Die Vollzugsanstalt Tegel ist eine der größten in Deutschland. 1.327 Meter lang ist die Mauer, die im Norden Berlins den Unterschied zur Freiheit macht. Neben dem wuchtigen Haupttrakt steht ein mehrstöckiger Bau mit Sperren vor den Fenstern, ein hoher Metallzaun umschließt das Haus. Ein Knast im Knast. Hier sitzen die „Langstrafer“.
Und die Gefangenen in Sicherungsverwahrung. Von den anderen trennt sie nur ein Gitter auf dem Gang. „Das mit dem Gitter machen die nur, damit alle denken, dass hier die richtig Gefährlichen sitzen!“, beschwert sich einer der Insassen. „Ich hab keine Privilegien den anderen Leuten gegenüber“, sagt ein anderer.
Zwar können sich die Verwahrten tagsüber frei im Gebäude bewegen. Ein paar
ewegen. Ein paar Meter den Gang herunter ist die Welt aber immer noch der Knast: die gleichen Zellen, die gleichen Regeln, die gleichen Werkstätten und Freizeitangebote. Und mehr Mühe macht man sich mit den 42 Sicherungsverwahrten hier in Tegel auch nicht. Gerade einmal vier von ihnen nahmen im vergangenen Jahr an einer Sozialtherapie teil.Die Berliner Praxis ist nicht schlimmer als die in anderen Bundesländern. Obwohl das gesetzliche „Abstandsgebot“ verlangt, dass die Sicherungsverwahrung keine bloße Haft sein darf, sind die Unterschiede minimal – mit zwei wichtigen Ausnahmen: Die Gefangenen wissen nicht, ob und wann sie in Freiheit kommen werden. Und sie bekommen selten Therapieangebote und kaum Lockerungen, die wichtig sind, um den Kontakt mit der Außenwelt nicht zu verlieren oder wieder aufzubauen.Freiheitsorientiertes GesamtkonzeptDass dieser Zustand nicht tragbar ist, war auch bisher kein Geheimnis. Jetzt aber gibt es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts – und nun soll vieles anders werden. Die Karlsruher Richter fordern, endlich ein „freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept“ zu entwickeln. „Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss sichtbar die Praxis der Unterbringung bestimmen.“ Bis Mai 2013 müssen Bund und Länder die Sicherungsverwahrung völlig neu gestalten. Das wird Millionen kosten: für Neubauten, Therapeuten, Wachpersonal, Polizeiobservationen und wohl auch für Entschädigungszahlungen. Die Vorgaben, wie das aussehen soll, sind überraschend detailliert. Es ist die Rede von „intensiver therapeutischer Betreuung durch qualifizierte Fachkräfte“, von notwendiger „Motivationsarbeit“ und einer „umfassenden, modernen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechenden Behandlungsuntersuchung“ spätestens zu Beginn des Vollzugs. Vielleicht ist das Urteil auch deshalb so genau ausgefallen, weil die Richter Zweifel an der Politik bekommen haben. Schon 2004 hatte Karlsruhe konkrete Vorgaben zum Abstandsgebot formuliert – doch der Alltag in den Gefängnissen blieb der gleiche.Das Urteil, warnen bereits Psychiater, sei kaum umzusetzen – weil Experten fehlen. Bis Ende des Jahres müssen bundesweit rund 100 Sicherungsverwahrte begutachtet werden. Das, sagt der Forensik-Chef der Gesellschaft für Psychiatrie, Jürgen Müller, sei eigentlich nicht zu schaffen.Verwahrte verbüßen keine Strafe, sondern bleiben zum Schutz der Allgemeinheit hinter Gittern. Sie verlieren die Freiheit, weil Gutachter und Richter sie für zu gefährlich halten. Verfassungsgemäß ist das nur, wenn von Beginn an alles getan wird, um eine spätere Freilassung möglich zu machen. Wenn den Verwahrten eine Chance gegeben wird, etwas an ihrer Gefährlichkeit zu ändern."Die gucken nur nach der Akte"Die Praxis sieht meist anders aus. „Wie wollen Sie im Knast beweisen, dass Sie nicht mehr gefährlich sind?“, ist eine Frage, die sich Manfred Becker oft gestellt hat. Er saß wegen Bankraubes über 20 Jahre in verschiedenen Gefängnissen – und in Sicherungsverwahrung. „Die gucken nur nach der Akte und schreiben das fort, was die anderen schon vorher geschrieben haben.“Im vergangenen Sommer wurde Becker entlassen – nicht zuletzt, weil er schließlich einen mutigen Gutachter fand. Das ist ungewöhnlich, auch, dass Becker jahrelang um seine Freilassung kämpfte. Denn die meisten Sicherungsverwahrten sind durch die lange Haftzeit ohne absehbares Ende gezeichnet, „hospitalisiert“, wie die Psychologen sagen. „Diese Perspektivlosigkeit zermürbt sie, macht sie kaputt. Die meisten kommen gar nicht mehr aus der Zelle raus. Die waschen sich nicht mehr, die liegen nur noch im Bett.“Nicht erst seit Gerhard Schröders „Wegsperren, und zwar für immer!“ haben Politiker immer wieder versucht, aus der Angst der Bevölkerung vor „hochgefährlichen Gewaltverbrechern“ Kapital zu schlagen. Gesetzesverschärfungen haben dafür gesorgt, dass die Zahl der Sicherungsverwahrungen stetig wuchs, obwohl schwere Gewalt- und Sexualdelikte nicht häufiger wurden. Während sich die Anstalten füllten, entstand ein kaum noch zu durchschauendes juristisches Regelwerk.Ein erster Hinweis, dass die deutsche Praxis des „Wegsperrens“ keinen Bestand haben würde, kam Ende 2009 aus Straßburg – vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der hatte die nachträgliche Sicherungsverwahrung moniert, die auch über jene verhängt werden konnte, die vor 1998 verurteilt worden waren. Eigentlich hätten diese „Altfälle“ schon damals freikommen müssen. Aber Deutschland spielte auf Zeit, nur einige Sicherungsverwahrte wurden entlassen. Und: Die längst bekannten Probleme wurden nicht angegangen. „Wohin mit ihnen? Wer nimmt sie auf?“, fragte der bekannte Kriminologe Arthur Kreutzer. „Wie kann man mit ihnen arbeiten, wenn Bewährungshelfer weiter mit viel zu hohen Betreuungszahlen belastet sind?“Kosmetische KorrekturenJustiz und Politik haben sich geweigert, eine unangenehme Realität zur Kenntnis zu nehmen. Weder suchten Behörden nach geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten, noch wurden jene, die nicht grundlos als sehr gefährlich gelten, auf ein Leben „da draußen“ vorbereitet. Amtsgerichte versuchten, die Freilassung der Altfälle aufzuschieben. Politiker versprachen unverdrossen, auf keinen Fall käme einer der Schwerverbrecher in Freiheit. Weil die Gerichte jedoch anders entschieden hatten, griff der Etikettenschwindel um sich.Noch im Februar hatten die Justizminister der Länder neue Kriterien für eine Unterbringung formuliert, welche dem Abstandsgebot genügen sollten. „Es ist farblich umgestaltet worden, es gibt mehr Grünpflanzen“, beschrieb Sachsen-Anhalts SPD-Justizministerin Angela Kolb ihren Eindruck nach dem Besuch einer Vollzugsanstalt. „Es gibt eine Küche, wo sie ihre Mahlzeiten zubereiten können, einen Aufenthaltsraum mit Sitzecke, Billardtisch und angemessen große Fernsehgeräte.“ Kosmetische Korrekturen, die nun im Lichte des Karlsruher Urteils lächerlich erscheinen.„Die große Überraschung ist, dass das Gericht tatsächlich alle Regelungen zur Sicherungsverwahrung gekippt hat“, sagt Sebastian Scharmer. „Nicht nur die zu den Altfällen.“ Der Rechtsanwalt hat einen der Betroffenen vertreten, die vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatten. Wahrscheinlich wird er nun demnächst freikommen. Mit dem Urteil ist Scharmer „fast völlig zufrieden“.
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