeutschen Energieunternehmen dagegen, dass „die großen Drei“ die ostdeutsche Energiewirtschaft und die zu erwartenden Gewinne unter sich aufteilen wollen. Die Konferenz endet mit einem Eklat.Arnfried Kögler, der für ein DDR-Energieunternehmen die Bogensee-Konferenz miterlebt hat, erinnerte sich später: „Wir wurden dann mit diesem Vertrag konfrontiert. Als ich das Ding gelesen habe, ging mir das Messer in der Tasche auf. Was mich so zornig gemacht hat? Im Prinzip fühlten wir uns – oder ich fühlte mich – plötzlich entmündigt. Wir sollten weiter machen, aber die sollten das Sagen haben“. Über den zweiten Konferenztag berichtet Kögler: „Das war eine Diskussion, bei der die Ostdeutschen überhaupt nichts zu sagen hatten. Wir sind überhaupt nicht gefragt worden zu diesem Stromvertrag. Ich weiß gar nicht, weshalb wir eigentlich da waren!“ In zähen Verhandlungen einigen sich die bundesdeutschen Energieunternehmen in den folgenden Wochen schließlich darauf, dass „die großen Drei“ 75 Prozent der Aktien der zu gründenden Vereinigten Energiewerke AG (VEAG) erhalten sollten, während fünf kleinere Unternehmen 25 Prozent zugesprochen bekämen. Am 22. August 1990 steht der Stromvertrag. Gut vier Jahre später – am 6. September 1994 – geht die VEAG endgültig in das Eigentum der westdeutschen Energieunternehmen über. Der Preis – vier Milliarden DM – wird von den Geschäftsbesorgern aus der Investitionskasse der VEAG bezahlt.