Der Freitag: Herr Amamou, Sie sind Staatssekretär für Jugend und Sport. Sind Sie Fußballfan?
Slim Amamou: Ich kicke selber nicht und kann wenig mit Fußball anfangen. Es ist ein komplizierter Sport, es geht immer ums Geld.
Die Spiele der tunesischen Liga sind diese Saison ausgesetzt worden. Warum?
Die Clubs wollten aus Sicherheitsgründen nicht mehr auflaufen, gleichzeitig verlangten sie finanzielle Hilfe, weil sie durch die Revolution Ausfälle hatten. Wir gaben ihnen etwas Geld, aber sie wollten immer mehr.
Probleme gab es auch vorher.
Wir haben Hooligans und Gewalt in den Stadien. Nach der Revolution sagten manche: ‚Das wird jetzt noch schlimmer, weil die Jugend keine Angst mehr vor der Polizei hat.‘ Andere meinten: ‚Jetzt haben sie doch, was sie wollen. Die Jugendlichen werden sich beruhigen.‘
Und was passierte?
In einigen Spielen, wenn eine beliebte Mannschaft verloren hatte, applaudierten auch die Fans der Gegner. Sie wollten zeigen, wir tolerieren euch. In einem Spiel im Stadion von Bizerte ist aber wieder das Gegenteil von Fairplay geschehen. Zuschauer haben auf die gegnerischen Fans eingeschlagen.
Vor Ihrem Büro zelten seit einer Weile Sportlehrer, die einen Job suchen. Was sagen Sie denen?
Ich sehe sie mit den Transparenten und versuche ihnen zu erklären, dass wir nicht das gesamte Problem der Arbeitslosigkeit auf einmal lösen können. Aber sie werden im Moment schnell aggressiv, sie blockieren den Eingang. Ich muss meine Verabredungen nun außerhalb des Ministeriums treffen. Das ist lästig.
Lästig?
Sie verhindern einen Dialog. Ich erkläre ihnen, dass wir schon viele Sportlehrer eingestellt haben – das Maximum, mehr geht nicht. Aber sie zelten einfach weiter.
Viele Männer in Ihrem Alter finden in Tunesien keine Jobs. Sie fliehen nach Europa. Eine verlorene Generation?
Emigration gehört bei uns zur Kultur. Manche Menschen tragen das Auswandern richtig in ihren Genen. Sie sind Nomaden. Und viele Tunesier wollen nach Europa, seit sie klein sind. Diese Kultur der Wanderung hat sich seit 50 Jahren entwickelt. Sie gehen – und kommen wieder. Früher war Emigrieren ein Verbrechen. Nun sind die Menschen frei und wollen reisen. Wenn sie dann sehen, dass sie in Paris auch nicht die idealen Umstände finden, kommen sie oft zurück.
Glauben Sie wirklich, man kann Leute halten, indem man sie gehen lässt?
Es ist einfacher für sie, in Tunesien zu leben, wenn sie spüren, dass dies keine verpasste Möglichkeit ist. Woanders ist es auch nicht besser. Die meisten haben ohnehin nicht vor, ihr Leben lang in Europa zu arbeiten, sondern höchstens ein paar Jahre, um sich anschließend in Tunesien ein Haus kaufen oder ein kleines Geschäft aufbauen zu können.
Ist das nicht ein bisschen naiv?
Natürlich wäre es schöner, wenn wir sie im Land halten könnten, mit einer kleinen Sozialversicherung, einem Existenzminimum. Wenn sie das hätten, würden sie gar nicht erst gehen.
Als ich das letzte Mal im Gefängnis saß, dachte ich: ‚Sobald ich frei bin, werde ich Tunesien verlassen. Ich kann diese Tortur nicht jedes Mal durchstehen, ich kann aber auch nicht meine Klappe halten.‘ Glücklicherweise gab es die Revolution, sonst wäre ich schon weg.
Ich mag die Stimmung während des Ramadan. Da herrscht dann ein anderer eigentümlicher Rhythmus; weil die meisten nichts essen, geht alles sehr langsam, alle haben dasselbe Tempo. Es gibt keine Mittagspausen mehr, die Arbeit wird in einem gemächlichen Lauf erledigt.
Sie halten den Ramadan ein?
Ich versuche es, ich schaffe es nicht immer. Aber ich mag es, wenn alle gleichzeitig essen. Weil die Leute großen Hunger haben, isst im Ramadan wirklich jeder abends zur selben Zeit. Wenn du dich dazu mit Freunden verabredest, weißt du genau, wann alle da sind. Ich hänge nicht so sehr an Monumenten oder der Erde, sondern mehr an den Menschen. Aber womöglich bin ich noch nicht genug gereist, um Tunis mit anderen Städten vergleichen zu können.
Frauen, die in Algier oder Rabat ins Café gehen, fallen auf. Wie ist es in Tunis?
Das hängt vom Café ab. Viele sind gemischt, aber manche traditionelle Orte sind für Männer reserviert. Sie akzeptieren zwar die Frauen. Aber wenn eine kommt, schauen sie doch weg, weil es ihnen unangenehm ist.
Sie sind durch die Revolution vom Blogger zum Staatsmann avanciert. Sind Sie ein moderner Held?
Ich, ein Held? Nein. Es gibt etwas Besonderes an dieser Revolution: Sie hat keine Helden hervorgebracht.
Halten Sie weiter Kontakt zur Bloggerszene?
Natürlich. Es sind noch dieselben Leute aktiv. Wir essen zusammen, und ich sage ihnen: ‚Macht weiter‘. Wir agieren an verschiedenen Fronten. Ich bin in der Regierung, mein Kumpel Aziz geht auf Demonstrationen, Yacine ist ebenfalls in der Politik, andere Blogger arbeiten in den Medien. Wir sind gut vernetzt.
Einige werfen Ihnen vor, dass Sie die Seiten gewechselt haben. Trifft Sie so etwas?
Das ist für mich persönlich hart, weil ich ja derjenige bin, der die Vorwürfe aushalten muss (lacht). Aber ich finde es natürlich gut, wenn man die Regierung kritisiert. Das ging früher nicht – und ich habe es immer eingefordert. Nur wenn mich jemand wirklich beleidigt, antworte ich nicht. Auf Twitter nennen mich manche Arschloch oder Vollidiot.
Trolle?
Ja, auch die Minister werden Opfer. Ich habe ihnen beigebracht, wie man twittert. Nun müssen sie die Folgen ertragen.
Ihr Vater arbeitet als Arzt. Reden Sie mit ihm auch über Politik?
Wir reden sehr wenig, aber verstehen uns wunderbar. Zuhause bei uns fragt man selten nach dem Rat des anderen. Wenn ich etwas tue, das seine Anerkennung findet, vermittelt er mir seine Zustimmung auf seine Weise. Aber er möchte mir nie seine Sicht aufdrücken.
Wollen Sie eigentlich in der Regierung bleiben?
Nein. Ich bin froh, wenn dieser Job vorbei ist. Politik ist unschön, man muss so vielen Interessen und Leuten gerecht werden. Ich werde wohl nach den Wahlen Lobbyist – und kämpfe weiter für ein freies Internet.
Guido Westerwelle hat Ihnen vor TV-Kameras einen Füller geschenkt. Benutzen Sie den?
Wieso finden eigentlich alle Wesrerwelle so seltsam? Er ist doch sehr sympathisch. Ich nehme aber lieber meinen eigenen Kuli.
Das ist der schönst Stift der Welt.
Slim Amamou, 33, ist Tunesiens bekanntester Blogger. Er saß wegen Regimekritik im Gefängnis und ist eine Woche nach seiner Entlassung im Januar 2011 als neuer Staatssekretär für Jugend und Sport in die Übergangsregierung berufen worden, in der er sich vor allem um Jugendthemen kümmert. Er kämpft für neue Technologien und ein kostenloses öffentliches Internet.
Auf Einladung von Reporter ohne Grenzen und des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger war Slim Amamou Anfang Mai zu Besuch in Berlin. Er lebt in Tunis, ist geschieden und Vater eines 4-jährigen Sohnes. ML