In New York ist man bei der Gretchenfrage angekommen: Wie hältst du's mit der Gewalt? Symptomatisch ist die Kontroverse um den Journalisten und Aktivisten Tim Pool
Tim Pool ist gezeichnet. Klar wurde ihm dies am vergangenen Sonntagabend am New Yorker Washington Square, als hunderte Occupy-Demonstranten sich nach einem lauten Marsch durch Lower Manhattan in Richtung eines leerstehenden Gemeindezentrums aufmachten. Pool war dabei und übertrug die Ereignisse per Livestream ins Internet, als ein maskierter Mann versuchte, ihn zu stoppen. Pool erhielt einen Hieb gegen den Arm, es folgte ein Handgemenge. Schließlich griff die Polizei ein und der Angreifer floh.
Der Vorfall hat die Diskussion um ein Thema angestoßen, das die Occupy-Bewegung zunehmend spaltet: Den Umgang der Aktivisten mit Geheimhaltung und Gewaltlosigkeit. Die Verhaftung von vierhundert Occupy-Demonstranten in Oakland am vorletzten Samstag zeigt, dass es mit der Bewegung, die
gung, die in den vergangenen Wochen scheinbar eingeschlafen war, längst nicht vorbei ist.Die kalifornische Polizei schoss Tränengas, Schallgranaten und so genannte "weniger tödliche" Patronen in die Menge der Demonstranten, die sichtlich auf eine Konfrontation vorbereitet waren. Sie trugen selbstgebaute Schutzschilde und mobile Barrikaden, bewarfen die Polizisten mit Steinen und anderen Wurfgeschossen. An einer Stelle rissen sie einen Zaun nieder, und ermöglichten so einer Gruppe zu entkommen, die ansonsten vielleicht mit Tränengas eingedeckt worden wäre."…NYPD go away"Als Reaktion auf die Verhaftungen in Oakland gingen auch in New York City Menschen auf die Straße. Auch hier kam es zu Sachbeschädigungen und Flaschenwürfen auf die Polizei durch eine kleine Gruppe von Demonstranten. Eine wesentlich größere Gruppe jedoch bedachte die Polizei mit Sprechchören wie "Fuck the police" und "Racist, sexist, anti-gay/NYPD go away." Die kämpferische Haltung und aggressive Taktik, die von einigen mit Verweis auf die Polizeigewalt gerechtfertigt wurde, hat bei anderen zu Unmut geführt.Dass Occupy nicht verschwinden wird, ist klar. Es wird sich allerdings zeigen, welche Form die Bewegung in den kommenden Monaten annimmt.Tim Pool ist bei den Occupy-Wall-Street-Protesten so allgegenwärtig wie umstritten. Er selbst beschreibt sich als Aktivist und Journalist. Wenn es in New York eine Occupy-Aktion gibt, ist er mit großer Wahrscheinlichkeit zugegen und berichtet mithilfe seines Iphones von den Ereignissen. Seine Berichterstattung der Proteste hat ihm die Aufmerksamkeit des Time Magazine eingebracht. Über 11.000 Leute haben seinen Twitter-Feed abonniert und er erhielt 15.000 Dollar an privaten Spenden, um seine Arbeit fortsetzen zu können. Einen Großteil seines Ruhms hat Pool seiner 21-stündigen, ununterbrochenen Berichterstattung von der Räumung des Zuccotti Parks Mitte November zu verdanken. In dieser Nacht begann auch die Kontroverse um ihn.Ungefähr gegen zwei Uhr in der Frühe sei er auf eine Gruppe maskierter Demonstranten gestoßen, die einem Auto der Polizei die Luft aus den Reifen gelassen habe, sagt Pool und behauptet, er habe zunächst überhaupt nicht vorgehabt, etwas zu filmen, sei aber sofort darauf angesprochen worden. Die Aktivisten hätten verlangt, er solle aufhören zu filmen. Da habe er mit der Begründung abgelehnt, er habe ein Recht darauf zu übermitteln, was sich vor seinen Augen abspiele, unabhängig davon, um was es sich handle. Von dieser Position ist er seitdem nicht mehr abgerückt."Ob er bezahlt wird oder nicht, spielt keine Rolle"„Wenn Anarchisten, die die Luft aus den Reifen von Polizeiautos lassen, mir sagen, ich solle sie nicht filmen, weil sie etwas Illegales täten, dann werde ich sie filmen“, erklärte er. Dass auch die Polizei sehen kann, was er da filmt, ist ihm egal. Seiner Meinung nach bringen die Sabotage von Polizeifahrzeugen und das Werfen von Flaschen auf Polizisten Demonstranten, die weniger konfrontativ sind, in Gefahr. „Sie geben der Polizei eine Vorlage dafür, Unschuldige zu schlagen und zu verhaften.“Der Aktivist Jason Ahmadi sagt, er habe Pool auf seine Arbeit angesprochen und ihn gefragt, ob ihm klar sei, dass er die Polizei permanent darüber auf dem Laufenden halte, was gerade passiert. Pool habe das bejaht und sein Recht verteidigt, damit fortzufahren.„Für mich kommt das einer Weitergabe von Informationen an die Polizei gleich. Und wer die Polizei über eine illegale Aktivität informiert, ist der Definition nach ein Spitzel. Ob er dafür bezahlt wird oder nicht, spielt keine Rolle. Viele Leute befinden sich noch nicht lange in dieser Situation, für sie ist das alles neu. Irgendwie glauben diese Leute immer noch, die Polizei sei da, um uns zu beschützen, damit wir unseren Protest friedlich fortsetzen können. Sie verstehen nicht, dass die Polizei der repressive Arm des Staates ist, der die Redefreiheit unterdrückt, friedliche Demonstranten verprügelt und ins Gefängnis sperrt, Obdachlose und Menschen mit dunklerer Haut kriminalisiert. Ich glaube nicht, dass er sich bewusst darüber ist, was er da macht.“Der Demonstrant Ted Hall weist darauf hin, dass es bei der Kontroverse um Pool um mehr geht. „Bei den direkten Aktionen herrscht eine gewisse militante Feindseligkeit, die hier insgeheim kultiviert wird“, so Hall gegenüber dem Guardian. Er denkt, dass Pool Occupy hilft, den Tatsachen ins Auge zu sehen: „Wir haben Leute in unseren Reihen, die Dinge tun, mit denen die überwiegende Mehrheit in dieser Bewegung nicht übereinstimmt. Die überwiegende Mehrheit von uns glaubt nicht, dass man irgendetwas anderes erreicht, als die Cops zu provozieren, wenn man ihnen die Luft aus den Reifen lässt. Und die sind bewaffnet. Occupy sollte seine Energien auf spielerische, kreative Aktionen konzentrieren, die transparent durchgeführt werden“, so Hall weiter. „Wir werden das hier nicht gewinnen, indem wir die Zähne zeigen. In diesem verrückten Ökosystem der Unterdrückung sind wir nur ein winziges Wesen. Wir müssen uns sehr, sehr clever anstellen. Unsere Stärke besteht nicht in der Geheimhaltung, sondern in der Offenheit. Alles Geheime zieht Aufwiegler und Spitzel an wie das Licht die Motten.“Nicht gewaltfrei im strengen SinneDie zunehmende Militanz, von der Hall spricht, hat damit zu tun, dass Occupy eine „diversity of tactics“ propagiert. Anders als viele glauben, ist der New Yorker Ableger der Bewegung nicht gewaltfrei im strengen Sinne. Vertreter der Philosophie der taktischen Vielfalt argumentieren, diese Haltung ermögliche es einer Bewegung, mit der jeweils wirkungsvollsten Strategie auf Repression zu reagieren.„Wir sind für gewaltfreie Aktionen“, sagt der Occupy-Wall-Street-Organisator Patrick Bruner. „Indem sie eine Vielzahl von Vorgehensweisen zulässt, ermöglicht sich die Bewegung ein beträchtliches Maß an Flexibilität bezüglich der Frage, was sie verurteilt und was sie dulden will. Während die überwiegende Mehrheit der Bewegung selbst angesichts brutaler Übergriffe durch die Polizei friedlich geblieben ist, lässt die taktische Vielfalt in der Tat auch andere Möglichkeiten offen.“ Während die Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei auf der Straße weitergehen, kommt es zu neuen Strategien der Konfrontation. „Es war klar, dass neue Widerstandsformen angewendet werden würden“, erklärt Bruner. Da diese Strategien meistens illegal sind und für die Beteiligten rechtliche Konsequenzen drohen, muss nach Ansicht Bruners und anderer die Anonymität gewahrt bleiben.Bruner gehört zu Pools lautstärksten Kritikern. Der Vorfall am Sonntagabend sei als willkürlicher Angriff missverstanden worden. Augenblicke vor der Auseinandersetzung habe er mit einer Lampe in Pools Kamera geleuchtet und ein paar Worte mit ihm gewechselt, dann sei der maskierte Demonstrant ins Spiel gekommen. „Es war kein Einzelner, der Tim Pool willkürlich angegriffen hat. Es war eine Einzelperson, die sicherstellen wollte, dass er nicht weiter Leute filmt, die das nicht wollen“, so Bruner.Lisa Fithian, die seit Jahren Demonstrationen organisiert und für Occupy Leute in zivilem Ungehorsam und gewaltfreiem Wiederstand schult, hält es für wichtig, „dass die Leute verstehen, dass die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit eine lange Geschichte hat und jede Bewegung, die ihre Kräfte entfaltet, sich mit ihr konfrontiert sieht. Die neue Generation muss lernen, mit Menschen umzugehen, die anders sind als sie selbst.“