Verhärtete Fronten

Leseprobe Kritiker beschwören die Disparität tödlicher ‚Hilfe‘ mit dem ärztlichen Ethos und fürchten Ausweitungen auf Personen, die nicht krank, aber lebensmüde sind. Doch lässt man sterbewillige Patienten mit dieser Tabuisierung nicht unmenschlichst alleine?
Verhärtete Fronten

Foto: Christopher Furlong/Getty Images

1. Einstimmung

Diese Abhandlung ist eine knappe Schrift zur Verteidigung von Suizidhilfe. Ihre Argumentation wird auf rechtspolitischer, arztethischer, vor allem aber moraltheoretischer Ebene entwickelt.

Suizidhilfe ist (noch immer) so umstritten, dass es sich lohnt, ihre Befürwortung systematisch zu begründen. Denn aus der hier vertretenen Sicht geht es nicht nur um theoretische Meinungsverschiedenheiten, sondern auch um gravierende praktische Folgen: um Tabuisierungen und Verbote, die Leid verursachen und moralische Rechte verletzen.

Die Frage danach, wie Unterstützung bei der Verwirklichung eines Suizidwunsches ethisch zu beurteilen und rechtspolitisch zu regeln ist, berührt zahlreiche Aspekte menschlichen Lebens und Zusammenlebens : unser Verhältnis zum Tod, unsere Vorstellungen von einem gelingenden Leben, die Rolle und Verantwortung von Nahestehenden, Ärzten* und Gesellschaft gegenüber Sterbewilligen und nicht zuletzt Bedeutung und Grenzen individueller Selbstbestimmung. Sie berührt überdies Grundfragen ethischer und rechtsphilosophischer Rechtfertigung und Differenzierung. Sehr vieles von dem kann im Folgenden nicht tiefergehend behandelt werden. Aber keinesfalls kann man die Problematik von Suizidhilfe losgelöst von anderen (im Vergleich gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptierten) Formen von Sterbehilfe betrachten – und auch nicht losgelöst davon, unter welchen sozialen, politischen, medizinischen Rahmenbedingungen wir gegenwärtig leben : daher die Breite der Titelfrage, deren »wir« uns als Gesellschaft anspricht.

Zwischen Beginn und Fertigstellung dieses Textes hat ein wichtiges Ereignis gewiss nicht nur meinen Blick auf seine Thematik deutlich verändert – nämlich das Suizidhilfe-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020. Dieses Urteil erklärt die Neukriminalisierung »geschäftsmäßiger« Suizidhilfe für nichtig, die der Deutsche Bundestag gut vier Jahre zuvor verabschiedet hatte. Was wie ein Randdetail der Rechtspolitik aussehen mag, ist in Wahrheit ein regelrecht epochales Urteil. Es konstatiert nämlich einen grundrechtlichen Anspruch freiverantwortlich handelnder Bürger, selbstbestimmt über ein Beenden ihres Lebens zu entscheiden. Dazu gehöre auch das Recht, angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen, und zwar nach einschlägigen Passagen des Urteils ohne Bindung an bestimmte Beweggründe und Situationen wie etwa das Leiden an unheilbarer Krankheit. Damit buchstabiert das Gericht ein moralisches Neutralitätsgebot staatlichen Rechts im Zusammenhang von Suizidhilfe aus und setzt einen auch in internationaler Hinsicht bemerkenswert liberalen rechtspolitischen Akzent, der sich auf die deutsche Suizidhilfe-Realität deutlich auswirken wird.

Allerdings erhob sich schon wenige Tage nach der Verkündung des Urteils neben vielen zustimmenden Kommentaren deutschlandweit auch ein Sturm der Empörung über die angebliche Verherrlichung von Selbstbestimmung auf Kosten von Lebensschutz und Menschlichkeit. Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrats etwa sprach von einem »völlig überhöhten Autonomiebegriff«, demgegenüber Lebensschutz nichts mehr wiege (Dabrock 2020). Vor diesem Hintergrund also und weil der Gesetzgeber nun neue Suizidhilfe-Regelungen formulieren wird, möchten die im Folgenden dargelegten Überlegungen einen Diskussionsbeitrag leisten.

Wichtiger noch ist ein anderer Aspekt : Liberale Ethiker haben seit Jahrzehnten dagegen gekämpft, dass sterbewillige Schwerstkranke zum Weiterleben faktisch gezwungen wurden, weil man ihnen mit ethischen Tabuisierungen, Rechtsverboten und Praxishürden die Möglichkeiten eines erträglich gestalteten absichtlichen Sterbens nahm. Durch das nun erfolgte radikale Einreißen besagter Barrikaden auf verfassungsrechtlicher Ebene wird dieser Kampf, zumindest für Deutschland und seine Sterberegelungen, rechtspolitisch zu einem Teil unnötig. Stattdessen wird die liberale Rechts- und Bioethik ihre Blicke unter anderem darauf konzentrieren müssen, wie genau wir moralisch und rechtspolitisch mit der Unterstützung von freiverantwortlichen Suiziden ohne akute schwerste Krankheit – etwa von Präventiv- und Hinfälligkeitssuiziden – umgehen sollen, deren Unterstützung das Verfassungsgericht ebenfalls für prinzipiell geschützt hält.

Nach diesen Vorbemerkungen nun ein Ausblick auf die Choreographie der Abhandlung: Ihre zentrale These ist die Zulässigkeit von Hilfe bei freiverantwortlichen Suiziden auf moralischer wie rechtspolitischer Ebene – vorrangig zur Abkürzung einer als zu qualvoll erlebten letzten Lebensphase bei schwerer Krankheit ; aber auch, wenn der Betroffene dem Fortschreiten einer bestehenden Demenzerkrankung zuvorkommen oder ein subjektiv allzu belastend und mühsam gewordenes Altern nicht fortsetzen möchte.

Das nachfolgende zweite Kapitel soll Rüstzeug für die Beantwortung der Titelfrage liefern. Dabei geht es um begriffliche Unterscheidungen sowie um rechtliche Regelungen und gesellschaftliche Bewertungen in kursorischem Überblick. Vor allem aber werden einige ethische Grundprämissen erläutert, die den von mir für plausibel befundenen Zugang zur Sterbehilfe-Debatte prägen.

Das dritte Kapitel behandelt die subjektiven Beweggründe von Sterbewilligen und die Beurteilung ihres Todeswunsches von außen. Dabei geht es zunächst um das zentrale und standardmäßige Kriterium der Freiverantwortlichkeit. Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass zusätzliche Fragen der subjektiven und objektiven Nachvollziehbarkeit auch für liberale Positionen eine zu klärende Rolle spielen.

Das vierte Kapitel diskutiert eine Reihe prominenter Einschränkungsargumente in der Debatte um Sterbehilfe-Legitimität. Einige von ihnen – unter anderem ein kruder Zulässigkeitsbonus für das Sterbenlassen, die unterstellte Bedauerlichkeit jedes Suizids oder die Unvereinbarkeit von Suizidhilfe mit dem ärztlichen Ethos – werden zurückgewiesen ; andere zumindest deutlich relativiert.

So gewappnet, diskutiert und bewertet das fünfte Kapitel die diversen strittigen Varianten bzw. Kontexte von Sterbehilfe : vom begleiteten Sterbefasten über Suizidhilfe jenseits von Krankheit bis hin zur aktiven Sterbehilfe. Auch wenn aktive Sterbehilfe in Deutschland schon wegen der dunklen Schatten der nationalsozialistischen Massenmorde politisch indiskutabel ist, muss eine systematische Abhandlung zur Sterbehilfe-Ethik auch dazu Stellung nehmen.

Meine Agenda kann im Rahmen dieser Reihe nur in engen Umrissen ausgeführt werden. Da die Literatur zur Sterbehilfe- Ethik außerordentlich umfangreich ist, stehe ich mit meinen Argumenten auf vielen Schultern und kann längst nicht allen kritischen Einwänden gegen die von mir vertretene Position begegnen. Im Vordergrund meiner Überlegungen steht zudem das Bemühen um eine kohärente moralphilosophische Argumentationslinie, die den Verästelungen in (durchaus wichtige) Spezialdebatten nicht nachgehen kann. So beschränke ich mich auf Suizid-/Sterbehilfe bei einwilligungsfähigen Patienten und klammere etwa Sterbehilfe auf der Basis von Patientenverfügungen, Grenzziehungen in der Psychiatrie oder bei Kindern gänzlich aus. Auch zur Sedierung am Lebensende äußere ich mich nicht und auch nicht zu kultur- und philosophiehistorischen Aspekten des Todes von eigener Hand. Wie eingangs betont: Diese Abhandlung kann nur eine knappe philosophische Verteidigungsschrift sein.

Und noch eine letzte Vorbemerkung: Jeder, der über heikle Fragen praxisrelevanter Ethik schreibt, wird sich bewusst, damit vielleicht ein wenig Mitverantwortung für die Wirklichkeit von morgen auf seine Schultern zu laden – und sei diese Verantwortung noch so begrenzt und indirekt. Im Hintergrund des hier behandelten Themas stehen zwei gegenläufige Zukunftssorgen : die Freiheitssorge, dass selbstbestimmtes Sterbendürfen (noch immer) zu schwer gemacht werden könnte, und die Wohlergehenssorge, dass wir die gesellschaftliche Aufgabe nicht ernst genug nehmen könnten, das Weiterleben im Angesicht von Krankheit und Altern subjektiv so lebenswert wie möglich zu machen.**

* Im Folgenden verwende ich, um der besseren Lesbarkeit willen, zumeist das generische Maskulinum und spreche also von Ärzten und Patienten. Dabei sind jedoch Personen aller Geschlechter gemeint.

** Für viele und wichtige kritische Anmerkungen, Ratschläge und Lektoratshinweise danke ich aus meinem wunderbaren Münsteraner Team : Daniel Friedrich, Chiara Junker, Bettina Milke, Jan-Ole Reichardt, Carolina Schmitt und Silke Tandetzki; meinen Kollegen Dieter Birnbacher, Wolfgang van den Daele, Stefan Huster, Thomas Gutmann, Peter Schaber und Christian Walther sowie – für ihrer beider besonderes Engagement – Thomas Grundmann als Herausgeber und Franziska Remeika vom Verlag J. B. Metzler – und nicht zuletzt meiner geduldigen Familie.

2. Sterbehilfe Ethik – Eine erste Landkarte

Was fällt begrifflich unter Sterbehilfe ? Welche Motive und Varianten lassen sich unterscheiden ? Wie wird Sterbehilfe in Deutschland und anderswo rechtlich gehandhabt und gesellschaftlich beurteilt ? Und nicht zuletzt : Aus welcher ethischen Perspektive wird in dem hier vorliegenden Buch argumentiert und was sind ihre wesentlichen Leitprinzipien ? Um solche Rahmenfragen geht es im Folgenden.

2.1 Im Zentrum der ethischen Debatte: Suizidhilfe

Heutzutage müsste kein Patient auf dem Sterbebett Schmerzen leiden, weil das einzig wirksame Medikament seinen Tod um einige Stunden beschleunigen würde. Und niemand darf mit medizinischen Mitteln gegen seinen Willen am Leben erhalten werden. Doch darüber hinaus, wenn es um Suizidhilfe (oder auch aktive Sterbehilfe) geht, wird es ethisch strittig und faktisch restriktiv: Sterbewillige Patienten werden zum Weiterleben genötigt, weil sie eine Selbsttötung alleine nicht bewerkstelligen können, oder dazu, einen einsamen und brutalen Suizid zu begehen. Ist das, ethisch gesehen, richtig geregelt? Nachfolgend drei illustrierende reale Fallbeispiele:

Fall #1 Urban Grill:

Der Journalist und Autor Bartholomäus Grill hat 2005 in der ZEIT geschildert, warum und wie sich sein damals 46-jähriger Bruder Urban im Jahr zuvor in der Schweiz beim Suizid hatte helfen lassen (Grill 2005). Dieser behutsame, taktund liebevolle Nachruf, auf ausdrückliche Bitte des Toten hin geschrieben, wird auf wenige Leser treffen, die Urban Grills Entscheidung nicht nachvollziehen können. Acht Monate vor seinem Suizid war bei dem Bruder ein fortgeschrittener Mundhöhlenkrebs diagnostiziert worden; es folgten Operationen, Bestrahlung, Chemotherapie – Torturen, die den Krebs nicht am raschen Weiterwuchern hindern konnten. Abmagerung, kein Geschmackssinn mehr, Probleme beim Schlucken, Erstickungsanfälle und Schmerzen. Palliativmedizin, sorgende Freunde und eine liebende Familie. Und dann die schon Monate vorher als Notausgang ins Auge gefasste Reise in die Schweiz, »weil ihm die unheilbare Krankheit keinen Ausweg mehr lässt. Er hat gute Gründe, er hat die besten Gründe.« Dass er diese abkürzende Hilfe nicht zuhause erhalten konnte, dass seine Ärzte ihn kalt hatten abblitzen lassen, fand er falsch und entwürdigend. »Könnte ich nur daheim sterben!« Der zu Tränen rührende Bericht endet mit dem lakonischen Satz: »Über die letzte Reise Urbans ist bis zum heutigen Tag kein einziges böses Wort in der katholischen Heimatgemeinde bekannt geworden.«

Fall #2 Udo Reiter:

Der bekannte Journalist und ehemalige Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks hat sich Ende 2014 als 70-Jähriger erschossen. Reiter, der nach einem Unfall in jungen Jahren querschnittsgelähmt war, gehörte zu den Verfechtern eines Rechts auf Suizidhilfe. In einem zu Beginn seines Todesjahrs veröffentlichten Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung formulierte er drastisch: »Es geht um Menschen, die nicht todkrank sind, aber in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, sei es, weil sie wie Küng den Verlust ihrer Persönlichkeit im Altwerden nicht erleben wollen, sei es, weil sie einfach genug haben und, wie es im ersten Buch Moses heißt, ›lebenssatt‹ sind. Diese Menschen werden in unserer Gesellschaft alleingelassen. Sie müssen sich ihr Ende quasi in Handarbeit selbst organisieren. Das kann nicht so bleiben. Für diese Menschen muss es Notausgänge geben, durch die sie in Würde und ohne sinnlose Qualen gehen können. Ich möchte das an meinem Beispiel deutlich machen. Ich sitze seit 47 Jahren im Rollstuhl und habe trotzdem ein schönes und selbstbestimmtes Leben geführt. Irgendwann wird es zu Ende gehen. Aber wie? Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. Ich möchte mir nicht den Nahrungsersatz mit Kanülen oben einfüllen und die Exkremente mit Gummihandschuhen unten wieder herausholen lassen. Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will, ohne Bevormundung durch einen Bischof, Ärztepräsidenten oder Bundestagsabgeordneten. Und wenn ich das entschieden habe, möchte ich mich ungern vor einen Zug rollen oder mir, wie das verschiedentlich empfohlen wird, eine Plastiktüte über den Kopf ziehen, bis ich ersticke. Ich möchte auch nicht in die Schweiz fahren und mich dort auf einem Parkplatz oder in einem Hotelzimmer von Mitarbeitern der Sterbehilfe Exit einschläfern lassen. Ich möchte bei mir zu Hause, wo ich gelebt habe und glücklich war, einen Cocktail einnehmen, der gut schmeckt und mich dann sanft einschlafen lässt.« (Reiter 2014) In Reiters in Auszügen öffentlich verlesenem Abschiedsbrief hieß es: »Nach fast 50 Jahren im Rollstuhl haben meine körperlichen Kräfte in den letzten Monaten so rapide abgenommen, dass ich demnächst mit dem völligen Verlust meiner bisherigen Selbständigkeit rechnen muss [...]. Parallel dazu beobachte ich auch ein Nachlassen meiner geistigen Fähigkeiten, das wohl kürzer [sic] oder später in einer Demenz enden wird. Ich habe mehrfach erklärt, dass ein solcher Zustand nicht meinem Bild von mir selbst entspricht und dass ich nach einem trotz Rollstuhl selbstbestimmten Leben nicht als ein von Anderen abhängiger Pflegefall enden möchte. Aus diesem Grund werde ich meinem Leben jetzt selbst ein Ende setzen.« (Tolmein 2014)

Reiters Position und Suizid stießen damals auf sehr gespaltene öffentliche Reaktionen (vgl. Müntefering 2014). Fall #3 André und Dorine Gorz:

Der renommierte jüdisch-österreichisch-französische Sozialphilosoph und Publizist, Mitbegründer des Nouvel Observateur, hat sich 2007 im Alter von 86 Jahren gemeinsam mit seiner schwerkranken Ehefrau Dorine getötet. Im Jahr zuvor hatte er in einem langen anrührenden Liebesbrief, dem in Deutschland wenige Tage vor dem Doppelsuizid veröffentlichten Brief an D, diesen Plan bereits anklingen lassen: Nicht allein wolle er seine jahrzehntelange Gefährtin gehen lassen, sondern gemeinsam mit ihr aus dem Leben scheiden. Da heißt es zu Beginn: »Du wirst zweiundachtzig. Du bist sechs Zentimeter kleiner geworden, du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je. Erst kürzlich habe ich mich erneut in dich verliebt, [...]« Und etwa achtzig Seiten später: »Ich will nicht bei Deiner Einäscherung dabei sein; ich will kein Gefäß mit Deiner Asche erhalten.« Und schließlich: »Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen.« (Gorz 2007, 5 und 83 f.)

Diese drei Fälle sind so gewählt, dass sie – zumindest als konkrete Einzelfälle – allesamt mit Respekt rechnen können, in unterschiedlichem Maße wohl auch mit Mitleid oder Zustimmung. Es sind Fälle, die veranschaulichen, worum es den Befürwortern von Suizidhilfe geht. Urban Grill musste dafür contre cœur in die Schweiz fahren, weil er keinen deutschen Arzt hatte, der ihm zu helfen bereit war. Udo Reiter musste sich mit einer Pistole erschießen, deren illegaler Besitz und rechter Gebrauch etlichen vergleichbar Verzweifelten nicht zuzumuten sein dürfte.

André Gorz schließlich muss jemanden gekannt haben, der ihm zu dem Gift verhalf, mit dem er und seine Frau sich das Leben nehmen konnten.

Manche Kritiker einer gesellschaftlich akzeptierten Suizidhilfe-Praxis tadeln das Argumentieren mit anrührenden Fallbeispielen, das von den Gefahren einer verallgemeinernden Regelung absehe und ablenke. Ich werde später darauf zurückkommen, da sich die Perspektiven auf Einzelfälle und auf eine ›Praxis‹ (verstanden als geregelter Umgang mit vielen Fällen) tatsächlich maßgeblich unterscheiden. Fürs Erste aber sollen die skizzierten Fälle lediglich als Ausgangsbasis dienen – zum einen, um die Stoßrichtung derer zu veranschaulichen, die Suizidhilfe unter bestimmten Umständen für ethisch zulässig oder sogar geboten halten (meine eigene Position) ; zum anderen, um anhand dieser Beispiele relevante Aspekte zu diskutieren, in denen sich Einzelfälle und verallgemeinernde Praxis-Bedingungen unterscheiden können.

Genau betrachtet haben die drei Beispielfälle indirekt mit den Entwicklungen der modernen Medizin zu tun, weil ihre Protagonisten länger und anders gelebt haben, als sie es in früheren Zeiten gekonnt hätten. Aber in keinem der drei Beispiele entsteht der Sterbewunsch gewissermaßen als Schattenseite der modernen Medizin. Im Gegenteil. Für viele Leidende liegt das anders, dann nämlich, wenn es um tödliche Entscheidungen in direktem Gefolge der modernen Medizin geht. Deren rasanter (und hoffentlich anhaltender) Fortschritt, wie wir ihn insbesondere seit den 1960er Jahren erleben, hat mit dem Einzug von Intensivmedizin, hochwirksamen Medikamenten und vielen anderen Eingriffsmöglichkeiten unzählige Leben gerettet, Krankheiten geheilt, Leiden gemildert. Zugleich allerdings trägt dieser Segen dazu bei, dass Patienten häufiger als früher in die Situation geraten, sich ihren eigenen Tod zu wünschen. So überleben viele Menschen nach Unfällen und Erkrankungen, an denen sie in früheren Zeiten gestorben wären, in einem körperlich oder geistig stark reduzierten Zustand. Zahlreiche Patienten erleben am Ende ihres Lebens Phasen des Leidens, des Siechtums, der krankheitsbedingten Eingeschränktheit und Pflegebedürftigkeit, wie sie unseren Urgroßeltern weitgehend fremd waren.

Außerdem wissen viele Kranke dank der heutzutage möglichen medizinischen Diagnostik und Prognostik, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leiden und welche Entwicklungen diese Erkrankung im besten wie im schlechtesten Falle nehmen kann.

Sterbewünsche, die unter solchen Umständen gebildet werden, können sich entweder auf Sterbehilfe durch Abbrechen oder Nicht-Aufnehmen lebenserhaltender Behandlungen – (s. Kap. 2.2) – richten. Oder, bei Menschen, deren Leben nicht an den sprichwörtlichen Schläuchen hängt, auf das Töten von eigener oder fremder Hand (Suizidoder ›aktive‹ Sterbehilfe). Im ersten Fall können die betroffenen Patienten für ihre Entscheidung zwei deutlich unterschiedliche Motive haben : Entweder erachten sie die konkrete Behandlung wegen ihres Aufwands oder ihrer Nebenwirkungen als zu belastend. Oder sie wünschen ihren Tod, weil ihr Leben mit Kontrolloder Partizipationsverlusten, Schmerzen, Funktionseinschränkungen oder auch vermeintlichen Zumutungen für Dritte einhergeht (oder einherzugehen droht), die sie nicht ertragen möchten.

Neben der zunehmenden Verfügbarkeit lebensverlängernder medizinischer Maßnahmen sind noch weitere Merkmale unserer modernen Gesellschaften mitursächlich dafür, dass mehr Menschen als früher angesichts von Krankheit und Alter ihr Sterben in die eigene Hand nehmen wollen. Hierzu gehören die massiv gestiegene Lebenserwartung und die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft. Aber auch der fortschreitende Wandel hin zu Kleinfamilien und großen Wohndistanzen zwischen nahestehenden Angehörigen – mit der Folge, dass in Deutschland etwa ein Viertel der Pflegebedürftigen ihr Lebensende in Heimen zubringen muss, in denen manche wohl lieber nicht wohnten oder lägen.

23.12.2020, 11:32

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