Occupy London Dem Zeltlager vor der St. Paul's Cathedral droht die Räumung. Unterdessen verlangt der Alltag den Besetzern dort so einiges ab. Manchmal sehen sich das auch Banker an
Die Luft ist eisig kalt, Nick ist den Umständen entsprechend gekleidet: Lammfellmütze, dicker Pulli, lotterige wasserdichte Jacke, zerrissene Jeans. Nur die blitzblank polierten schwarzen Brogues an seinen Füßen unterscheiden ihn von den anderen, die sich in kleinen Gruppen in der Occupy-London-Zeltstadt vor der St. Paul's Kathedrale tummeln.
Nick ist Investmentbanker. Gemeinsam mit einem Kollegen wird er von dem fröstelndem Aktivisten George Barda, 35, herumgeführt. „Keine Anzüge, hat George gesagt“, erklärt Nick, der nicht möchte, dass sein Nachname genannt wird. Er hat sich für heute die Gartenarbeitskleidung seines Kollegen geliehen und kommt direkt aus dem Hotelzimmer, in dem er nach einer Weihnachtsfeier „in der Stad
n der Stadt“ übernachtet hat. Nun bekommt er eine Privatführung durch das Occupy London Camp.Warum? „Weil ich hören wollte, was die Leute hier zu sagen haben.“ Er wendet sich an Barda: „Sicher denken viele, dass alle hier vollkommene Nieten sind und die Bulldozer euch beiseite schaffen sollten. Deshalb ist es mir wichtig, das, was ihr zu sagen habt, einem Publikum zu zu vermitteln, das ihr nicht erreichen würdet“, erklärt er. Nick schreibt einen Blog, der an dreihundert Finanzinstitute übertragen wird und hat einen Kameramann im Schlepptau.Zu sagen hat Barda einiges. Tatsächlich sind es mehrere tausend Worte, die er als einer der ernannten Verteidiger des Occupy-London-Lagers im von der City of London Corporation angestrengten Prozess um die Räumung des Camps vor der gestrigen Prozesseröffnung bei Gericht eingelegt hat. Im Informationszelt - „unserem spirituellen Zuhause“ - zeigt Barda auf vier überquellende Karteikästen, die auf einer schmalen Bank stehen. Darin sind hunderte Seiten von Unterlagen, die er selbst vor Prozessbeginn noch lesen und verdauen muss.„Bist du stolz auf dieses Land und die Tatsache, dass es in dieser Angelegenheit vor Gericht geht?“, fragt der Banker. „Absolut“, erwidert Barda und erinnert daran, dass der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg uneingeschränkt befugt ist, der Polizei die Räumung des Occupy Wall Street Camps im Zuccotti Park anzuordnen.Altbackenes aus der Feinkostbäckerei„Kekse?“, bietet er an, als er mit den Besuchern das Küchenzelt betritt, wo aus gespendeten Lebensmitteln Mahlzeiten für die Demonstranten zubereitet werden. Nick lehnt ab. Er habe im Hotel schon ein Englisches Frühstück zu sich genommen. Barda entgegnet fröhlich, er selbst habe auch schon gegessen: „Leicht altbackenes, aber wunderbares Brot.“Das Brot war eine Spende einer Feinkostbäckerei in der Nähe des Paternosterplatzes, an dem die Londoner Börse ansässig ist und wo sich ursprünglich auch das Occupy-London-Lager befand, bevor die Polizei die Demonstranten davon abhielt, ihre Zelte aufzustellen. Am Montag glitzerten zwei einsame Weihnachtsbäume zwischen den zahlreichen Metallabsperrungen, die verhindern sollen, dass gegen die weltweite ökonomische Ungerechtigkeit proteststierende Demonstranten sich Zutritt verschaffen.Der fünfunddreißigjährige Barda war auf einer Privatschule, hat ein Jahr lang in Oxford Jura studiert, hat einen Abschluss in Philosophie am University College London und macht neben seinem Job als Straßenkampagnenleiter für Greenpeace einen Master in Umwelt, Politik und Globalisierung am Londoner King's College. Außerdem verbringt er fünf Nächte die Woche im Occupy-Lager vor St. Paul's und bereitet den Prozess am obersten britischen Gerichtshof vor.Es sei wichtig, dass er dort persönlich erscheine, sagt er, weil er den Prozess um die soziale und politische Dimension erweitern wolle. „Wenn nur unser Rechtsteam gegen die City of London Corporation antreten würde, würde es zu neunzig Prozent um Gesundheits- und Sicherheitsaspekte und planerisch-technische Dinge gehen. Das hätte nichts mit dem zu tun, weswegen wir hier sind.“Anlaufpunkt für Menschen von der StraßeAus den vor dem Prozess eingereichten Unterlagen geht hervor, dass die Corporation den Schwerpunkt darauf legen will, dass das Protestcamp die „öffentliche Ordnung störe“. Diese Sicht kam auch in vielen Medienberichten zum Ausdruck, in denen oftmals ausgiebig über öffentliches Defäkieren, Alkohol- und Drogenkonsum berichtet wurde.Zweifellos hat das Camp Leute angezogen, die sich kaum - wenn denn überhaupt - den Zielen und der Philosophie der Occupybewegung zugehörig fühlen oder etwas darüber wissen. Das rund um die Uhr geöffnete Teezelt ist zum Anlaufpunkt für Menschen von der Straße geworden, von denen einige Alkohol- und Drogenprobleme haben. Im Occupy London Onlineforum wird viel darüber diskutiert. Einige weibliche Demonstrantinnen fühlten sich Berichten zufolge belästigt und vor allem nachts nicht sicher.Während sich alle Aufmerksamkeit auf den Gerichtsprozess richtet, bemüht sich die Generalversammlung, einen Konsens darüber herzustellen, wie man das Camp vor der St.Pauls Kathedrale für die dort schlafenden Aktivisten sicherer machen kann. In der vergangenen Woche schrieb ein Besucher des Onlineforums, es sei zu „Spucken, Drohungen, aggressivem Verhalten“ gekommen, einem Demonstranten sei sogar „eine rostige Säge an die Kehle gehalten“ worden. Die Treffen der Generalversammlung würden „mit Gewalt von den Teezeltleuten unterbrochen, die entschlossen scheinen, unser Camp zu zerstören.“ Einige Male wurde schon die Polizei herbeigerufen, was wiederum nicht zu den Vorstellungen der idealistischeren Campbewohnern passen mag.Sollten bestimmte Leute ausgeschlossen werden? Sollte das Lager verkleinert werden, vielleicht gar auf ein einziges symbolisches Zelt? All das steht zur Debatte. Die Housing Working Group entfernt bereits leere Zelte, am vergangenen Freitag standen dann noch circa hundert vor den Stufen der Kathedrale.Im Zelt gefriert das Wasser am Boden zu EisNach fünfundsechzig Tagen der Besetzung werden auch andere Probleme offenkundig. Diejenigen, die morgens in Zelten aufwachen, auf deren Boden Wasser zu Eis gefroren ist, betrachten es mit „gemischten Gefühlen“, dass die Kollegen an Occupy Londons “Ufer der Ideen“ es gemütlicher und wärmer haben – die nämlich haben eine Unterkunft mit vier Wänden und einem Dach in einem leerstehenden Gebäude im Stadtteil Hackney, das der Bankengruppe UBS gehört. „Die könnten doch genauso gut bei sich zuhause bleiben. Das ist eine Hausbesetzung und hat nichts mit Occupy zu tun“, meint ein Veteran von St. Paul's.Auch darüber, wie Occupy London über die sozialen Medien kommuniziert, äußert sich Unmut. Diejenigen vom „Ufer der Ideen“ hätten die Kontrolle über die Passwörter bei Twitter und Facebook und Online-Livestreams, trug ein verärgerter Bewohner des St. Paul's-Lager bei der Generalversammlung vor. Solche Beschwerden über die Entstehung einer Hierarchie haben, obwohl sie unmittelbar von der Generalversammlung aufgegriffen werden, bei einigen Medien zu Vergleichen mit Orwells Farm der Tiere geführt. Alle Demonstranten seien gleich, aber einige eben gleicher, hieß es dann.Doch in der Tent City University, einer mit alten Sofas bestückten Konstruktion aus weißem Segeltuch, vor der ein Schild mit der Aufschrift „Hier kein Alkohol und keine Drogen“ hängt, steht der 54-jährige Rod Schwartz für das, was man sich bei Occupy London als größte Errungenschaft zugute hält – den Dialog. Jeden Tag gibt es hier Vorträge. Am vergangenen Donnerstag sprach der US-Bürgerrechtsveteran Jesse Jackson. Am nächsten Tag dankte der ehemalige Wall Street-Analyst Schwartz - der nun eine Beratungsfirma für Social Businesses hat – den zwanzig bis dreißig Zuhörer „dafür, dass ihr gekommen seid und bleibt. Indem ihr es allen anderen ein bisschen unbequemer macht, erinnert ihr uns daran, dass das System nicht funktioniert.“"Als Banker gehörst du zu dem 1 %"Davor sitzen auf den eiskalten Pflastersteinen der 82-jährige Peter Brown, pensionierter Architekt und seine Frau Doreen, 80, die pensionierte Lehrerin ist. Die beiden hören aufmerksam zu. „Guter Vortrag“, meint Peter hinterher. „Ich bin gekommen, weil ich mich selbst vergewissern wollte, was hier erreicht wurde, denn es kann nicht mehr lange dauern, bis das Lager geräumt wird.“ Er könne aber „nicht unbedingt viel erkennen, von dem die Regierung auch nur die geringste Notiz nehmen wird.“„Ich finde, sie sorgen für positive Dialoge“, hält seine Frau dagegen. Sie kommt jede Woche und bringt Lebensmittel vorbei. „Ich hoffe nur, dass eine mögliche Räumung friedlich vonstatten gehen wird“, sagt sie mit gerunzelter Stirn.In einem Café in der Nähe ist Nick der Banker bei wärmendem Kaffe in eine Unterhaltung mit George und Inka vertieft. „Als Investmentbanker gehörst du natürlich im Grunde zu dem einen Prozent. Aber als Mensch..“, hört man Barda sagen. „Du bist hier und du hörst zu“, fügt Inka an. „Und das ist gut, denn bei Occupy geht es um Kommunikation. Allerdings stehst du mit einem Fuß drüben und meiner Meinung nach mit keinem Zeh – noch nicht mal einer Zehenspitze – bei uns.“ „Irgendwo muss man ja anfangen“, antwortet Nick. „Vielleicht kann man nicht mit einem Wort beschreiben, was ihr erreichen oder wo ihr hin wollt. Aber solange man den Eindruck hat, dass es vorwärts geht und es Fortschritt gibt, finde ich das gerechtfertigt.“
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.