IM GESPRÄCH Thomas Kuczynski, Autor einer im Auftrag der Anwälte erstellten Studie, geht von einer Entschädigungssumme für ehemalige Zwangsarbeiter von 180 Milliarden Mark aus
FREITAG: Die Stiftungsinitiative zur "Entschädigung der Zwangsarbeiter" ist mit dem Zusatz "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" versehen. Wie genau erinnert sich die deutsche Industrie, wie ernst ist es ihr mit Veranwortung, und wieviel tut sie für die Zukunft?
Thomas Kuczynski: Sie erinnert sich ungenau, sonst hätte Herr Lambsdorff meine Zahlen durchchecken lassen, bevor er sie an zweifelt. Zur Verantwortung hat der deutsche Botschafter in den USA einen mehrseitigen Brief an das Außenministerium geschickt, in dem er sagt, wenn die Bundesregierung, wenn die deutsche Industrie sich weiterhin so stockend in dieser Frage bewegten, wie zur Zeit, werde es auf dem amerikanischen Markt eng.
Sie haben im Auftrag der Bremer Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhundert
geschichte des 20. Jahrhunderts und der Opfer-Anwälte ein Gutachten zum Umfang von Zwangsarbeit in Deutschland erstellt. Auf welchen Materialien fußt es?Die Firmenarchive sind nach wie vor geschlossen. Nicht anders als in den achtziger Jahren, als ein Kollege für eine Studie über 40 Anfragen an Unternehmen richtete und nur Absagen bekam. Diese naheliegenden Quellen sind also nicht nutzbar. Ich habe mit den statistischen Jahrbüchern gearbeitet, aus denen hervorgeht, wieviel deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter wieviel verdienten, sehr detailliert teilweise, welche Abstufungen bei der Bezahlung der Zwangsarbeiter vorgenommen wurden, was an Steuern erhoben wurde und wieviele Kriegsgefangene, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter überhaupt beschäftigt wurden. Die Daten des Generalbevollmächtigten für den Zwangsarbeitseinsatz, Fritz Sauckel, sind vollständig publiziert, sie mussten nur geprüft und zusammengestellt werden. Ein sowjetischer Kriegsgefangener erhielt pro Tag 20 Pfennige, ein Ostarbeiter im Monat 73,- Mark. Der deutsche Facharbeiter immerhin 180,- Mark. Aus der Differenz ließ sich der massive Gewinn berechnen.Wieviele Anspruchsberechtigte gibt es nach Ihrer Meinung?Darum habe ich mich nicht gekümmert. Die Zahlen schwanken zwischen 1,5 und 2,5 Millionen. Ich bin von der Gesamtzahl der Zwangsarbeiter ausgegangen, die als Häftlinge, Kriegsgefangene, Internierte in die Wirtschaft integriert waren, denn die Veranwortlichen dürfen nicht auch noch dafür belohnt werden, dass die Rechnung "Vernichtung durch Arbeit" fast aufgegangen ist.Würden Sie die Ansprüche ganz generell auch Nachkommen zubilligen?Inwiefern Erbschaftsansprüche bestehen, ist diskussionswürdig, im Zentrum der Debatte sollte das nicht stehen. Es geht zuerst einmal um die, die heute noch leben. Zweitens aber ist die Stiftungsinitiative so angelegt, dass sie aus einem Fonds besteht, aus dem die Berechtigten Zahlungen erhalten, und einem für Zukunftsprojekte. Wie der Projektfonds verwendet wird, wäre nicht das primäre Problem.Spielen rechtliche Überlegungen bei Ihnen überhaupt eine Rolle oder gehen Sie nur von den volkswirtschaftlichen Gewinnen aus?Ich habe ausschließlich Einnahmen der Staatskassen und Gewinne der Unternehmen untersucht. Das ist nach meiner Überzeugung die adäquate Grundlage der Entschädigungsansprüche. Gäbe es die Differenz zwischen den Löhnen von Zwangsarbeitern und deutschen Arbeitern nicht, bliebe zwar die historische-moralische Veranwortung, aber keine finanzielle Schuld. Diese Differenz ergibt in der Addition 16,23 Milliarden Reichsmark. Dabei bewege ich mich am unteren Rand. Da ich die in der Literatur vorhandenen Auffassungen nicht entscheiden konnte - die einen sprechen davon, dass westeuropäische Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft bezahlt worden sind wie polnische, andere sagen, Diskriminierungen ja, aber bezahlt wurden sie wie die deutschen -, bin ich davon ausgegangen, sie haben den Lohn der Deutschen bekommen. In dubio pro reo. Ihre Zahl war relativ klein. Anders liegt der Fall bei polnischen Zwangsarbeitern. Herr Lambsdorff sieht deren Bedingungen ja ziemlich paradiesisch und will sie aus dem allgemeinen Topf abspeisen. Für mich bleibt es allerdings ein gravierender Unterschied, ob sich einer freiwillig in die Arbeitsimmigration begibt oder - wie in den besetzten Gebieten - klaren Festlegungen unterlag: Wer sich der Arbeit verweigerte, kam ins KZ. Wenn ich die Wahl habe, entweder ausgeraubt oder getötet zu werden, dann ist die Entscheidung ja wohl klar.Der Anstoß zur Entlohnung von Zwangsarbeit kommt aus den USA, nicht aus Osteuropa ... Warum?Ich befürchte, das hängt mit der Existenz des Eisernen Vorhangs zusammen, da interessierte sich niemand für Ansprüche osteuropäischer Arbeiter. Die haben die Initiative der amerikanischen Emigranten dankbar aufgenommen und nun eigene Organisationen beauftragt.Wie groß waren die Vorteile jener Industriebetriebe, die Zwangsarbeiter beschäftigten, für den Neubeginn nach 1945?Ganz außerordentlich, würde ich denken. Auch wenn ich ihn nicht genau beziffern kann. KZ-Häftlinge haben die Produktionsanlagen und Ausrüstungen unter die Erde verlegt, 1943 bis 45 ist so ziemlich alles unter der Erde gebaut worden. Die Belegschaften zum Beispiel von Flugzeugwerken bestanden zu 80 Prozent aus Zwangsarbeitern. Sie sicherten einen nicht unbeträchtlicher Teil des Kapitalstocks für die Nachkriegszeit.In der Debatte darüber, wer sich am Fonds beteiligt, verweisen einige, zum Teil exportstarke Betriebe darauf (unter anderen Schering), dass ihre Zwangsarbeiter "gut behandelt" und angemessen bezahlt worden seien. Gab es Unterschiede?Es hat sicher nicht nur "Schindlers Liste" gegeben, sondern noch den einen oder anderen Schindler dazu. Nach allem, was ich aus der Literatur kenne, sind das bei den meisten aber Schutzbehauptungen, alle Firmen, die so argumentieren, sollten ihre Archive öffnen. Grundsätzlich hat der faschistische Gesetzgeber gleiche Bezahlung untersagt. Ostarbeiter hatten den Grundlohn zu erhalten. Ich berücksichtige in dem Gutachten, dass sich das ab Frühjahr 44 ein wenig verändert hat. Da bekamen sie den Status der polnischen Zwangsarbeiter, immer noch erbärmlich genug. Ein zusätzlicher Gewinn entstand in jedem Falle und der wurde auch nicht abgeführt. Der Lohn deutscher Arbeiterinnen und Arbeiter lag zu dieser Zeit um 27 Prozent über dem Tariflohn. Daraus ergab sich der spezifische Gewinn.Wie hoch beziffern Sie ihn, gemessen an heutigen Wertmaßstäben, im Verhältnis zum Firmenvermögen insgesamt?Die errechneten 16,23 Milliarden Reichsmark lassen sich auf verschiedene Weise in deutsche Mark umrechnen. Der Lohnindex steht bei knapp 1:22, dann käme man auf 350 Milliarden. Das wäre meiner Meinung nach zu hoch, weil der Lebensstandard der Gegenwart für die Kriegszeit gelten würde. Beim Lebenshaltungsindex käme man auf 1: 5,64, also 91,5 Milliarden, dann würden man auf dem Niveau des Kriegsstandards entschädigen, was auch ungerecht wäre, weil mit den Gewinnen von damals ja profitabel gewirtschaftet wurde. Meine Kompromissvariante sind 180 Milliarden. Wenn sie diese Summe in aktuelle Relationen setzen wollen - die Übernahme von Mannesmann wird zur Zeit mit 240 Milliarden gehandelt, für die Rettung des Holzmann-Konzerns waren drei Milliarden im Gespräch. Laut statistischem Jahrbuch betragen die Gewinne der Industrie 880 Milliarden Mark pro Jahr.Im Moment beteiligen sich 60 von 20.000. Firmen, zweieinhalbtausend sind publiziert worden. Schon 1949. Die deutsche Bahn-AG zum Beispiel, die als Deutsche Reichsbahn etwa eine Viertelmillion Zwangsarbeiter beschäftigte, sieht keine Veranlassung, sich zu engagieren ...Aber es geht um Wiedergutmachung für die Opfer ...Es geht um die Vermeidung von größeren Schwierigkeiten für die deutsche Industrie. Das Gros rechnet und sagt, das können wir uns leisten oder das müssen wir uns leisten. Der Direktor des Historischen Instituts der Deutschen Bank, Manfred Pohl, hat der FAZ ein Interview gegeben, in dem er einerseits klar feststellt, es gab 8 bis 12 Millionen Zwangsarbeiter, davon 400.000 bis 600.000 Juden, also etwa fünf Prozent. Andererseits warnt er vor einem erneuerten Antisemitismus, wenn die Forderungen weiter so gestellt würden. Anstatt die Gegenposition einzunehmen und zu erklären, 95 Prozent aller Anspruchsberechtigten sind Russen, Ukrainer, Polen, Griechen, Niederländer, Franzosen - aus allen überfallenen Ländern Europas. Dass trotzdem die Rede von jüdischen Anwälten und jüdischen Forderungen ist - das ist bereits Antisemitismus.Das Gespräch führte Regina General
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