„Brilliant!“

Leseprobe Die Geschichte der Menschheit beginnt in diesem historischen Epos mit einem Strandspaziergang einer Familie vor 950.000 Jahren. Diese Weltgeschichte erzählt Simon Sebag Montefiore als Familien- und Gesellschaftsdrama angefangen bei den Neandertalern
Jordanien: Ausgrabung einer Kirche in Bethabara
Jordanien: Ausgrabung einer Kirche in Bethabara

Foto: JAMAL NASRALLAH/AFP via Getty Images

Einführung

Die Flut strömte zurück. Fußabdrücke tauchten auf. Es waren die Spuren einer Familie, die am Strand von Happisburgh in Ostengland entlanggegangen war. Hinterlassen haben sie fünf Menschen vor etwa 850000 bis 950000 Jahren, Erwachsene und Kinder, von denen das größte Individuum wahrscheinlich ein Mann war. Die Fußspuren, die 2013 entdeckt wurden, sind nicht die ältesten. Diese wurden in Afrika gefunden, wo die Geschichte der Menschheit ihren Anfang nahm. Aber jene Strandspuren sind die ältesten einer Familie. Und sie haben mich zu dieser Weltgeschichte inspiriert.

Viele Globalgeschichten sind schon geschrieben worden. Diese hier verfolgt einen bisher nie erprobten Ansatz: Um einer lebendigeren Perspektive willen habe ich meine Weltgeschichte in die Erzählungen von Familien eingebettet. Auf diese Weise lassen sich die großen Ereignisse der Weltgeschichte, von den ersten Homininen bis heute und vom Steinwerkzeug bis zum Smartphone, mit den Dramen einzelner Menschen verknüpfen.

Weltgeschichte ist ein Elixier für bewegte Zeiten, schließlich schärft sie unseren Blick für Verhältnismäßigkeiten. Meistens ist es jedoch ein distanzierter Blick, geht es in den herkömmlichen Weltgeschichten doch häufig um Themen und nicht um Menschen, während Biographien üblicherweise von Menschen, aber nicht von Themen handeln. Die Familie ist der Urstoff der menschlichen Existenz – so war es schon immer, und so wird es auch in einem von Künstlicher Intelligenz und galaktischer Kriegsführung geprägten Zeitalter bleiben. Ich habe ein historisches Netz über die Welt geworfen, in das ich Parallelgeschichten von Familien aller Kontinente und aller Epochen verwoben habe, um dadurch die Entwicklung der Menschheit herauszuarbeiten: Es ist die Biographie vieler Menschen statt einer einzelnen Person. Ungeachtet der globalen Reichweite dieser Familien mangelt es ihren Dramen nicht an Intimität, denn auch ihr Leben wird von Geburt, Heirat und Tod bestimmt. Sie lieben, hassen, steigen auf, fallen, steigen erneut auf, treten ab und treten wieder auf. Jedes Familiendrama hat unzählige Akte. Genau das meinte Samuel Johnson, als er sagte, jedes Königreich sei eine Familie und jede Familie ein kleines Königreich.

Anders als die meisten Geschichtsbücher, mit denen ich aufgewachsen bin, ist meine Weltgeschichte ausgewogen, denn sie widmet sich nicht mehr vordringlich dem Geschehen in Großbritannien und Europa, sondern schenkt Asien, Afrika und Amerika die gebotene Aufmerksamkeit. Durch den familiären Blickwinkel lässt sich auch das Leben von Frauen und Kindern, die in den Darstellungen aus meiner Schulzeit meist sträflich vernachlässigt wurden, angemessen beachten. Ihre Rollen verändern sich im Laufe der Geschichte ebenso wie die Form der Familie selbst. Wie die Schädelplatten der Geschichte zusammengewachsen sind, genau dies möchte ich hier nachzeichnen.

Das Wort »Familie« steht für Geborgenheit und Zuneigung, obwohl Familien im wirklichen Leben Gespinste aus Kampf und Grausamkeit sein können. Die meisten Familien, von denen ich erzähle, waren Machtverbände, in denen es zwar durchaus Intimität und Wärme gab, Erziehung und Liebe, die zugleich aber auch den eigentümlichen, unerbittlichen Dynamiken der Politik unterworfen waren. Gerade in mächtigen Familien birgt Vertrautheit Gefahr. »Unheil«, warnte der chinesische Philosoph Han Fei seinen Herrscher im 3. Jahrhundert v. Chr., »kommt von denen, die du liebst.«

Bei vielen dieser Familien handelt es sich um Herrscherdynastien: »Geschichte ist etwas, das eine kleine Minderheit tut«, so Yuval Noah Harari, »während die anderen Äcker pflügen und Wasser schleppen.« Neben den Macht ausübenden Familien kommen in diesem Buch auch Sklaven, Ärzte, Maler, Schriftsteller, Henker, Generäle, Historiographen, Priester, Scharlatane, Wissenschaftler, Tycoons, Kriminelle – und Liebende vor. Sogar ein paar Götter.

Einige Familien und Familiengeschichten werden Ihnen als Leserinnen und Leser bekannt vorkommen, viele aber auch ganz unbekannt sein. Wir folgen den Ming in China, den Medici in Florenz und den Habsburgern in Österreich, aber auch den Dynastien von Mali, Mutapa, Dahomey, Oman, Afghanistan, Kambodscha, Brasilien, Iran, Haiti und Hawaii. Und wir berichten über Dschingis Khan, Sundiata Keïta, Kaiserin Wu, Ewuare den Großen, Iwan den Schrecklichen, Kim Jong-un, Itzcóatl, Andrew Jackson, König Henri von Haiti, Ganga Zumba, Kaiser Wilhelm II., Indira Gandhi, Pachacútec Inka und Hitler, über die Kenyattas, Castros, Assads, Sauds, Roosevelts, Rothschilds, Rockefellers und Trumps, über Kleopatra, de Gaulle, Khomeini, Gorbatschow, Marie Antoinette, Jefferson, Nader Schah, Mao und Obama, über Mozart, Balzac und Michelangelo ebenso wie über die Cäsaren, Moguln und Osmanen.

Das Grässliche und das Heimelige bestehen nebeneinander. Und so gibt es viele liebende Väter und Mütter, aber eben auch Ptolemaios VIII., den »Dickbauch«, der seinen Sohn zerstückelte und die Körperteile an die Mutter des Kindes schickte, oder Nader Schah, der wie Iris, die Kaiserin des IS, den eigenen Sohn blenden ließ. Königin Isabella folterte ihre Tochter, und Karl der Große soll mit seiner Tochter geschlafen haben. Die mächtige Osmanin Kösem ließ ihren Sohn erwürgen und wurde ihrerseits auf Befehl ihres Enkels getötet. Bei der Hochzeit ihrer Tochter inszenierte Katharina de’ Medici ein Massaker und duldete deren Verführung, womöglich sogar die Vergewaltigung durch ihre Söhne. Nero schlief mit seiner Mutter und ermordete sie später. Nachdem Shaka Zulu seine Mutter getötet hatte, nahm er dies zum Vorwand für ein Massaker. Saddam Hussein sorgte dafür, dass seine Söhne gegen seine Schwiegersöhne vorgingen. Brüder zu töten, ist auch heute noch in Machtfamilien endemisch. Kim Jong-un etwa ließ seinen Bruder auf sehr moderne Weise aus dem Weg räumen und dessen Ermordung mit einem Nervengift wie eine Fernsehshow als Scherz mit versteckter Kamera inszenieren.

Wir betrachten die Tragödien, die jugendlichen Töchtern widerfuhren, wenn sie von ihren kaltherzigen Eltern in ferne Länder geschickt wurden, wo sie Fremde heiraten mussten, um dann bei der Niederkunft zu sterben: Manchmal erleichterten ihre Ehen die Beziehungen zwischen den Staaten, häufiger aber bewirkten die Leiden der Frauen wenig, weil die Interessen des Staates Vorrang vor den familiären Bindungen hatten – ein Aspekt, den wir ebenfalls in den Blick nehmen. Darüber hinaus beleuchten wir auch die Triumphe versklavter Frauen – wie die von Kösem –, die zu Herrscherinnen über ganze Reiche aufstiegen. Erinnert sei an Sally Hemings, die versklavte Halbschwester von Thomas Jeffersons Frau, die dem Präsidenten heimlich Kinder gebar, oder an Raziah aus dem Sultanat von Delhi, die als Sultanin die Macht ergriff, aber dann wegen ihrer Affäre mit einem afrikanischen General ins Verderben stürzte, oder an die Kalifentochter Wallada, die sich in al-Andalus einen Ruf als Dichterin und Freigeist erwarb. Wir werden unsere Familien durch Pandemien, Kriege, Überschwemmungen und Aufschwünge begleiten und das Los der Frauen verfolgen, das sie vom Dorf bis auf den Thron und von der Fabrik bis ins Amt der Premierministerin führte, und wir werden über katastrophale Müttersterblichkeit und rechtliche Ohnmacht über das Wahlrecht bis hin zu Abtreibung und Empfängnisverhütung sprechen. Wir werden uns auch mit dem Schicksal der Kinder auseinandersetzen, von der entsetzlichen Kindersterblichkeit und Kinderarbeit früherer Zeiten bis hin zu den verwöhnten Stars der modernen Gesellschaft.

Im Mittelpunkt dieser Geschichte stehen einzelne Menschen, Familien und Herrschaftscliquen. Tatsächlich gibt es viele Wege, die Geschichte der Welt zu erzählen. Als Historiker interessieren mich besonders die Mechanismen der Macht und der Geopolitik. Die meiste Zeit meines Berufslebens habe ich über russische Machthaber geforscht und geschrieben, denn sie verkörpern die Art von Geschichte, die ich selbst immer gern gelesen habe. Es ist eine Geschichte voller Leidenschaft, Phantasie und Sinnlichkeit, eine Geschichte über Menschen, die von Furien gejagt werden oder einfach unter den Härten des gewöhnlichen Lebens zu leiden haben. Und das hat die reine Wirtschaftsoder Politikgeschichte nun einmal nicht zu bieten. Dieser menschliche Blickwinkel auf die Weltgeschichte hat den großen Vorteil, dass er nicht nur politische, wirtschaftliche und technische Veränderungen, sondern auch familiäre Entwicklungen sichtbar macht. Dieses Buch zeigt, wie Menschen seit jeher in einem System um ihre Handlungsfähigkeit rangen und sich gegen die unpersönlichen, das Dasein bestimmenden Kräfte stemmten. Und doch schließen diese beiden so gegensätzlichen Dimensionen einander nicht zwingend aus. »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte«, schrieb Karl Marx, »aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Oftmals wird Geschichte so dargestellt, als wären Ereignisse, Revolutionen und Paradigmen stakkatoartig aufeinandergefolgt, erlebt von Menschen, die sich ordentlich kategorisieren, definieren und zuordnen lassen. Die Geschichte der Familien offenbart jedoch etwas ganz anderes: Sie öffnet den Blick auf idiosynkratische, einzigartige Menschen, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte in einer vielschichtigen, hybriden, kaleidoskopischen, liminalen, das heißt, in einer im Schwellenzustand befindlichen Welt leben, lachen und lieben. Und genau diese Welt entzieht sich all unseren Versuchen, sie zu kategorisieren oder mit bestimmten Identitäten zu versehen.

Die Familien und Menschen, denen ich in diesem Buch nachspüre, ragen als Herrscher oder Künstler in der Regel zwar aus der Masse heraus, verraten dessen ungeachtet aber viel über ihre Zeit und über die Orte, an denen sie lebten. Auf diese Weise lässt sich neben der Entwicklung von Königreichen und Staaten und der Vernetzung von Völkern ebenso untersuchen, wie unterschiedliche Gesellschaften Außenseiter integrieren oder zusammenbringen. Das vorliegende Buch ist ein vielschichtiges Drama synchroner Erzählstränge, die an unterschiedlichen Orten spielen, aber letztlich zu ein und derselben Geschichte gehören. Dadurch fange ich hoffentlich etwas von der chaotischen Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit des wahren Lebens und von dem Gefühl ein, dass vieles an anderen Orten in ganz anderen Bahnen verläuft.

Eines der übergreifenden Themen dieses Buches ist die Staatenbildung durch Migration. Dazu betrachten wir ebenso ortsgebundene wie in Bewegung befindliche oder durch Bewegung geformte Familien, denn es sind die großen Massenmigrationen von Familien – Wanderungen und Eroberungen –, die beinahe jede Ethnie und jede Nation erschaffen haben.

So wie wir die Kernfamilien beleuchten, folgen wir auch den großen, sich häufig zu Clans und Stämmen auswachsenden Machtfamilien. Die Kernfamilie ist für uns alle eine biologische Tatsache, die für die meisten von uns mit elterlicher Fürsorge verbunden ist, wie gut oder schlecht sie im Einzelfall auch ausgeprägt sein mag. Dynastien dagegen sind Konstrukte aus Vertrauen und Abstammung, die dazu dienen, Macht und Reichtum zu erhalten, und die vor Gefahren schützen sollen. Beides ist fest in unseren Instinkten verankert, denn in vielerlei Hinsicht sind wir alle Mitglieder von Dynastien, und das macht diese Familiengeschichte zu einer Chronik über uns alle. Nur stehen herrschenden Familien ganz andere Mittel zur Verfügung; bei ihren Machtspielen geht es oftmals buchstäblich um Leben und Tod.

In Europa und den USA neigen wir dazu, die Familie als kleine Einheit zu betrachten, die im Zeitalter von Individualismus, Massenpolitik, Industrialisierung und Hochtechnologie ihre politische Bedeutung verloren hat. Wir glauben, dass wir die Familien nicht mehr so wie früher benötigen. Daran ist durchaus etwas Wahres, erhielt doch die Familie im Laufe der Zeit einen anderen Stellenwert. Auch in Zeiten, in denen sich keine prominenten Familien hervorgetan haben, stütze ich mich bei meinen komplexen Narrativen auf die Charakterzüge und Verbindungen der Menschen. Denn wie sich zeigt, hat sich das Konzept der Dynastie in unserer individualistischen, vermeintlich rationalen Welt zwar weiterentwickelt, ist aber keineswegs verschwunden. Ganz im Gegenteil.

»Ein erblicher Herrscher ist ebenso widersinnig als ein erblicher Doktor«, betonte Thomas Paine während der Amerikanischen Revolution. Und er musste es wissen, schließlich wurde damals, wie so viele Professionen, auch der Arztberuf vererbt. Ein wesentlicher Grund dafür, dass Herrschaft weitervererbt wurde, war die Religion, denn man glaubte fest daran, dass Herrscher als Vertreter oder sogar Verkörperung des göttlichen Willens agierten. Ihre Heiligkeit, die daraus resultierte, schloss auch die Herrscherfamilien ein und ließ die Erbfolge als etwas Natürliches erscheinen, weil sich darin die auf Abstammung beruhende natürliche Gesellschaftsordnung spiegelte. Nach 1789 entwickelte sich eine Theologie der geheiligten Dynastien, um neuen nationalen, populären Paradigmen und nach 1848 der Massenpolitik zu entsprechen. Die traditionelle Religion mit ihrem Weihrauch und Glockengeläut ist heute weniger präsent, doch unsere sogenannten säkularen Gesellschaften sind nicht weniger religiös als die unserer Vorfahren, und unsere heutigen Orthodoxien sind nicht weniger starr und absurd als die alten Religionen. Der Menschheit scheint nämlich ein starkes Bedürfnis, dass alle Menschen durch den Glauben erlöst werden mögen, innezuwohnen, das jeden Einzelnen, jede Familie und jede Nation nach einer gerechten Mission suchen lässt, die der Existenz Gestalt und Sinn verleiht. »Wer ein Warum zum Leben hat«, sagt Nietzsche, »erträgt fast jedes Wie.« Deshalb ist die Religiosität ein wichtiges Thema dieses Buches.

Unsere heutigen liberalen Demokratien rühmen sich gerne ihrer rein rationalen Politik, in der Sippen, Verwandtschaft und Beziehungen keine große Bedeutung mehr zukommt. Das stimmt insofern, als die Familie in ihnen eine vergleichsweise geringe Rolle einnimmt. Dennoch geht es in der Politik nach wie vor eher darum, jemanden zu begünstigen, als um Inhalte. Selbst moderne Staaten wie die Demokratien in Nordamerika und Westeuropa sind komplexer und längst nicht so rational, wie wir uns gerne einreden, denn formale Institutionen, zu denen auch die Familie gehört, werden oftmals durch informelle Netzwerke und Interessengemeinschaften umgangen. Man denke nur an mächtige Familiendynastien wie die Kennedys und Bushs, die Kenyattas und Khamas, die Bhuttos, Lees und Nehrus, die in vielen Demokratien oder Semidemokratien für Sicherheit und Kontinuität stehen, aber erst gewählt werden müssen (und folglich auch bei den Wahlen durchfallen können). Untersuchungen in den USA, Indien und Japan haben gezeigt, dass die Mitglieder großer Familiendynastien dort bis heute immer wieder in den Parlamenten und im Staatsdienst auftauchen. Und dann ist da noch die wachsende Zahl erblicher Herrscher in Asien und Afrika, die – hinter republikanischen Institutionen verborgen – in Wirklichkeit Monarchen sind.

»Verwandtschaft und Familie bleiben eine Macht, mit der man rechnen muss«, schrieb Jeroen Duindam, der Altmeister der Dynastieforschung. »Personalisierte und dauerhafte Formen der Führung in Politik und Wirtschaft neigen auch heute noch dazu, halb dynastische Züge anzunehmen.«

Familie und Macht sind also wandelbar und können im Laufe der Zeit unterschiedliche Formen annehmen. Daneben existiert ein diesen beiden Faktoren entgegengesetztes, zugleich jedoch eng mit ihnen verbundenes Phänomen: die Sklaverei. Durch Haussklaven war sie von Anfang an in den Familien der Sklavenhalter präsent, während sie die Familien der Versklavten zerstörte. Das macht die Sklaverei zu einer Art Anti-Familien-Institution. Wie die Konkubinen in islamischen Harems oder die Geschichte von Sally Hemings und Thomas Jefferson im Sklaven haltenden Amerika zeigen, konnten Sklaven zwar als Mitglieder in die Familien ihrer Besitzer integriert sein, doch hatten sie niemals irgendeine Wahl, denn ihr Dasein war unverhohlen von Zwang oder sogar ungehemmt von Vergewaltigung geprägt. Familie war und ist für viele Menschen also keine Selbstverständlichkeit.

Dieses Buch spiegelt eine Reihe neuer, längst überfälliger Entwicklungen in der Geschichtsschreibung wider, schließlich widmet es sich ausführlich den Völkern Asiens und Afrikas sowie der Frage, wie politische Ordnungen, Sprachen und Kulturen miteinander verflochten sind und welche Rolle Frauen und die ethnische Vielfalt spielen. Doch die Geschichte ist zu einem Feuerrad geworden, das sich beständig dreht und die Flammen des Wissens und des Unwissens gleichermaßen entfacht. Man muss sich nur die verwüsteten Informationslandschaften auf Twitter oder Facebook mit ihrem Geblubber aus Vorurteilen und Verschwörungstheorien ansehen, um zu erkennen, wie sich die Geschichte durch digitale Verzerrung immer mehr zersplittert. Geschichte war schon immer wichtig, schließlich sorgt eine wie auch immer imaginierte goldene, mit Heldenepen angereicherte Vergangenheit nicht nur für Legitimität und Authentizität, ihr wohnt auch eine tief im menschlichen Wesen verwurzelte Heiligkeit inne, die oftmals in den Geschichten von Familien und Nationen zum Ausdruck kommt. Jede Ideologie, jede Religion und jedes Imperium ist bestrebt, diese sakrosankte Vergangenheit zu kontrollieren, um ihr Handeln in der Gegenwart zu legitimieren. Bis heute mangelt es auf der Welt nicht an Versuchen, die Geschichte in ein ideologisches Korsett zu zwängen.

Die alten kindlichen Kategorien von »Gut« und »Böse« haben wieder Konjunktur, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Doch wie James Baldwin schon sagte: »Eine erfundene Vergangenheit kann niemals verwendet werden. Sie bricht und bröckelt unter dem Druck des Lebens wie Ton in einer Dürrezeit.« Ein ideologisch geprägter Jargon, der laut Foucault in der Regel auf eine Zwangsideologie hindeutet, die »dazu tendiert, auf die anderen Diskurse Druck und Zwang auszuüben«, bestätigt eine solche Klitterung am deutlichsten. Ein solcher Jargon verschleiert nämlich das Fehlen einer faktischen Grundlage, schüchtert Andersdenkende ein und erlaubt es Kollaborateuren, ihre tugendhafte Konventionalität zur Schau zu stellen. »Was ist dann«, so Foucault weiter, »im Willen zur Wahrheit, im Willen, den ›wahren‹ Diskurs zu sagen, am Werk – wenn nicht das Begehren und die Macht?« Und Baldwin warnte: »Niemand ist gefährlicher als derjenige, der sich einbildet, reinen Herzens zu sein, denn seine Reinheit ist per definitionem unangreifbar.« Geschichtsideologien überleben nur selten den Kontakt mit der Unordnung, den Zwischentönen und der Komplexität des wirklichen Lebens: »Das Individuum, das die Macht konstituiert hat«, so Foucault, »ist zugleich ihr Vehikel.«

Der Schwerpunkt in diesem Buch muss zwangsläufig auf dunklen Aspekten der Geschichte wie Krieg, Verbrechen, Gewalt, Sklaverei und Unterdrückung liegen, weil sie nicht nur Bestandteile des Lebens, sondern oftmals auch Antriebskräfte des Wandels sind. Die Geschichte ist, wie Hegel schrieb, als »Schlachtbank« zu betrachten, »auf welcher das Glück der Völker ... zum Opfer gebracht worden« ist. Der Krieg ist demnach immer ein Brandbeschleuniger: »Das Schwert verkündet mehr Wahrheiten als Bücher, denn seine Schneide trennt Weisheit von Eitelkeit«, meinte Abu Tammam Habib ibn Aus, ein irakischer Dichter aus dem 9. Jahrhundert. »Wissen findet man im Funkeln der Lanzen.« Und jedes Heer, so Leo Trotzki, »ist ein Abbild der Gesellschaft und leidet an allen ihren Krankheiten, meistens mit erhöhter Temperatur.« Imperien, also Staaten mit zentralisierter Herrschaft und kontinentalen Ausmaßen, die über verschiedene Völker gebieten, können vielerlei Gestalt annehmen. Eine Erscheinungsform sind die Steppenreiche der Reiternomaden, die sesshafte Gesellschaften über viele Jahrtausende bedrohten, eine völlig andere die transozeanischen europäischen Reiche, die die Welt zwischen 1500 und 1960 beherrschten. Heutzutage konkurrieren »Imperien« wie China, Amerika und Russland miteinander, die von einer nationalen Vision mit kontinentaler Reichweite getragen werden. In Moskau etwa kontrollieren Imperialisten, die durch einen neuen Ultranationalismus gestärkt sind, das flächenmäßig größte nationale Imperium der Welt – mit tödlichen Folgen. Der Wettstreit der Weltmächte – Papst Julius II. nannte es »das Weltspiel« – erweist sich als unerbittlich, denn Erfolge sind von vorübergehender Natur, und der Preis, den die Menschen dafür zahlen, ist immer zu hoch.

Viele marginalisierte und verschwiegene Verbrechen müssen noch vollständig aufgeklärt werden. Ziel dieses Buches ist eine differenzierte Darstellung, die die Menschen und ihre Gemeinschaften so zeigen soll, wie sie nun einmal sind: kompliziert und mit Fehlern behaftet, aber eben auch inspirierend. Das beste Mittel gegen die Verbrechen der Vergangenheit besteht darin, sie möglichst hell zu beleuchten. Wenn sie schon nicht mehr bestraft werden können, sollten wir sie zumindest nicht unter den Teppich kehren, denn das ist die einzige Form der Wiedergutmachung, die zu leisten wir noch imstande sind. Dieses Buch soll daher ein Scheinwerfer sein, der Errungenschaften und Untaten ins Licht rückt, ganz gleich, wer sie zu verantworten hat. Ich werde versuchen, die Geschichten so vieler unschuldig zu Tode gekommener, versklavter und unterdrückter Menschen zu erzählen, wie ich nur kann. Denn jeder Einzelne zählt.

Heute verfügen wir über wissenschaftliche Methoden wie die Radiokarbondatierung, die DNA-Analyse oder die Glottochronologie, die uns tiefere Einblicke in die Vergangenheit ermöglichen und die Schäden aufzeigen, die der Mensch seiner Erde durch Erderwärmung und Umweltzerstörung zufügt. Doch ungeachtet aller neuen Messund Forschungsmethoden geht es in der Geschichte letztlich immer um Menschen. Meine letzte Reise, bevor ich diese Zeilen zu Papier brachte, führte mich nach Ägypten. Als ich dort die wunderschönen Fayum-Porträts sah, fiel mir auf, wie ähnlich uns diese Menschen aus dem 1. Jahrhundert sehen. Sie und ihre Familien haben vieles mit uns gemeinsam, obwohl es selbstverständlich auch immense Unterschiede gibt. In unserem eigenen Leben verstehen wir oftmals kaum die Menschen, die wir gut zu kennen glauben. Umso mehr muss man sich in der Geschichtsforschung darüber im Klaren sein, dass wir im Grunde nur sehr wenig über die Menschen aus der Vergangenheit oder die Funktionsweise ihrer Familien wissen. Und schon gar nicht können wir sagen, was in ihren Köpfen vorging.

Historiker laufen stets Gefahr, in eine teleologische Sichtweise zu verfallen, also Ereignisse so darzustellen, als habe ihr Ausgang von Anfang an festgestanden. Und wer nur eine Zukunft vorhersagen kann, die bereits passiert ist, taugt als Prophet nicht viel. Das liegt daran, dass Historiker oftmals gar nicht so sehr die Vergangenheit dokumentieren oder die Zukunft prophezeien, sondern vielmehr ihre eigene Gegenwart abbilden. Um die Vergangenheit wirklich verstehen zu können, muss man jedoch in der Lage sein, die Gegenwart abzuschütteln. Die Aufgabe eines Historikers ist es, sich das Leben in der Vergangenheit in seiner gesamten Bandbreite vorzustellen und dabei alles einzubeziehen, was er weiß.

Ein Welthistoriker ist, wie al-Masudi im 10. Jahrhundert zu Papier brachte, »ein Mann, der Perlen aller Art und Farben gefunden hat, sie zu einer Halskette zusammenfasst und zu einem Ornament macht, das sein Besitzer mit großer Sorgfalt bewacht.« Genau diese Art Weltgeschichte wollte ich schreiben.

Die Fußstapfen der Familie am Strand von Happisburgh wurden bald nach ihrer Entdeckung 2013 von den Gezeiten überspült und ausgelöscht. Nachdem sie damals entstanden waren, sollte es noch Hunderttausende Jahre dauern, bis das begann, was wir Geschichte nennen.

05.11.2023, 13:42

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