Das Individuum im Weltlauf

Lauschangriff Mozarts letzte Klavierkonzerte: Die Pianistin-Dirigentin Mitsuko Uchida interpretiert sie nicht als "Konzert für Orchester und Klavier", sondern "für Klavier und Orchester"

Mozarts Hauptwerk auf dem Gebiet rein instrumentaler Musik sind seine zwölf letzten Klavierkonzerte. Er hatte endlich in Wien Fuß gefasst und meinte dort ein Publikum vorzufinden, vor dem er seine Kraft einmal richtig würde entfalten können. So schrieb er zehn der zwölf Konzerte in schneller Folge, zwischen 1784 und 1786, lauter unwahrscheinliche, dabei sehr verschiedene Wunderwerke. Aber das Publikum war irritiert, zumal Mozart seine Kühnheit von Konzert zu Konzert steigerte, und wandte sich von dem eigenartigen Menschen ab. Das führte zu Mozarts Verarmung, die seinen frühen Tod mit verursachte.

Aus dieser Ereignisfolge, die einen schon betroffen macht, noch ehe man die Musik kennt, hat die viel gerühmte Pianistin Mitsuko Uchida zwei Hauptstücke herausgegriffen: das erste der beiden Moll-Konzerte (Nr. 20 in d-moll) und das letzte Konzert überhaupt (Nr. 27 in B-Dur), das Mozart schrieb, als er schon wusste, dass das Publikum ihn verlassen hatte. Uchida spielt diese Konzerte nicht nur, sondern dirigiert sie auch vom Piano aus – in einem Live-Mitschnitt, Cleveland April 2010 –, und man fragt sich, was man mehr bewundern soll, ihr Dirigieren oder ihr Spiel.

Man wird sich dessen bewusst, dass ein Klavierkonzert meistens nicht, wie es sein müsste, als Konzert „für Klavier und Orchester“ geboten wird, sondern umgekehrt: „für Orchester und Klavier“. Der Dirigent interpretiert die Partitur, der Pianist fügt sich ein, man erlebt die Spannung der beiden Persönlichkeiten und meint, sie sei es – als Spannung zwischen Individuum (Pianist) und Weltlauf (dirigiertes Orchester) –, die dem Komponisten als Botschaft vorgeschwebt haben müsse. Uchida indes macht hörbar, wie der Weltlauf mit dem Bewusstsein des Individuums zusammenfällt, sich in ihm erst konstituiert. Das Individuum streitet mit sich selbst, wenn es mit dem Weltlauf streitet. Da gibt es Stellen, wo Klavierton und etwa eine Holzbläserbegleitung zum Wagner’schen „Mischklang“ zu verschmelzen scheinen.

Rezitativ ohne Worte

Das d-moll-Konzert wird oft in klassischer Distanz zur Düsternis seiner Aussage geboten: als ob man diese mit Fassung tragen und die Grazie dennoch nicht verlieren soll. Das ist nicht Uchidas Stil, es bricht stattdessen der Beethoven’sche Gestus durch, der mindestens so romantisch wie klassisch ist. Das mag sich daraus erklären, dass Beethoven für dieses Konzert die Kadenzen (pianistische ad-libitum-Passagen) geschrieben hat. Uchida spielt es aus der Sicht der Kadenzen. Da hört der erste Satz auf, ein elegisches Auf- und Niederfließen zu sein, und wird zum Dokument des Schicksals, wie es an die Pforte pocht. Als Dirigentin hebt sie mit ungewöhnlicher Härte die ersten Taktschläge hervor, immer auf einem Ton und Grundton, sodass alles, was sich musikalisch noch ereignet, wie der chancenlose Versuch einer Domestizierung des Schicksals klingt.

Bei dem anderen Konzert betont sie das Rätsel, das Mozart für sich selbst geworden sein muss. Sie spielt eine fragende Musik, die häufig zu ersterben droht und sich doch fortsetzt. Als Dirigentin bringt sie dunkle Streicherfiguren an die Oberfläche, die man sonst nicht hört, und interpretiert manche Tonfolge, die man für bloße Überleitung hält, als Rezitativ ohne Worte, sodass die Musik zu sprechen beginnt. Auch Mozarts verwickelter „Strukturklang“ (Polyfonie rhythmischer Figuren) wird durchsichtig. Uchida bleibt nichts schuldig; sie ist noch mehr als eine große, ungewöhnlich ausdrucksstarke Pianistin.

Mitsuko UchidaThe Cleveland Orchestra Mozart, Piano Concertos No. 20, K 466, & No. 27, K 595, DECCA 2011

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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