Crashtest für die Demokratie

Stuttgart 21 Kompromiss bei den südwestdeutschen Koalitionsverhandlungen: S 21 soll bis zu einem Volksentscheid ausgesetzt werden. Das könnte politisch teuer zu stehen kommen

Das Volk soll entscheiden – Volksentscheid! Wer hätte sich je träumen lassen, dass es in Baden-Württemberg einmal eine Landesregierung geben würde, die, noch ehe sie ins Amt gehoben wird, ihre Hoheit an jenen Souverän abgibt, der normalerweise mit dem Urnengang seinen Dienst getan hat? Eine Regierung, die ihr Haupt beugt vor einer plebiszitären Entscheidung und sich zur deren Erfüllungsgehilfin macht?

Dass Stuttgart 21 der Prüfstein in den südwestdeutschen Koalitionsverhandlungen zwischen Grünen und SPD würde, war programmiert, und dass die plötzlich zum kleinen Partner herabgewürdigte SPD alles daran setzen würde, einen Punktsieg gegenüber den Grünen zu erringen, ebenfalls. Spätestens im Oktober, so das Resultat des – nimmt man das sichtlich mitgenommene Antlitz des designierten Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als Zeichen – offenbar zermürbenden Aushandlungsprozesses, werden Baden-Württembergs Einwohner darüber entscheiden, ob Stuttgart 21 realisiert wird oder nicht. Allerdings, so schränkt die geltende Landesverfassung ein, müssten im drittgrößten Flächenland der Republik 2,5 Millionen mit „Nein“ stimmen – und daran glauben nicht einmal die optimistischsten Grünen im Land, so wenig wie an eine rasche Verfassungsänderung mit Unterstützung der Union.

Denn was die empörten Stuttgarter, die nur ihren Kopfbahnhof oder ihre Bäume retten wollten oder endlich die Chance sahen, der ewig scheinenden christdemokratischen Herrschaft im Land ein Ende zu setzen, letztes Jahr auf ihre Fahnen schrieben – dass sie über das Wohl und Wehe ihrer Stadt entscheiden wollen, kehrt sich auf gespenstische Art nun gegen sie. Die Volksgeister, die man rief, wird man nicht wieder los.

Lag man sich am 27. März von Heidelberg bis Ulm, von Stuttgart bis Freiburg noch vor Glück taumelnd in den Armen, setzt sich mittlerweile die Erkenntnis durch, dass auch und gerade im Ländle das St. Florians-Prinzip vorherrscht: So wie man selbstverständlich für Ökostrom ist, aber vom Windrad nicht den heimischen Garten verdunkelt sehen will, so geht den Leuten in Karlsruhe oder im Hochschwarzwald der Stuttgarter Bahnhof so ziemlich am Hintern vorbei. Dass radioaktive Wolken keine Grenzen kennen, wusste man schon vor Tschernobyl, das flüchtige Element formierte von jeher einen stabilen Widerstandskern. Aber Stuttgart 21? Auch wenn das Bahnprojekt einen politisch überdimensionalen Symbolcharakter erlangt hat und angetan ist, Politiker zu blamieren, bleibt es letztlich doch nur von lokaler Bedeutung. Die Südwest-SPD, die wenig klug an ihrem Prestigeprojekt festgehalten hat, wird, um überhaupt noch ernst genommen zu werden, bei einem Volksentscheid dafür werben müssen. Wenn es SPD-Chef Nils Schmid außerdem schafft, das Finanz- und Wirtschaftsressort als Superministerium auf sich zuzuschneiden, gerät ein Ministerpräsident Kretschmann zusätzlich unter Druck.

Den hochfliegenden Grünen könnte eine Volksabstimmung also eine tiefe (und vielleicht heilsame) Glaubwürdigkeitskrise bescheren. Deshalb richten sich nun alle Hoffnungen auf den von Heiner Geißler ausgehandelten Stresstest, der zeigen soll, ob das Projekt mit den veranschlagten 4,5 Milliarden Euro auskommt. Möglicherweise haben ja sogar alle drei Partner – das Land, der Bund und die Deutsche Bahn – ein Interesse daran, das Projekt auf diese Weise zu beerdigen: Bund und Land, weil sie politisch Ruhe brauchen, die Bahn, weil S 21 sie auf viele Jahre finanziell lahm legen würde.

Das Aus durch den Stresstest würde allen Beteiligten – nicht zuletzt den S 21-Gegnern an der Basis – erlauben, das Gesicht zu wahren. Insofern hätte sich Geißler tatsächlich als kluger Taktiker erwiesen. Nicht der Volksentscheid ist der Crashtest für die Demokratie, sondern die Stärke der Bewegung, die in den nächsten Wochen dafür sorgen muss, dass der Stresstest nach transparenten Kriterien erfolgt. Dann nämlich, sagen Experten, hat sich das Projekt ohnehin erledigt.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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