Die Rotebühlstraße kennt jeder in Stuttgart. Sie verbindet die Stadtmitte mit dem Westen, einem beliebten Stadtteil zum Wohnen und Weggehen. Gegenüber der Heilsarmee geht es, dem Wegweiser „Umweltzentrum“ folgend, in einen grünen Hinterhof. Eine prächtige Kastanie ist das Schmuckstück dieser Oase in der Stadt, auf einem Plakat wird der Fahrradflohmarkt beworben, hier und da kleben Aufkleber gegen Stuttgart 21.
Im Erdgeschoss von Hausnummer 86/1 befindet sich die heimliche Leitzentrale der schwäbischen Aktivisten für mehr Bürgerbeteiligung: Drei Schreibtische stehen in der kleinen Geschäftsstelle des baden-württembergischen Landesverbandes von Mehr Demokratie e.V. Darauf sind zwei Computer, einer mit Flachbildschirm. An zwei
. An zwei Tagen pro Woche ist das Büro besetzt, ansonsten werden Anrufer auf das Mobiltelefon von Geschäftsführer Christian Büttner weitergeleitet.Wir sind das VolkIm hinteren Teil des schlauchartigen Raumes hängt die Titelseite der Zeit vom 24. Februar 2000, damals ging es um den CDU-Spendenskandal. Unter der Überschrift „Wir sind das Volk“ kommt der Autor zu der Erkenntnis, dass gegen den Parteienstaat nur noch Volksentscheide helfen. Mehr als elf Jahre sind seitdem vergangen, im Volksentscheids-Ranking 2010 belegt Baden-Württemberg unter allen Bundesländern den vorletzten Platz.Doch auch im Ländle setzen spätestens seit dem gescheiterten Schlichtungsversuch im Streit um Stuttgart 21 immer mehr Menschen große Hoffnungen in eine Volksabstimmung. Für viele ist ein Plebiszit der letzte Ausweg aus der festgefahrenen Situation, die einzige Möglichkeit, die verfeindeten Lager zu befrieden.Unterschiede zwischen BundesländernReinhard Hackl, Landesvorstand von „Mehr Demokratie“, sagt: „Wenn die Volksabstimmung im Herbst kommt, wird ganz Deutschland auf Stuttgart gucken und erkennen: Mit der bislang geltenden Gesetzeslage ist ein effektives Plebiszit praktisch nicht durchführbar.“ In Baden-Württemberg sei das die erste Volksabstimmung, „die Menschen werden endlich nach ihrer Meinung befragt“. „Danach wird man hinter diesen erreichten Punkt nicht mehr zurückkönnen – und es wird zukünftig mehr Elemente direkter Demokratie geben als bisher“, glaubt Hackl. Selbst die CDU im Landtag müsse sich dann bewegen und einer Verfassungsänderung zur Senkung der vergleichsweise hohen Hürden in Baden-Württemberg zustimmen.Hackl, der einst selbst für die Grünen in Landtag saß, kommt in Fahrt: „Wenn in Bayern bei einer Beteiligung von 38 Prozent die Mehrheit für mehr Nichtraucherschutz stimmt, ist der Volksentscheid erfolgreich. Das gleiche Ergebnis würde in Baden-Württemberg jedoch ein Scheitern am Quorum bedeuten.“ Föderalismus hin oder her – es könne doch nicht sein, dass bei den Voraussetzungen für Volksentscheide in den einzelnen Bundesländern derart gewaltige Unterschiede bestehen.Nur Utopisten glauben an den ErfolgDie baden-württembergischen Landesverfassung sieht derzeit vor, dass ein Drittel aller Stimmberichtigten zustimmen muss, damit das Ergebnis einer Volksabstimung bindend ist. Ein Drittel, das entspricht etwa 2,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Die grün-rote Landesregierung wurde im März mit rund 2,36 Millionen Stimmen ins Amt gewählt. Nur eine Handvoll Utopisten glaubt daran, dass so eine Wahl auch bei Stuttgart 21 zu schaffen ist.Doch auch wenn das nötige Zustimmungsquorum im Herbst nicht erreicht werden sollte, so hoffen die Aktivisten in Stuttgart, werde sich das Parlament dem Willen des Volkes anschließen und entsprechend handeln. „Wenn beispielsweise 60 Prozent gegen Stuttgart 21 stimmen und das einer Stimmenanzahl entspricht, die über dem Wahlergebnis der SPD liegt, werden sich die Sozialdemokraten Gedanken machen müssen“, meint Reinhard Hackl.Grundstein für bundesweiten VolksentscheidDas Rauchverbot in Bayern, ein neues Schulsystem in Hamburg oder der Flughafen Berlin-Tempelhof – konkrete Sachverhalte bringen das Thema Bürgerbeteiligung auf der tagespolitischen Agenda immer wieder nach ganz nach oben. Bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21 wird das öffentliche Interesse voraussichtlich noch größer sein als während der Massendemonstrationen rund um den Schlossgarten oder während der Schlichtungsrunden, die live aus dem Rathaus übertragen wurden.Die Verfechter der direkten Demokratie stecken in der Rotebühlstraße ihre Köpfe zusammen, entwickeln Strategien und haben sich dafür entschieden, möglichst unparteiisch zu bleiben. Sie wollen Werbung in eigener Sache machen und setzen auf eine einfache Botschaft: „Wir werden eine klare Kampagne fahren: Die Mehrheit entscheidet, nicht die Minderheit“, sagt Reinhard Hackl. Und dann blickt er über den Talkessel hinaus: „Wir wollen hier den Grundstein dafür legen, den bundesweiten Volksentscheid endlich Wirklichkeit werden zu lassen.“ Ganz gleich, wie Baden-Württemberg über Stuttgart 21 entscheidet: Das Thema direkte Demokratie wird in ganz Deutschland für reichlich Gesprächsstoff sorgen.