Im Sog des Augenblicks

Gastkommentar Obamas Visionen und die Skepsis der Moderne

Kaum stand Barack Obamas Wahlsieg vor gut einer Woche fest, schien nur noch zu zählen: Was wird er nun machen, um das versprochene andere Amerika zu schaffen? Welchen Wandel wird es geben?

Aber hat Obama nicht schon mit der landesweit und über die Grenzen hinaus erweckten Begeisterung einen wichtigen Schritt getan? Oder muss er erst in der Tatwelt glaubhaft machen, was ihn beseelt? Es ist die typische Skepsis der Moderne: Wirklich ist erst, was gemacht wird. Schöne Träume gehören ins Feuilleton.

Doch erinnere man sich an Immanuel Kant, der lange kein Gefühl neben der nüchternen Pflichterfüllung nach dem Sittengesetz als moralischen Beweggrund anerkennen wollte. Die Kritik der praktischen Vernunft war schon geschrieben, da entdeckte der 74-Jährige in der Begeisterung für die Ideen der Französische Revolution von 1789, die bis weit in die Nachbarländer hinein ausstrahlte, dass "wahrer Enthusiasmus nur immer aufs Idealische und zwar aufs rein Moralische geht". Also beweise dieser Enthusiasmus "in den Gemütern der Zuschauer" allein schon ein Vermögen des Menschengeschlechtes, zum Besseren voranzuschreiten, unabhängig von dem aktuellen Erfolg oder Misserfolg der Revolution.

Könnte man aus der Begeisterung für Barack Obamas optimistische Visionen nicht ähnliche Ermutigung schöpfen? Kommt hier nicht auch etwas von dem "wahren Enthusiasmus", den Kant meinte, zum Vorschein - im Gegensatz zu dem Furor der gewaltträchtigen Rattenfänger-Szenarien des 20. Jahrhunderts?

Obamas Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten bedeutet doch bereits einen großen Triumph für die Menschheit, den Martin Luther King noch vor Jahrzehnten nur erträumen konnte. Es ist ein erster Schritt der Amerikaner auf dem Wege zur Überwindung der fundamentalistischen Spaltungen in der Welt, die bis in die jüngste Geschichte hinein Unterdrückung, Terror und Kriege ausgelöst haben.

Der Moment ist gekommen, die von George W. Bush hinterlassenen indirekten Komplizenschaften von kriegerischem und fundamentalistischem Terror zu stoppen und alle Kräfte zur Überwindung der echten globalen Bedrohungen zu bündeln - gegen Hunger, Klimakatastrophe, Finanz- und Weltwirtschaftskrise, ungerechte Globalisierung und Atomwaffen-Politik.

Dabei geht es um ein anderes und besseres Machen, aber dieses braucht ein neues Denken, wie es Michail Gorbatschow auf einem großen Friedensforum im Jahr 1987 beschrieb: "Uns alle vereint die Gefahr eines nuklearen Todes, einer ökologischen Katastrophe und eines globalen Ausbruchs der Widersprüche zwischen Armut und Reichtum in den verschiedenen Teilen der Welt ... Deshalb müssen wir trotz aller zwischen uns bestehenden Gegensätze lernen, uns als eine große Familie zu begreifen und entsprechend zu handeln."

Momentan hört es sich so an, als habe Barack Obama diese große Familie im Auge. Die 200.000, die vor einigen Wochen in Berlin vor der Siegessäule "we can" riefen, fühlten sich jedenfalls mitgemeint. Doch zunächst müssen die, die Obama gewählt haben, ihr eigenes "we can" einlösen.

Horst-Eberhard Richter ist Psychoanalytiker und Buchautor

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