Ökos und Erbsenzähler

Leseprobe Wie ein Detektiv sammelt der Autor Jakob Thomä Indizien, besichtigt Tatorte und ermittelt Verdächtige. Seine harte Beweisaufnahme führt ihn zu neuen Antworten auf die Frage, wie die Menschheit zukunftsfähig wird
Ökos und Erbsenzähler

Foto: Omer Messinger/Getty Images

Ökos. An sie denken viele Menschen beim Thema Nachhaltigkeit. Der Öko hat es sogar in den Duden geschafft – für die einen ein Ehrenabzeichen, für andere eine Beleidigung.

Klischees halten sich hartnäckig. Hinter der herablassenden Rede vom Öko steckt die Annahme, dass Nachhaltigkeit etwas Weiches sei – eine Parallelwelt für diejenigen, die den harten Fakten des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nicht gewachsen sind, für Utopisten, denen Pandas mehr am Herzen liegen als Menschen, oder für Umweltschützer, die sich an Bäume ketten oder sie »umarmen«. Das englische Pendant zum Öko ist der tree hugger. Der »Baumumarmer«.

Solche Ressentiments sind lagerübergreifend. Ein Teil der politischen Rechten hält Umweltschützer für gescheiterte Politikwissenschaftler, die unfähig oder unwillig sind, die Wunder und das Diktat des freien Marktes zu schätzen. Ein Teil der Linken wiederum lästert über Kunststudentinnen aus bildungsbürgerlichen Familien, die AvocadoSmoothies trinken, im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg wohnen und mit ihrem Umweltaktivismus die Fließbandarbeiterin, den Edeka-Verkäufer und den Klassenkampf insgesamt verraten. Dank der linken Politikerin Sahra Wagenknecht hat dieses Stereotyp nun auch einen Namen: »Lifestyle-Linke«.

Die Warnung vor der Klimakatastrophe ist im Bewusstsein der meisten Menschen angekommen, doch an ihr hängt immer noch die Parole »Rettet den Planeten« – also nicht die Menschen, sondern eben den Planeten.

Ökos. Man spürt auch beim zweiten Lesen die mitschwingende Herablassung. Noch ein zweites »Schimpfwort« macht die Runde, das yin zum yang namens Öko. Ich arbeite seit zehn Jahren zum Thema Nachhaltigkeit, und dort, wo ich sitze, sehe ich nur selten Ökos. In meiner Welt leben die Erbsenzählerinnen. Wie für Neo im Film Matrix besteht für sie die Welt ausschließlich aus grünen Zahlen. Sie arbeiten mit Abstraktionen oder Modellen, die wie die Schatten in Platons Höhle einen dürftigen Abklatsch der gelebten Wirklichkeit darstellen. Ihre Antwort auf die atemberaubende Schönheit, Kraft und Macht der Natur ist es, sie zu ordnen, zu zählen, zu katalogisieren.

Ökos oder Erbsenzählerinnen bevölkern die Nachhaltigkeitswelt, so zumindest die Wahrnehmung, zwei Extreme, eines in der Welt der Natur, eines in der Welt der Zahlen. Beide jedoch nicht in der Welt des öffentlichen Raums und beide nicht in der Lage, in uns das Feuer für das wichtigste Thema des 21. Jahrhunderts zu entfachen.

Wir sind entweder Ökos, denen zwar – so das Klischee – der Planet am Herzen liegt, nicht aber die Menschen, die auf ihm leben. Die, wenn sie ehrlich zu sich sind, weder von den »wichtigen Menschen«, also Entscheidungsträgerinnen aus Politik und Wirtschaft, noch von der breiten Öffentlichkeit ernst genommen werden.

Oder wir sind Erbsenzählerinnen, die nach den Worten des Philosophen Walter Benjamin in den »Eiswüsten der Abstraktion« leben und sich über Energieeffizienzstandards streiten, während die Mitwelt und die Mitmenschen um sie herum Tag für Tag existenzielle Sorgen bedrücken.

Ich selbst bin ein Erbsenzähler. Meine Arbeit – und die anderer Erbsenzähler – läuft darauf hinaus, Flora, Fauna und Lebenswelt in eine Zahlenstruktur zu übersetzen, die aus Treibhausgasemissionen, Biodiversitätsleistungsindikatoren oder Naturkapitalwerten besteht. Uns Erbsenzählern geht es darum, wirtschaftliche Argumente für Nachhaltigkeit zu liefern oder, wo dies scheitert, Zahlen als Hammer zu verwenden, um den moralischen Imperativ des Handelns ins Gewissen der Menschen zu nageln.

Wir Erbsenzähler verleben unsere Tage in zu hell oder zu schwach beleuchteten Konferenzsälen in Hauptstädten und Finanzzentren. In einem dieser Säle, an einem eisigen Januartag 2018 in Frankfurt am Main, entstand die Idee für dieses Buch. Ich war eingeladen, einen Vortrag über eine Finanzinnovation zu halten, die im Begriff war, die europäischen Märkte im Sturm zu erobern – grüne Anleihen oder Green Bonds. Dabei handelt es sich um Kredite, die Unternehmen, Finanzinstitute und Regierungen aufnehmen, um ihr grünes Image aufzupolieren und – zumindest theoretisch – Geld für grüne Projekte zu sammeln. Dieses Instrument hatte es bereits auf die Titelseiten der etablierten Wirtschaftsmagazine und Tageszeitungen geschafft. Nur wenige Monate zuvor hatte die Commerzbank ihre erste grüne Anleihe gezeichnet. Politische Entscheidungsträgerinnen sprangen auf den Zug auf, Regierungen gaben grüne Staatsanleihen aus, und Branchenfachleute versuchten, Standards für dieses Instrument zu entwickeln. Die Bundesregierung sollte zwei Jahre später nachziehen, mit dem ersten »grünen Bundeswertpapier«.

Grüne Anleihen

Schnell wurde die Debatte im Saal hitzig. Sollte Atomkraft als grüne Energiequelle gelten?1 Jemand aus dem Publikum erwähnte ein Beispiel aus den USA, wo eine solche Anleihe Solarpaneele finanziert habe, die ausgerechnet auf einem Parkhaus installiert worden seien. Dreist! Andere wiederum fragten, ob die Berichtspflichten der Anleger transparent genug seien und ob man sicher sein könne, dass tatsächlich grüne Investitionen getätigt würden. Eigentlich hatte das Gespräch für die kleine Gemeinschaft der Erbsenzählerinnen, die sich an diesem Nachmittag versammelt hatte, nichts Anrüchiges. Als ich jedoch die Konferenz verließ, um in mein anonymes Hotelzimmer zurückzukehren und den Abend damit zu verbringen, E-Mails zu schreiben, um dann welche zurückzubekommen, war es nicht nur die kalte Januarluft, die mich meinen Schal enger ziehen ließ. Es waren auch die Eiswüsten Walter Benjamins, die ich gerade durchquert hatte. Wer, so fragte ich mich, soll, wer kann dies alles verstehen?

Ein paar Monate später hatte ich die Chance, diese Frage zu beantworten. Wir bauten gerade die MeinFairMögen-Plattform auf, die Kleinanlegerinnen dabei hilft, Nachhaltigkeit in ihre Anlagen zu integrieren. Teil unserer Arbeit damals war es, Umfragen durchzuführen, um besser zu verstehen, wie unsere Zielgruppe beim Thema »Nachhaltigkeit und Finanzen« tickte. In letzter Minute mogelte ich dem Umfrageteam noch eine relativ banale Frage unter: »Was ist eine grüne Anleihe?« Ich wusste ja die Antwort, durfte immerhin über das Instrument referieren, aber was denken die Leute darüber? Wie weit klaffen die Realität des Erbsenzählers und die gelebte Wirklichkeit auseinander?

Vielleicht zuerst ein Exkurs darüber, was eine grüne Anleihe nicht ist. So muss man, um eine grüne Anleihe auf den Markt zu bringen, kein »grünes Unternehmen« (oder Finanzinstitut) sein. Man muss sich auch nicht verpflichten, irgendwann ein vollständig »grünes Unternehmen« zu werden. Mehr noch, es ist ebensowenig verpflichtend, überhaupt grüner oder klimafreundlicher zu werden. Man kann seinen CO2-Fußabdruck um 1000 Prozent erhöhen und trotzdem eine grüne Anleihe ausgeben. Es genügt voll und ganz, grüne Aktivitäten zu betreiben, die man in der Anleihe bündeln kann. Die gesammelten Gelder darf man jedoch nur für die grünen Geschäftsbereiche verwenden (und muss dann allenfalls klären, wie Sonnenkollektoren auf Parkhäusern oder Atomkraftwerke zu bewerten sind).

Wenn klar ist, wie die Sache läuft, wie können Probleme überhaupt entstehen? Probleme kommen dann auf, wenn sich 90 Prozent der 2000 Personen, die auf meine banale Frage antworteten, unter einer grünen Anleihe etwas anderes vorstellen. Sie waren mit dem Konzept nicht einverstanden, dass man eine grüne Anleihe emittieren kann, ohne grüner werden zu müssen. Ein bisschen Konfusion hatte ich erwartet. Aber nicht das! Nicht 90 Prozent! Ich hatte einen Vortrag über grüne Anleihen gehalten, Nachhaltigkeitsstandards verhandelt, aber den Kern der Wahrheit verschwiegen: Niemand versteht uns. Und wer uns doch versteht, glaubt uns nicht.

Dies ist nur ein kleines Beispiel für ein großes Problem: das PR-Desaster namens »Nachhaltigkeit«. Die traurige Wahrheit ist, dass ich meist eine Sprache gesprochen habe, die außerhalb meines Zirkels kaum jemand verstanden hat. Ich bin Teil des Problems, musizierend schaue ich Rom beim Brennen zu.

Dass Experten in ihren Elfenbeintürmen sich amüsieren, weltfremd miteinander musizieren, kann zu der Ansicht verleiten, so sei die Welt nun einmal. Das hat schon seine Ordnung.

Aber in Ordnung ist das nicht! Denn Experten müssen die Menschen überzeugen. Und hier kommt es auf die Kommunikation an, die Klarheit der Gedanken und Botschaften. Wir müssen die emotionale Sprache ebenso beherrschen wie Fachsprachen. Baumumarmer sollten lernen, ihre Emotionen zu strukturieren; Erbsenzähler müssen ihre Abneigung gegen das Ungefähre und Vage der Emotionen überwinden. Denn nur wenn wir überzeugt sind und das sichere Gefühl haben, die richtigen Entscheidungen gefällt zu haben, werden wir die eigentliche Aufgabe meistern: den Klimawandel begrenzen oder umkehren, die Ökologie der Welt bewahren und dadurch uns selbst schützen. Wir retten uns und die Welt nur gemeinsam und gleichzeitig – oder wir scheitern alle. Nirgends ist das PR-Problem sichtbarer als in der Klimaforschung. Man nehme nur das Wort »Klimawandel«. Soll ich mich vor einem »Wandel« tatsächlich fürchten, den man eher mit einem erholsamen Sonntagsspaziergang als mit einer todbringenden Lawine verbindet? Ist die Aussicht auf einen Klimawandel erschütternd, wenn doch die meisten beim Klima ans Wetter denken, das sich sowieso jeden Tag ändert? Beunruhigt uns ein Temperaturanstieg von 2 °C, obwohl wir nicht einmal die Raumtemperatur richtig einschätzen können?

26.10.2022, 17:23

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