Wer erinnert sich noch der hochgemuten Kerneuropa-Rhetorik Mitte der neunziger Jahre, als die Theorie vom Europa der zwei Integrations-Geschwindigkeiten in Mode kam? Vieles davon war Feuilleton, Maskerade und Kabarett. Doch galt als Axiom ohne Fehl und Tadel: Kern Europas zu sein, das gebührt Deutschland und Frankreich. Sie verkörpern die Achse, den Motor, den Nukleus und was die Diskurs-Sprache sonst noch an Semantik hergab.
Was ist davon beim deutsch-französischen Tatsch-und-Küsschen-Gipfel vor Tagen in Berlin ruchbar geworden? Vielleicht reicht es inzwischen, dass ein solches Treffen überhaupt stattfindet nach sechs Monaten der Abstinenz, in denen sich die Regierungen in Berlin und Paris weniger als Kern- denn als konkurrierende Europäer empfahlen. Nicolas Sarkozy wollte für die Euro-Rettung sehr viel entschiedener als Deutschland die Europäische Zentralbank einspannen. Ihm schien eine EU-Wirtschaftsregierung keine Blasphemie, sondern notwendig. Er konnte nicht davon lassen, das deutsche Konjunkturhoch mit der Talsohle zu konfrontieren, in der EU-Großschuldner als Kriech- und Kostgänger unterwegs sind. Sarkozy schwört auf Frankreichs Atomstrom, was den deutschen Ausstieg einigermaßen sinnlos macht. Wenig überraschend konnte da die Berliner Gipfel-Botschaft einen Hang zur Magersucht nicht verhehlen. Griechenland-Gläubiger sollen ihre Griechenland-Papiere freiwillig abschreiben oder die Laufzeiten strecken. Damit lässt sich keine Kernschmelze aufhalten. Weder des griechischen Staates noch Kerneuropas.
Das deutsch-französische Gegeneinander begann, als sich Angela Merkel Ende 2008 nach Ausbruch der Weltfinanzkrise zu keinem EU-weiten Konjunkturprogramm überreden ließ. „Frankreich arbeitet daran, Deutschland denkt darüber nach“, gab sich Sarkozy aktivistisch, indem er ein bisschen gehässig wurde. Ob damit die europäische Kernspaltung begonnen hat, sei dahin gestellt. Tatsache ist, weder Merkel noch Sarkozy fühlen sich derzeit berufen, in dem Maße Siegelbewahrer der deutsch-französischen Aussöhnung zu sein wie einst Adenauer und de Gaulle, Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing oder Helmut Kohl und François Mitterrand. Auf ihr politisches Überleben in kritischer Zeit fixiert, können oder wollen sie nicht viel gegen den geistigen Rückbau Europas tun, der noch weniger aufhaltbar erscheint als der Verfall der Euro-Zone.
Gewiss, es geht um die gemeinsame Währung, aber ebenso um die politische Substanz eines Staaten-Universums, das sich seit zwei Jahrzehnten mit viel Sinn für verbale Hochstapelei als alternativlos für die Zukunft eines Kontinent empfindet. Das Jahr 1990 steht für den Durchbruch zum ewigen Frieden, die deutsche Einheit für die Einigung Europas. Nur, wie viel Erdaushub hat es seither gegeben, um neuen Gräben ihren Lauf zu lassen? Griechenland wird behandelt, als sei es unter den Versailler Diktatfrieden gefallen. Es gerät in Vergessenheit, welch epochales Friedensprojekt die EWG, dann die EG und heute die EU stets sein wollten. Man beanspruchte, Lehren aus zwei Weltkriegen gezogen und sich der Überzeugung verschrieben zu haben: Ein Europa ohne Gräben und Grenzen ist eines ohne Fronten. Als im April 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl entstand, meinten die Gründer, wenn diese Schlüsselbranchen verschmelzen, würden sich ihre Länder im Kriegsfall selbst schaden. Die Kernmächte dieses Urknalls europäischer Integration waren Frankreich und die Bundesrepu-blik Deutschland.
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