Die Flüchtigen mutieren ununterbrochen und verursachen auch Mutationen in ihrer Umgebung. Hat ein Mensch engen Kontakt zu einem Flüchtigen, beginnt er, flüchtige Eigenschaften anzunehmen, was sich auch in seiner Sprache niederschlägt: Zunächst schleichen sich merkwürdige Zeichen ein, die die Anwesenheit einer anderen Intelligenz in seinem Denken markieren. In späteren Stadien der Flüchtigwerdung fällt es ihm zunehmend schwer, Wörter und Sätze als abgeschlossene Einheiten mit festgelegtem Sinngehalt zu begreifen – denn die Flüchtigen denken assoziativ, nicht linear. Buchstaben werden vertauscht, Bedeutungen verwechselt, Reime und Klänge bekommen eine ebenso große Bedeutung wie der semantische Gehalt.
Obwohl man meinen könnte, dies sei für die Übersetzung der größte Haken, ging mir die Nachbildung der Flüchtigkeit im Text leicht von der Hand. Sie ähnelte der eingangs beschriebenen Erstellung der Collagen. Dennoch kam ich mit der Übersetzung des Romans nur langsam voran. Ich übersetzte Abschnitt für Abschnitt und hatte immer das Gefühl, keine Einheit herzustellen, sondern unzusammenhängende Szenen aneinanderzureihen und befürchtete, dass sie sich nicht zu einem stimmigen Ganzen fügen würden. Der Überschwang des Textes irritierte mich nachhaltig: Namen, Gruppenbezeichnungen, historische Umstände werden einmal genannt oder kurz angerissen und tauchen dann nie wieder auf, Reihen von elaborierten Wortwitzen werden für nur eine einzige Erwähnung konstruiert.
Welch Verschwendung! Der Sprachgestus der Figuren wechselt zwischen verschiedenen Erzählsituationen. Poetisches und Obszönes stehen oft so dicht beieinander, dass keines von beiden die gewohnte Wirkung hat. Die actiongeladene Handlung wirkt so rasant wie entrückt.
Die Erzählzeit im Roman wechselt immer wieder zwischen Präsenz und Präteritum, manchmal wird sogar im Konjunktiv erzählt – ein weiteres Mittel, um Flüchtigkeit in die Erzählebene zu injizieren und die Starrheit konventioneller Zusammenhänge zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, Ursache und Wirkung aufzulösen. Mit der Zeit ging mit auf, dass man auch all die anderen Ungereimtheiten als solche Mittel lesen kann. Wir sind es gewohnt, dass Literatur dem berühmten Tschechow'schen Prinzip folgt – wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert. Bei Damasio allerdings lehnen neben diversen Waffen auch bunt gemischte Alltagsgegenstände und ein Sammelsurium blinkender technischer Gerätschaften an der Wand, und nur die wenigsten davon kommen im Laufe der Geschichte zum Einsatz. Dass viele seltsame Vorkommnisse durchaus von Anfang an im Roman angelegt waren, erschließt sich nur bei sehr gründlicher Lektüre – zu übervoll ist der Text mit Neuem, Unbekannten. Hat man sich einmal damit abgefunden, dass der Roman trotz der linearen Vordergrundhandlung nicht linear erzählt wird, dass er Tausende Fäden auswirft, von denen nur wenige wieder zusammenfinden und verknüpft werden können, dass das Ausfransen, Auseinanderdriften, das Fragmentierte am Ende eben genau das spiegelt, von dem Die Flüchtigen handelt – eine Art des Seins nämlich, das uns herausfordert, übersteigt und letztlich von innen heraus verändert, dann erkennt man die überschäumende Kraft dieses literarischen Wildwassers, das an den Leser·innen zerrt, bis sie vergessen haben, wo oben und unten ist.
[...]
Damasios Figuren haben zum großen Teil einen Hang zur Vulgarität. Sie fluchen oft und viel, oft in verschiedenen Sprachen, oft auch so, wie ich es zuletzt 2006 als Austauschschülerin auf dem Schulhof einer französischen Dorfschule gehört habe. Das ist oft irritierend, manchmal unglaublich komisch und teilweise auch rätselhaft. Wie ist diese Umgangssprache entstanden, die Damasio sich für die nahe Zukunft vorstellt? Sie vermischt verschiedenste Dialekte und regionale Eigenheiten vor allem aus dem französischen Süden, Slang von damals und heute, Anglizismen, Neologismen und wirkt dadurch futuristisch und antiquiert zugleich. Ich glaube, dass man sie als Ausdruck einer vollständig digitalisierten Gesellschaft lesen kann, in der Informationen, ältere oder fremdartige Texte nicht nur (wie in unserer Zeit) schnell und einfach verfügbar, sondern omnipräsent sind. So werden vielleicht im täglichen Gespräch Wendungen ausgegraben, die ohne die völlige Durchdringung des Alltags mit Informationen aus allen Zeiten vollständig vergessen worden wären.
Gleichzeitig ist die Abwesenheit sprachlicher Normen auch ein Ausdruck für die Abwesenheit anerkannter Autoritäten – sämtliche staatlichen Einrichtungen haben ihre Bedeutung verloren und die privaten Verwaltungen und Milizen, die an ihre Stelle getreten sind, werden von der Bevölkerung zu großen Teilen nicht respektiert. Gerade die Milizionäre stehen sinnbildlich für die Unfähigkeit der privatisierten Regierung, der Unzufriedenheit der Menschen anders zu begegnen als mit physischer, häufiger noch psychischer Gewalt. Es gibt keine verbindliche Ordnung mehr, an die ein Großteil der Menschen glaubt – und die im Kapitalismus zwar viel besungene, aber der Unbarmherzigkeit seiner Realität oft zum Opfer fallende individuelle Freiheit bahnt sich zumindest in der Sprache neue Wege. *
– Milena Adam, Übersetzerin von Die Flüchtigen
––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
* Auszug aus dem Journal Bastelarbeit. der Übersetzerin Milena Adams | Zum vollständigen Text auf toledo-programm.de