Einige Leser hätte Anders Breiviks im Internet veröffentlichte European Declaration of Indepedence wohl gefunden. Leser, die sich auch sonst in jener rechten, virtuellen Parallelwelt bewegen, in der sich darum so vieles sagen lässt, weil sich ohnehin nur wenige dorthin verirren. Wer sich als Autor dieser Seiten ein größeres Publikum wünscht, muss sich etwas einfallen lassen. Und das hat Anders Breivik getan. Über 70 Menschenleben war ihm die Publicity für sein Pamphlet wert. Darum und nur darum dürfte es dieser Tage einige Leser mehr als andere Texte finden.
Wenn sich nun Medien für diese Seite interessieren, gar über sie berichten, gehen sie ein Wagnis ein. Sie riskieren nämlich, zu Erfüllungsgehilfen eines Mörders zu we
ders zu werden, sein Anliegen dadurch zu unterstützen, indem sie über es berichten. Denn aus Breiviks Sicht erfüllt sich seine Tat erst dadurch, dass im Anschluss über dessen Thesen diskutiert wird.Und dennoch lohnt sich eine Lektüre des Pamphlets. Denn es gibt auf mehr als 1.500 Seiten Auskunft darüber, welche Weltbilder politisch motivierte Kriminelle errichten, um ihre Taten zu rechtfertigen. Und nichts anderes ist dieser Text: eine – gescheiterte – Apologie des Verbrechens. Sie muss schon darum scheitern, weil eine solche Tat sich durch keinen Gedanken, keine Weltsicht, keine Überzeugung rechtfertigen lässt. Am Ende zählen nicht die Gedanken. Am Ende zählt die Tat.82.820 deutsche „Verräter“Die aber kommt ohne begleitende Topoi und Stereotypen nicht aus: die Beschwörung einer allergrößten Notlage etwa, eines Endzeitszenarios, in dem die eigene Gruppe durch die der anderen bedroht ist – ob diese wie bei den Nationalsozialisten nun „Juden“, bei den Stalinisten „Klassenfeinde“, den Anhängern des Ku-Klux-Clan „Schwarze“, den islamistischen Fundamentalisten „Kreuzfahrer“ oder bei deren Gegnern wiederum „Muslime“ heißen. Allen diesen Gruppen ist gemein, dass sich nicht genau sagen lässt, was ihr eigentliches Motiv ist: die angebliche Angst vor der Vernichtung durch die anderen – oder die unausgesprochene Lust daran, sie ihrerseits auszurotten, einem entgrenzten sadistischen Impuls zu folgen, der dann allerdings sehr starke Rechtfertigungsmanöver erfordert. Und so ist auch Breiviks Pamphlet vor allem darum interessant, weil es die postmoderne Variante einer uralten pervertierten Textsorte ist: des Rechtfertigungsversuchs einer ungeheuren Tat.Eine solche Tat bestimmt unweigerlich das rhetorische Arsenal, dessen sich ihr Urheber bedienen muss, der verzerrten Stilmittel, der exzentrischen Argumentation. Und für sie gilt die Faustregel, dass der pseudowissenschaftliche Anstrich umso dicker ist, je dünner die Argumente sind. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Breiviks Pamphlet auf Stilmittel setzt, die wie kein anderes wissenschaftliche Seriosität suggerieren: Zahlen, Statistiken, Tabellen. Ganz gleich, wie unhaltbar diese auch sein mögen – ihre bloße Existenz erweckt den Anschein bestechender Objektivität.Auf ihrer Grundlage entwirft Breivik ein Bedrohungsszenario, das gigantischer nicht sein könnte. Der Islam sei eine tödliche Gefahr, schreibt Breivik und liefert entsprechende Daten: Seit seiner Entstehung im 7. Jahrhundert habe der Islam bereits 300 Millionen Nicht-Muslime getötet und 500 Millionen weitere gefoltert und versklavt. Und seit dem 11. September 2001 habe es 12.000 Attacken im Namen des Dschihad gegeben, bei denen jeweils mindest ein Nicht-Muslim getötet worden sei. Um das Szenario aufrechtzuerhalten, verzichtet Breivik konsequent darauf, zwischen Muslimen und islamistischen Terroristen zu unterscheiden. Denn nur so lässt sich das Bedrohungspotenzial noch einmal verschärfen: Der Trend der tödlichen Angriffe gegen Nicht-Muslime gehe „so lange weiter, wie es nicht-muslimische Ziele gibt und so lang, wie der Islam existiert.“Kleiner kann Breivikdas Szenario nicht halten. Denn nur auf solchem Fundament erhalten seine Vorschläge zur Gegenwehr ihre vermeintliche Plausibilität. So etwa, wenn er eine Liste der westlichen Ziele entwirft, die in Zukunft anzugreifen wären. Ganz oben stehen Frankreich, Deutschland, Großbritannien, denn sie haben einen muslimischen Bevölkerungsanteil zwischen fünf und 13 Prozent. Das macht sie in Breiviks Augen zu „extrem feindlichen“ Nationen. Entsprechend hoch ist darum auch die Zahl von „Verrätern“ höchster Kategorie, also zum Beispiel Politikern, Medienleuten, Kulturschaffenden. In Deutschland beläuft sie sich, Breivik zufolge, auf 82.820.Krieger von Gottes GnadenEinen Nachweis der eigenen Rationalität soll auch der Bezug auf den universitären Diskurs erbringen, allen voran den der geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Breivik zapft ihn an, ohne sich auf ihn einzulassen. Das ergibt durchaus Sinn. Denn nur aus der Perspektive des mehr als nur distanzierten Beobachters vermag er die Pauschalurteile zu fällen, auf deren Grundlage er dann weiter operiert. Nicht erstaunlich darum, dass er sich auf die letzten, zumindest vorletzten geisteswissenschaftlichen Großtheorien bezieht, mehr aber noch die ihnen angeblich entsprungenen, den Alltag vorgeblich dominierenden gesellschaftlichen Verhaltenslehren. Als da wären: Political Correctness, Multikulturalismus und „Kulturmarxismus“.Ihre Vertreter täten alles, um der tödlichen islamischen Gefahr Tür und Tor zu öffnen. Gramsci, Adorno, Derrida, um nur ein paar der Erwähnten zu nennen, wirft Breivik vor, das Konzept der „Bedeutung“ aus der europäischen Geistesgeschichte verabschiedet und damit einem unheilvollem Relativismus vorgearbeitet zu haben. Die politische Gefahr der Überwältigung durch den Islam wird somit ergänzt durch die kulturelle Gefahr der Bereitschaft zur Unterwerfung. Europa, findet Breivik, habe keine kulturellen Ressourcen mehr zu mobilisieren. Der Notstand blüht in jeder Hinsicht.Erst vor diesem Hintergrund des allumfassenden Desasters vermag sich Breivik dann als Kämpfer gegen die Übel der Welt zu inszenieren. Vorbilder, reale und imaginäre, stehen für solche Rollen bereit. Breivik wählt die Tempelritter – von den Muslimen gefürchtete Gotteskrieger, die christlichen Pilgern beim Einzug in Jerusalem den Rücken freihielten. Doch bei Breivik mutieren die Tempelritter zu Verteidigern des Abendlands. Neun Jahre lang hat er sein Attentat vorbereitet. Neun Jahre lang war er auch angebliches Gründungsmitglied der neuen „Tempelritter Europas“, die sich, so berichtet er, im Jahr 2002 in London konstituierten. Sein Deckname dort: Sigurd – nach jenem norwegischen König, der im 12. Jahrhundert am ersten Kreuzzug teilnahm. In seiner Nachfolge sieht sich auch Breivik in der Rolle des Retters: „Ich bin einer der vielen Zerstörer des Kulturmarxismus“, schreibt er gegen Ende seiner Schrift, „ein Held Europas, ein Retter unseres Volkes und des Europäischen Christentums.“Man könnte das als Wahn abtun. Man kann es aber als Instrumentalisierung europäischer Geschichtsmythen verstehen, als Rekurs auf eine zwar erfundene, darum aber nicht weniger wirkmächtig in Anschlag gebrachte Tradition. In deren Namen hat sich nun auch in Europa ein fundamentalistischer Terrorist aus der Deckung gewagt.