„Geheimtür zur Geschichte“

Interview Amanda Lee Koe spricht im Interview über die Hintergründe von „Die letzten Strahlen eines Sterns“ : Wie sie beim Stöbern in einer New Yorker Buchhandlung auf die Fotografie der drei Frauen stieß und wie sich hieraus die Idee zu ihrem Roman ergab
Die Filmemacherin Leni Riefenstahl (1935).
Die Filmemacherin Leni Riefenstahl (1935).

Foto: Three Lions/Hulton Archive/Getty Images

Sie sind in Singapur aufgewachsen und leben heute abwechselnd in New York und Singapur. Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet über Marlene Dietrich, Leni Riefenstahl und Anna May Wong zu schreiben?

Eine der ersten Buchhandlungen, die ich nach meinen Umzug nach New York besucht habe, war der Strand Bookstore, in dem sich zu verlieren eine Freude ist. Im Regal mit den Fotobänden stieß ich auf eine alte Monografie von Alfred Eisenstaedt. Beim Durchblättern fiel mir ein Bild auf, das er 1928 auf einer Party in Berlin aufgenommen hat, und darauf waren Marlene Dietrich, Anna May Wong und Leni Riefenstahl zusehen. Es hat mich sofort in seinen Bann gezogen.Es war, als hätte ich eine Geheimtür zur Geschichte gefunden.Ein Foto, das unendlich viele Fragen aufwirft.

Wie konnten diese drei Frauen, die auf ihre eigene Weise großartig und fehlerhaft waren, zu dieser Zeit auf diesem Bild zusammenkommen? Wer waren sie und wie tickten sie, bevor sie berühmt – und im Fall von Leni Riefenstahl berüchtigt – wurden? Dieses Zusammentreffen der Marlene aus der Zeit vor ihrer Metamorphose zu einem Hollywood-Star, der Anna May in ihrem frühen Flapper-Stil und der Leni aus derZeit vor ihrer Nazi-Propaganda war wie eine Büchse der Pandora für mich.

In dem Moment, als ich das Foto von Dietrich, Wong und Riefenstahl sah, wusste ich, dass es den Keim für eine komplexe, weitreichende und fesselnde Geschichte in sich trug, in die ich unbedingt eintauchen wollte und die es mir ermöglichen würde, vielen wichtigen Themen auf den Grund zu gehen und sie künstlerischzu gestalten.

Ich wollte mich unbedingt mit diesen drei historisch bedeutenden Frauen, die als facettenreiche Charaktere auf der Suche nach Kunst, Ehrgeiz, Ruhm und Liebe wahrgenommen werden, durch Zeit und Raum bewegen, und ihnen dabei zusehen, wie sie in turbulenten Zeiten heikle Fragen nach Identität, Individualitätund Integrität bewältigen.

Beim Lesen des Romans wird klar, wie groß Ihr Wissen über den deutschen Film ist. Woher stammt dieses Interesse für die deutsche Kultur und das deutsche Kino?

Ich habe mich Hals über Kopf in die deutsche Kultur und die leidenschaftlich lodernde Queer-Szene im Berlin der Weimarer Zeit verliebt, als ich noch ein Vintage-liebender queerer Teenager im stockkonservativen Singapur war. Ich war so begeistert von der sozialen Welt der Lesbenmagazine und Damenklubs in den 1920er Jahren – und dass sie in einer Zeit und an einem Ort gediehen waren, die so weit von meinem eigenen Platz in der Geschichte entfernt waren, gab mir das Gefühl, dass auch ich existieren könnte. Wenn ich heute zurückblicke, denke ich, dass diese queeren europäischen Frauen mir damals so viel bedeutethaben, weil es in Singapur keine LGBTQ-Sichtbarkeit gab – woran sich auch nicht viel geändert hat, denn schwuler Sex ist immer noch verboten.

Und letztendlich waren es auch nicht nur diese queeren Frauen, sondern das ganze Milieu und die Sensibilität, die mich verzaubert haben. Ich fühlte eine große Affinität auch zu Dada und surrealistischer Kunst und war begeistert von den expressionistischen Filmen von Fritz Lang und Robert Wiene ... Auch in der heutigen Zeit bewundere ich deutsche Regisseure sehr – so unterschiedliche Leute wie Wim Wenders, Rainer Werner Fassbinder oder Maren Ade.

In Deutschland wird Leben und Werk von Leni Riefenstahl sehr eng mit der Nazizeit assoziiert, ihre Propagandafilme trugen maßgeblich zur Verbreitung der Nazi-Ideologie bei. Vor dem Schreiben mussten Sie also viel über die dunkle Vergangenheit Deutschlands und die mörderischen Verbrechen während der Nazizeit recherchieren. Wie haben Sie es geschafft, sich Leni Riefenstahl trotzdem als Person zu nähern und ein so lebendiges Porträt von ihr als Mensch zu zeichnen?

Meine Verantwortung als Romanautorin besteht darin, dem Publikum eine Erfahrung zu vermitteln, die rutschiger und weniger eindeutig ist als das Lesen eines Geschichtsbuches, und allen meinen Figuren in ihrer Menschlichkeit gerecht zu werden, ganz gleich, wie fehlerhaft sie sein mögen. Berühmt zu sein ist ein Deckmantel, ebenso wie berüchtigt zu sein. Um Leni Riefenstahl als Figur gerecht zu werden, konnte ich nicht schon beim Schreiben den Wunsch hegen, sie als Bösewicht darzustellen, unabhängig davon wie abscheulich die Gräueltaten der Nazis sind und wie sehr sie sich mit dieser Diktatur verbündet hat – das wäre zu einfach, zu bequem. Niemand denkt, dass er in seiner eigenen Geschichte der Bösewicht ist. Es war sicherlich eine Herausforderung, Leni in ihrer ganzen Komplexität darzustellen, ohne sie zu einer sympathischen Figur zu machen, und sie gleichzeitig für ihre Kollaboration mit dem NS-Staat zur Rechenschaft zu ziehen, ohne sie zu einer eindimensionalen Schurkin zu machen.

Eines der faszinierenden Dinge an diesem Roman ist, dass er die ganze Welt umspannt: Er spielt in den USA, in China und natürlich in Europa mit Deutschland und Frankreich. Würden Sie sagen, dass Sie eine Art „globale Literatur“ schreiben?

Ich denke schon, dass ich eine Art „globale Literatur“ schreibe, mit dem Vorbehalt, dass wir uns zunächst diese Terminologie genauer ansehen müssen. Als ich im westlichen akademischen Sprachgebrauch zum ersten Mal auf den Begriff „global literature“ stieß, war ich amüsiert darüber, dass damit das „Schreiben aus dem globalen Süden“ gemeint war. Literatur, die anders ist. Ich möchte nicht, dass ich oder meine Arbeit so wahrgenommen werden.

Jemand anderen automatisch als Außenseiter zu sehen, impliziert die Gewissheit, sich selbst immer schon als den stabilen Mittelpunkt zu betrachten. Ich denke, das ist zu hochtrabend und selbstsicher! Ich glaube, nichts ist stabil, und niemand kann ein festes Zentrum sein. Deshalb hoffe ich, eine neue Art von "globaler Literatur" zu schreiben – eine, die die Vorstellung vom "Anderssein" entschieden ablehnt und bequeme Vorstellungen davon, was Zentrum und was Peripherie ist, aufweicht.

Wenn Sie mit Ihrem Hintergrund über die deutsche Geschichte schreiben, über Hitler und Riefenstahl, über "westliche" Ikonen wie Marlene Dietrich, geschieht dies aus einer besonderen Perspektive heraus. Etwa, wenn Sie zum Beispiel Anna May Wong als gleichberechtigte Künstlerin neben Dietrich und Riefenstahl stellen. Wie beurteilen Sie diese Perspektivverschiebung? Vielleicht auch vor dem Hintergrund, dass in der heutigen kulturellen Diskussion über Machtstrukturen schnell von "kultureller Aneignung" die Rede ist?

Kulturelle Aneignung ist dann ein Problem, wenn sie sich auf rein nachahmende Stilmittel und Inhalte stützt und wenn sie unbedacht oder zynisch den durch bestehende Machtstrukturen verursachten Schaden reproduziert.

Historisch gesehen war diese Diskussion immer sehr einseitig – ich bezweifle, dass Hermann Hesse, als er "Siddhartha" geschrieben hat, auf Widerstand gestoßen ist, oder dass irgendjemand seineHerangehensweise damals für fragwürdig hielt. Hesses Erzählung über die zentrale historische Figur der größten und ältesten Religion der asiatischen Kultur wurde als selbstverständlich hingenommen, erlebte in den 1960er Jahren sogar ein Wiederaufleben ihrer Popularität und wird als fundierter Text angesehen. Hätte jedoch ein asiatischer Autor in den 1920er Jahren ein entsprechendes Buch mit dem Titel "Jesus" geschrieben, mit diesem jüdischen Prediger als zentraler Figur, hätte das Buch im Westen sicher für viele hochgezogenen Augenbrauen gesorgt und wäre verspottet und angezweifelt worden oder wäre realistischerweise wohl gar nicht erst veröffentlicht worden.

Und doch handelt es sich nicht bei jedem Werk, das Elemente von außerhalb der vermeintlichen "Herkunft" des Schöpfers oder der Schöpferin verwendet, um kulturelle Aneignung. Viele der bahnbrechenden Kompositionen von John Cage sind unter Verwendung des "I Ging" entstanden, eines klassischen chinesischen Textes, der als Wahrsagesystem verwendet wird und den er als perfektes Werkzeug zur Erzeugung zufallsgesteuerter Kompositionen ansah und nutzte. Kafka ist nie nach Amerika gereist, aber sein erster Roman, "Amerika", ist faszinierend. Es kommt wirklich darauf an, wie stark man sich mit diesen Inhalten beschäftigt, ob sie verstanden und wie sie einander gegenübergestellt und verwendet werden.

Als Asiatin, die in Amerika lebt, wäre es für mich in vielerlei Hinsicht einfacher gewesen – und, seien wir ehrlich, auch finanziell profitabler und gesellschaftlich opportuner – ein Buch zu schreiben, das sich ausschließlich auf Anna May Wongs Kampf gegen ein rassistisches Amerika konzentriert. Da ich jedoch weiß, wie kosmopolitisch Anna May Wongs Ambitionen waren und dass sie sich in Europa mehr zu Hause fühlte als in Amerika, erschien es mir viel sinnvoller und notwendiger, eine "östliche" Frau wie sie anderen ehrgeizigen "westlichen" Frauen ihrer Zeit in ihrem künstlerischen Wirkungsfeld gegenüberzustellen, um ihr gerecht zu werden, als sie erneut in einen Käfig zu sperren und wieder einmal nur als eindimensionales Opfer von Rassendiskriminierung in Hollywood zu beschreiben.

27.04.2022, 18:17

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