Ein atemberaubender Roman

Leseprobe Sahar und Lorca führen mit ihrer Tochter Tishka ein glückliches Familienleben. Als Tishkas Bett eines Morgens leer ist, verändert sich jedoch alles. Während Sahar zunächst an eine Entführung glaubt, geht Lorca einer urbanen Legende nach
Wellen türmen sich an einer Küste in Oregon im Nordwesten der USA  auf.
Wellen türmen sich an einer Küste in Oregon im Nordwesten der USA auf.

Foto: Nathan Howard/Getty Images

»Gehet hin und verkündet überall, dass der Mensch noch nicht eingefangen worden ist.« - Valère Novarina

1. Kapitel
Das Weiß

»Da drinnen ist er …«
»Woher weißt du, dass er da drinnen ist?«

··Arshavin· lässt einen kleinen hicksenden Lacher vernehmen, er ist sichtlich überrascht. Offenbar hat er in diesem Moment, während der Abschlussprüfung, nach einer neunundsiebzig Wochen dauernden Ausbildung, in der er all sein Wissen mit mir geteilt hat, nicht mit einer dermaßen pennälerhaften Provokation gerechnet. Es ist mir rausgerutscht. Sein Arm ist noch zur Tür hin ausgestreckt, deren oberer Teil aus Glas besteht. Die Geste fordert mich auf, den Raum zu betreten … Er sieht mich durchdringend an, mit seiner mondstillen Art und seinen blaugrünen Augen, die eine tägliche Huldigung der Klugheit sind. Er durchschaut meinen verbalen Ausfall, den mein aufgesetztes Lächeln nur noch schlimmer macht, er durchschaut alles. Dass ich Angst habe. Dass ich mich schäme, mich hinter deplatzierten Sticheleien zu verstecken, wo ich doch präsent sein müsste, einfach da, hellwach. Um mich still zur Höhe des Augenblicks aufzuschwingen. Der Flüchtige ist da drin. Sie wissen es, weil sie die optischen, taktilen und thermischen Sensoren im Blick haben, Magnetresonanztomografen und auditive Artillerie, weil sie die Schwankungen des Hygrometers beobachten, die Veränderungen der Wellenzüge und die winzigen Luftbewegungen in den Ecken. Sie wissen es, weil sie die üppige Technik der Jäger in den Händen und vor den Augen haben, die beherrschen zu lernen mich anderthalb Jahre gekostet hat – ebenjene Technik, die ich nun in der Prüfung nicht verwenden darf. So bin ich der Lage ausgeliefert, nackt: allein in einem leeren Kubus von sechs Metern Kantenlänge. Von Angesicht zu Angesicht mit dem Flüchtigen.
»Lorca, ich wiederhole noch einmal die Regeln. Nach der Prüfung im Kubus ist deine Ausbildung abgeschlossen. Wie du weißt, ist ihr Ausgang entscheidend für die Erlangung des Dienstgrads eines Jägers. Die theoretischen und technischen Tests hast du mit Bravour bestanden. Meinen Glückwunsch. Sie waren die Voraussetzung, um hier stehen zu können, vor dieser Tür. Jetzt gilt es, unter Beweis zu stellen, dass du ohne technische Hilfsmittel, nur mit deiner Intuition und den erworbenen Kenntnissen, mit deinem bloßen Blick und deinem bloßen Körper, einen Flüchtigen fangen kannst. Die Prüfung im Kubus verlangt dir alles ab, was du gelernt, geschaffen und verstanden hast – daher ihr hohes Ansehen. Du hast mit Mardern und Mangusten trainiert, mit Hochgeschwindigkeitsrobotern, Simulakren und flüchtigen Artefakten. Doch nichts kann die Jagd auf das Original ersetzen …«
»Wie groß ist er?«
»Ungefähr so groß wie ein Eichhörnchen.«
»Hat er Flügel?«
»Manchmal. Manchmal schwimmt er, manchmal fliegt er, manchmal läuft er – wie alle Flüchtigen.«
»Wie habt ihr ihn eingefangen?«

Arshavins feine Gesichtszüge blühen auf.
»Wir haben ihn nicht eingefangen, er war schon da.«
»In dem Raum? Machst du Witze?«
»Vor drei Tagen haben wir die Messgeräte für einen Probelauf installiert. So haben wir ihn bemerkt …«
»Ein ziemlicher Glückstreffer, oder?«
»Der Raum ist beinah immer menschenleer. Ein ideales Versteck also. Die Flüchtigen halten die Messgeräte zum Narren, das weißt du doch. Nur das menschliche Auge kann sie töten.«
»Ich habe eine Stunde Zeit.«
»Eine Stunde. Du wirst von fünf Juroren beobachtet: zwei Experten für Akustik und Optik, ein Heerespsychologe und ein Angehöriger des Militärs, der nicht zum RiFF gehört und vom Ministerium gestellt wird. Er ist unser Laienbeobachter. Ich stehe ihnen vor. Wir observieren dich von außerhalb des Raums durch Kameras und Mikrofone. Wir werden den Verlauf der Prüfung ausführlich kommentieren, wovon du selbstverständlich nichts mitbekommen wirst. Die Tonübertragung ist nur einseitig. Die verbleibende Zeit allerdings wird per Lautsprecher durchgesagt. Während der Prüfung hast du die Möglichkeit, einen Hinweis des Schrittmachers sowie zwei Zielpositionen abzufragen …«
»Die berühmten ›Feldbedingungen‹ …«
»Natürlich ist und bleibt es eine Jagd hinter verschlossenen Türen. Doch wir legen Wert darauf, sie so realistisch wie möglich zu gestalten. Wenn du eines Tages in der Meute jagst, wird der Schrittmacher dir ebenfalls zur Seite stehen …«

Arshavin sieht auf seinen aufleuchtenden Ring.
»So, wir haben noch … eine Minute. Beim Signal öffnet sich die Tür und du trittst unverzüglich ein. Du kennst die Auflagen. Bist du bereit, Lorca?« »Ganz und gar nicht …«
»Genau das verstehe ich darunter, bereit zu sein. Diesen fragilen Zustand der Unsicherheit, der Offenheit, die einen empfänglich macht für das Unbekannte. Glaub mir, Lorca, was auch immer jetzt passieren wird, du wirst nun einen der intensivsten Momente deiner Existenz erleben. Öffne dich dafür.«

Die Tür verschwindet in der Wand. Ein Satz – ich befinde mich in dem Raum – die Tür zischt in meinem Rücken. Geschlossen. Ich erwarte das Urteil …
»Keine Flucht festgestellt! Der Flüchtige befindet sich im Raum!«, donnert eine Stimme aus dem Nichts. Es folgt die Stimme von Arshavin: »Countdown läuft. Jagd Lorca Varèse: Start!«
Ich atme heftig ein und presse meinen Rücken an die Wand. Saskia hatte gesagt:
»Es ist nur ein weißer Kubus. Am Anfang wirkt es gar nicht so krass, aber es ist total beeindruckend.«

Ich habe nicht damit gerechnet, dass es mir dermaßen an die Kehle gehen würde – und auf die Netzhaut. Paint it white. Der Kubus ist weiß, in der Tat, ein makelloses Weiß, das als vollkommen ebene, matte, massive Fläche die Wände überzieht wie Eis und den Boden in einem Meer gefrorener Milch ertränkt. Ich richte den Blick zur Decke; unmöglich, sie auszumachen: Sie könnte sich zwei oder auch zehn Meter über mir erstrecken, das Weiß lässt sie näherrücken und wieder zurückschnellen, saugt sie langsam auf, löscht sie aus … Die sechs Seiten des Kubus geben ein so gleichförmiges Licht ab, dass es von sechs Flachbildschirmen kommen könnte. Nur mit Mühe kann ich die rechten Winkel der Wände erkennen, wenn es mir gelingt, meinen Blick zu fokussieren, ihn zu formen, zu einer perspektivischen Sicht zu zwingen. Nur mit Mühe kann mein Auge den Anflug eines etwas weniger weißen Weißtons erfassen, der sich an den Wandecken entlang nahtlos bis zum Boden zieht. Ich sehe nichts, ich finde mich nicht mit der Situation zurecht, mein Blick streift in Kreisbewegungen über die Wände. Mach dir den Raum zu eigen, nimm Gestalt darin an. Ich zwinge mich dazu, mich von der Wand zu lösen und einige Schritte hin zur Mitte des Raums zu machen, dabei überkommt mich das ekelhafte Gefühl, über von Puderschnee bedecktes Glatteis in eine Nebelwand zu laufen wie bei einem missratenen Skiausflug. Mir ist speiübel und ich habe eine jämmerliche Angst zu stürzen. Ich weiß, dass sie mir zusehen und ziehe mich zur nächstgelegenen Wand zurück, ich gleite an ihr entlang und taste sie mit meinen Handflächen ab, das 10 Erstes Kapitel Berühren des angestrichenen Betons, kühl und glatt, hart und fest, beruhigt mich. Als ich die nächste Wand ertaste, nimmt die aufgekommene Panik wieder ab. Allmählich bezwinge ich den Raum. Ich befinde mich in einem weißen Käfig. Ohne Möbel, ohne den Schatten eines einzigen Gegenstands. Weder Tisch noch Stuhl. Kein Plakat, kein Bild, nicht die mindeste Verzierung an den Wänden. Nichts, das dem Flüchtigen auch nur die kleinste Möglichkeit bieten würde, sich zu verstecken, seine mimetischen Fähigkeiten einzusetzen oder seine außergewöhnliche Gabe zur Metamorphose, die ihn mit seiner Umgebung verschmelzen lässt. Der Raum ist leer. Schwindelerregend leer. So gesehen herrscht also durchaus Waffengleichheit: Der aller technischen Hilfsmittel beraubte Mensch steht dem jedweder günstigen Umgebung beraubten Flüchtigen gegenüber. »Ein Wüstenduell« hatte Arshavin es genannt.

»Wie lang hat die Gewöhnungsphase gedauert?«
»Knapp vier Minuten.«
»Ziemlich lang …«
»Er ist nicht der Jüngste und außerdem war er ursprünglich Zivilist. Dafür ist es nicht schlecht.«
»Er hat sich mithilfe des Tastsinns reterritorialisiert, das scheint mir interessant.«
»Noch viel interessanter ist, dass er nachdenkt, bevor er das technische Protokoll befolgt. Das kommt eher selten vor.«

Die Zapfen und Stäbchen meiner Netzhaut beginnen, wertvolle Nuancen einzufangen. Ich kann Weiß und gebrochenes Weiß unterscheiden, erkenne hier und da sogar hellgraue Flecken. Nun muss ich handeln. Zuerst mich orientieren. Die Wand, in der sich die Tür befindet, wird meine Nordwand sein. Gegenüber die Südwand. Dementsprechend liegen Ost und West. Die vier Winkel nenne ich NW, NO, WS und OS. Dann den Raum rastern. Mit den Gummisoh- Das WEiss 11 len meiner Schuhe zeichne ich fünfundzwanzig Kreuzchen auf den Boden, jeden Meter eins. Schon habe ich ein kleines Spielbrett, sechs mal sechs. Ich ziehe einen Schuh aus, nehme ihn in die Hand und schabe mit der Sohle über die vier Wände, so weit ich komme, erst auf einem Meter, dann auf zwei Metern Höhe. Und ich ziehe große Kreise. Sie sehen aus wie Reifenspuren oder Skizzen eines übergeschnappten Malers, doch sie sind enorm förderlich für mein perspektivisches Sehen und erlauben mir, den Blick zu kadrieren und zu schärfen.
»Das riecht nach Agüero da drinnen. Diese Spielbrettnummer machen sie jetzt alle.«
»Das bringen Sie ihnen doch so bei, oder?«
»Dieses Hilfsmittel kommt vor allem dem Flüchtigen zugute. Er weiß, dass der Jäger zwangsläufig entlang der Linien schaut, dass sein Blick vorgefertigten Bahnen folgt. Berechenbarer könnte er gar nicht sein!«
»Die Kreise wiederum sind neu. Ich bin gespannt, was er draus macht …«

[...]

16.12.2021, 08:58

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