Von Ausnahmen und „Skandalen“

Leseprobe Das kapitalistische System lebt von der Ausbeutung menschlicher Arbeit und der Natur. Kann es sein, dass ausgerechnet ihm eine ungeheuerliche kriminelle Affinität eingeschrieben ist? Der Autor Herbert Storn geht dieser Frage in „Business Crime“ nach
Einer der größten Abhörskandale der Republik: 2008 flog die jahrelange Observierung von Aufsichtsräten, Funktionären und Journalisten durch die Telekom auf.
Einer der größten Abhörskandale der Republik: 2008 flog die jahrelange Observierung von Aufsichtsräten, Funktionären und Journalisten durch die Telekom auf.

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

»Dreckige Geschäfte – Höchste Zeit für ein hartes Durchgreifen gegen Finanzkriminalität« (FR)

»Fleischbranche – Großrazzia wegen illegaler Leiharbeit« (manager magazin)

»Banken weltweit, darunter auch die Deutsche Bank und die Commerzbank,waren in den vergangenen Jahren in großem Stil in Geldwäsche involviert«

»Mächtig unkontrolliert – die deutsche Finanzlobby« (der Freitag)

»Wenn die Miete auf den Cayman Islands landet: Die Wohnungslage in den Großstädten wird immer angespannter, auch wegen Großinvestoren. Die rech­ nen sich laut einer Studie nicht selten arm – und zahlen kaum Steuern.« (SZ)

»Geldwäsche: Nix sehen, nix hören, nix sagen – Auch schmutziges Geld sorgt für gute Geschäfte« (Zeit)

»25 Tote durch Wilke­Wurst? Skandal weitet sich wohl dramatisch aus – Staatsanwaltschaft ermittelt« (Merkur)

»Markus Braun bleibt im Gefängnis – Der unter Betrugsverdacht stehende ehemalige Wirecard­Chef muss weiter im Gefängnis bleiben« (FAZ)

»Werraversalzung: Ein Krimi aus der Hand eines Staatsanwalts« (FR) »Kali+Salz: Verfahren zwar eingestellt, aber in der Begründung erhebt dieStaatsanwaltschaft schwere Vorwürfe« (Hessenschau)

So lauten nur einige Headlines von Herbst 2020 bis zum Frühjahr 2021. Kriminelle Praktiken in der Wirtschaft tauchen fast ohne Unterbrechung in den Medien auf. Alles Einzelfälle, alles nur ›Skandale‹?Oder offenbaren solche Vorgänge eine tieferliegende kriminelle Struktur? Und gehört diese Struktur dann zu unserer Wirtschaftsordnung oder ist sie eine Art Fremdkörper, der vom Rechtsstaat zu bekämpfen ist? Oder beides?

Wie kommt es, dass der Staat so oft als Kontrollinstanz versagt? Oder versagt er gar nicht, weil er nicht alles kontrollieren will? Oder werden die kriminellen Praktiken vielleicht sogar in Kauf genommen, weil die Vorteile überwiegen? Welche Vorteile? Für wen? Und wie können Linke für diese Frage gewonnen werden, wenn sie ohnehin davon ausgehen, dass es das kapitalistische System ist, das von der Ausbeutung menschlicher Arbeit (und der Natur) lebt? Dem man also seine kriminelle Affinität gar nicht mehr nachweisen muss, so dass dann erst die Überwindung des kapitalistischen Systems eine Lösung verheißt. All diesen Aufgaben und Problemen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Anlass ist das 30-jährige Bestehen von Business Crime Control, eine Organisation, die sich diesen Fragen gestellt hat.Es kann mithin auf eine langjährige Expertise zurückgegriffen werden. Und es sind beileibe nicht nur theoretische Überlegungen. Denn im Raum stehen die wesentlichen Grundfragen: Haben wir (noch) einen Rechtsstaat, der seinen Namen auch verdient? Sind wir vor Willkür geschützt? Geht es gerecht zu?Dies sind existentielle Fragen, denn sie berühren Grundbedürfnisse des Menschen.

30 Jahre Business Crime Control (BCC)

Hans See ist diesen Fragen nach dem Systemcharakter von Wirtschaftskriminalität und ihrer strukturellen Überwindung sehr gründlich nachgegangen – sowohl theoretisch als auch praktisch-politisch, Letzteres durch die Gründung von Business Crime Control am 22. März 1991 in Hanau.

Das 30-jährige Jubiläum ist ein guter Anlass, die Überlegungen von damals, die zur Gründung von BCC führten, mit der zwischenzeitlichen Entwicklung abzugleichen und den Anspruch zu erneuern, Wirtschaftskriminalität aus ihrer randständigen Betrachtung herauszuholen und sie nicht mit Einzelgesetzen, sondern einem wirtschaftsdemokratischen Reformkonzept wirklich und ernsthaft zu überwinden. Diesen Anspruch hat auch dieses Buch.

Dazu wird an markanten, auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Beispielen der Systemcharakter herausgearbeitet, der in ebendieser Öffentlichkeit meist aber ausgeblendet wird. Ähnliches gilt für die Schäden, die weit über solche hinausgehen, die mit einem Geldbetrag zu beziffern sind. Sie reichen von der Schädigung der Umweltstruktur bis hin zur Beschädigung von sozialem Zusammenhalt und Demokratie.

Das Buch nimmt den Begriff der ›halbierten Demokratie‹ auf und dehnt diesen auf den Rechtsstaat aus, der Gefahr läuft, zunehmend einzelwirtschaftlichen Interessen unterworfen zu werden.Weil Analysen allein nicht weiterhelfen, werden Lösungsvorschläge in Form von Weichenstellungen vorgestellt, die dazu dienen sollten, in öffentlichen kritischen Diskursen erörtert zu werden. Solange diese von der Politik gemieden werden, brauchen wir uns über Populismus und Schlimmeres nicht zu wundern. Es wäre aber geradezu fatal, wenn immer erst Katastrophen uns zu besseren Einsichten führen müssten.

Wie aktuell die vorgetragenen Argumente sind, zeigt nicht zuletzt das Interview mit Hans See am Ende des Buches, in dem die letzten 30 Jahre noch einmal Revue passieren und die Botschaft erneuert wird.Hans See, ehemaliger Professor an der Fachhochschule Frankfurt am Main hat seit Anfang der 80er Jahre das klassische Analyseschema der antikapitalistischen Linken kritisch hinterfragt und sich dem von der Linken insgesamt vernachlässigten Problem der Wirtschaftskriminalität zugewandt. Als sein in dieser Zeit verfasstes Buch Kapital-Verbrechen kurz vor seinem Abschluss stand, brach die DDR unter dem Druck einer starken Protestbewegung zusammen. Daher konnte in dieses Buch auch noch ein Kapitel über die Wirtschaftskriminalität im real existierenden Sozialismus eingefügt werden.

Kurz nach der Wiedervereinigung (Beitritt der ehemaligen DDR) lernte See in einer Talkshow des Senders Freies Berlin einen ehemaligen Kriminaldirektor des Bundeskriminalamts, Dieter Schenk, kennen, mit dem er im März 1991 die erste gesamtdeutsche zivilgesellschaftliche Organisation der neuen Bundesrepublik gründete. Da sie als internationale Bürger- und Menschenrechtsorganisation geplant war, erhielt sie einen international verständlichen Namen: Business Crime Control (BCC).

Reflexionen über den Begriff ›Kapital-Verbrechen‹ nach Hans See

In den wissenschaftlichen Büchern von See, Kapital-Verbrechen (2. Auflage erschien als Taschenbuch nach der BCC-Gründung) und Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen, verwendet der Wirtschaftskriminologe den Begriff ›Kapital-Verbrechen‹. Mit der Schreibweise ist zwar klar angezeigt, dass er die von der Kapitalseite begangenen Gesetzesbrüche meint, aber die Denktradition und die offizielle Verwendung des Begriffs waren stärker, zumal sich der Gedankenstrich nicht sprechen lässt. Er sollte den bis dahin verwendeten Begriff ›White Collar Crime‹ (Weiße-Kragen-Kriminalität) von Sutherland ablösen, hat es aber nicht geschafft, obgleich er sogar einmal als SPIEGEL-Titel (ohne Hinweis auf Sees Buch, das im SPIEGEL besprochen worden war) verwendet und von Peter Sloterdijk (wie später noch einmal von Harald Lesch in einer seiner Fernsehsendungen) als besonders zutreffend gelobt und verwendet wurde.

Kapital-Verbrechen sind Wirtschaftsverbrechen

Der Begriff Business Crime sollte von Anfang an klarmachen, dass damit alle Geschäftsverbrechen gemeint sind. Und dass die Kriminalität der abhängig Beschäftigten (es sei denn, es handele sich um einen Manager mit Arbeitgeberfunktion) eine qualitativ andere ist.Es gab Gründe, die Kriminalität der Konzerne (und der Verantwortlichen in den Chefetagen, einschließlich der Aufsichtsräte und privaten Kontrollorgane) hervorzuheben, auch wenn damit die der kleinen Selbständigen und Mittelständler nicht verharmlost werden sollte. In den USA spricht man inzwischen von Corporate Crime, der Kriminalität der großen Kapital-Gesellschaften, der Konzerne. Und deren Dominanz, ja Hegemonie, konnte von BCC nicht länger durch das Ineinssetzung mit allen Geschäftsgrößen und Unternehmensformen überzeugend vermittelt und kritisiert werden. Der Begriff Business Crime bleibt von grundsätzlicher Bedeutung, vor allem für Staaten mit demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassung.

Denn hinter den Weltproblemen unserer Epoche – dem Klimawandel und der Umweltzerstörung, der sozialen Ungleichheit, dem Hunger, der globalen Armut, vielen längst heilbaren Krankheiten etc. – stehen nicht zuletzt Wirtschaftsverbrechen, was im Folgenden gezeigt wird.

Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität

In einem seiner ersten Vorträge nach Gründung von BCC ging Hans See auf das Anliegen des Vereins ein:

»BCC will vielmehr die Demokratiefrage – nachdem der Kalte Krieg gegen den Ostblock-Kommunismus gewonnen ist – ganz bewusst mit Blick auf die notwendige Kontrolle der Mächtigen der freien Wirtschaft und der globalen Wirtschaftsmacht ›Kapital‹ noch einmal neu stellen. (...) Dabei geht es um die sehr ernste Frage an die Verfechter einer freien Wirtschaft, ob sie diese für fähig halten, ihr also auch grundsätzlich zumuten wollen, sich den demokratischen Gesetzen einer kritischen und mündiger werdenden Gesellschaft, die mehr soziale Gerechtigkeit und einen wirksamen Umweltschutz fordert, so unterzuordnen, wie es von jedem Mitglied der Gesellschaft in einem Rechtsstaat verlangt werden kann.Es geht dabei auch um die immer wichtiger werdende Frage der Demokratiefähigkeit der freien Wirtschaft überhaupt. Denn noch verharrt in unserem Wirtschaftssystem die in Festreden durchaus auch von Unternehmern und deren Sprechern gelobte Demokratie vor den Fabriktoren.«

Die in Deutschland gesetzlich geregelte Mitbestimmung reiche hierfür nicht aus. Mit ihr könnten Wirtschaftsdelikte nicht verhindert werden.Nirgends ist das so deutlich geworden wie am Dieselabgasbetrug der großen Autokonzerne, die nicht nur über Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz und über Aufsichtsorgane mit Belegschaftsvertretern nach dem Mitbestimmungsgesetz verfügen, sondern – im Fall von Volkswagen – auch noch über staatliche Kontrolleure. Mehr traditionelle Mitbestimmung geht nicht!See beklagte die mit der bestehenden Mitbestimmung verbundene Kumpanei zwischen Kapital und Arbeit.

»Das organisierte Verbrechen hätte nur wenig Chancen, in die legale Wirtschaft einzudringen oder auf sie Einfluss zu gewinnen, wenn diese, das heißt das für sie verantwortliche Management, stärkerer öffentlicher, vor allem überbetrieblicher demokratischer Kontrolle ausgesetzt wäre.«

Denn die Polizei sei für Wirtschaftsverbrechen prinzipiell die falsche Adresse, weil sie damit schlicht überfordert sei. Bei Wirtschaftsverbrechen gehe es um strukturelle Probleme, um kriminelle Kapitalbeschaffung, -verwertung oder -sicherung.

Die schwierige legale Beschaffung von Kapital sei ein Motiv, es verbrecherisch zu erlangen. Unter stark erschwerten Bedingungen werde auch seine Verwertung immer sozialschädlicher und damit seine Sicherung – und sei es durch Etablierung kapitalhöriger Diktaturen – immer notwendiger.Und bei den Verbrechen gebe es jenseits des Strafrechts auch »Verbrechen in einem nicht justiziablen, in einem moralischen und gesellschaftspolitischen Sinne.«

»Wenn Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und Kapitalsicherung zwar legal, aber mit Hilfe sozialschädlicher, umweltfeindlicher und damit auch menschenverachtender Praktiken betrieben werden, nennen wir sie in einem moralisierenden Sinne verbrecherisch. Hier muss die kriminalpolitische Debatte einsetzen und die Frage nach Möglichkeiten der Verhinderung oder Bestrafung solcher Taten aufgeworfen werden.«

Und angesichts der von Konzernen dominierten Globalisierung ist es nicht vermessen, wenn Hans See davon spricht, dass auch »der Frieden zwischen den Völkern, die Menschen- und Freiheitsrechte und das friedliche Zusammenleben der Bürger ... nicht dauerhaft gesichert werden (können), wenn die komplexen wirtschaftsverbrecherischen Ursachen von sozialen Konflikten und ökologischen Katastrophen nicht nachgewiesen und breitenwirksam publik gemacht werden.«

Im weiteren Verlauf des Vortrags versucht See dann eine begriffliche Unterscheidung von Wirtschaftskriminalität und Organisiertem Verbrechen, die aber zugleich die Überschneidung bzw. gegenseitige Durchdringung klarmacht:

»Das Organisierte Verbrechen zielt von vornherein darauf ab, kriminalisierte Bedürfnisse zu bedienen, um eine hohe Risikoprämie bei doch oftmals niedrigem Risiko zu kassieren. Wirtschaftskriminalität umfasst dagegen die Straftaten der von vornherein auf legale Geschäfte angelegten Wirtschaft, die aber durch verzerrten Wettbewerb, Krisen, Konkurrenzgefahr und durch die auf der Hand liegenden Wettbewerbsvorteile des illegalen Wirtschaftens in die berühmte Sogund Spiralwirkung des Wirtschaftsverbrechens gerät.«

Dazu verweist See auf einen 1990 in der Zeitschrift Kriminalistik veröffentlichten Bericht, in dem einige Experten die Auffassung vertraten, dass eine ausschließlich legale Unternehmensführung in Zukunft wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit kaum noch möglich sein werde.

29.11.2021, 22:13

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