Machtstrukturen der Gegenwart

Leseprobe Mehr globale Gerechtigkeit: Thomas Piketty benennt den Fortschritt in der Geschichte und zeigt, mit welchen Mitteln er erzielt wurde – zugleich verwandelt er die historischen Einsichten in einen Aufruf, den Kampf für mehr Gerechtigkeit fortzusetzen
Die Leitwährung des internationalen Finanzsystems: der US-Dollar
Die Leitwährung des internationalen Finanzsystems: der US-Dollar

Foto: LUIS ROBAYO/AFP via Getty Images

Eine neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Dass diese Kurze Geschichte der Gleichheit sich heute schreiben lässt, ist vor allem den zahlreichen internationalen Arbeiten zu danken, die in den letzten Jahrzehnten die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung zutiefst verändert haben.

Ich werde mich namentlich auf die vielfältigen Untersuchungen stützen, die eine wahrhaft globale Perspektive auf die Geschichte des Kapitalismus und der Industriellen Revolution allererst eröffnet haben. So etwa das Werk, das Ken Pomeranz 2000 zur «Großen Kluft» zwischen Europa und China im 18. und 19.Jahrhundert veröffentlicht hat, wahrscheinlich das wichtigste und einflussreichste Buch zur Geschichte der Weltwirtschaft seit Fernand Braudels Die Geschichte der Zivilisation. 15.–18. Jahrhundert von 1979 und Immanuel Wallersteins Arbeiten über die «Weltsysteme». Die Entwicklung des westlichen Industriekapitalismus ist nach Pomeranz unauflöslich an die internationalen Systeme der Arbeitsteilung, an die hemmungslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die von den europäischen Mächten über den Rest der Planeten ausgeübte Militärund Kolonialherrschaft gebunden. Diese Schlussfolgerung ist von jüngeren Arbeiten, ob es sich nun um die Untersuchungen von Prasannan Parthasarathi oder von Sven Beckert handelt oder um Arbeiten im Umkreis der «neuen Geschichte des Kapitalismus», eindrucksvoll bestätigt worden.

Die Geschichte der Kolonialreiche und der Sklaverei wie die Global and Connected History haben in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren insgesamt enorme Fortschritte gemacht und ich werde mich intensiv auf diese Arbeiten stützen. Ich denke insbesondere an die Forschungen von Frederick Cooper, Catherine Hall, Or Rosenboim, Emmanuelle Saada, Pierre Singaravélou, Sanjay Subrahmanyam, Alessandro Stanziani und zahlreicher anderer, die in meiner Darstellung zu Wort kommen werden. Meine Arbeit ist auch inspiriert vom Wiederaufleben der Forschungen zur Sozialgeschichte und zur Geschichte sozialer Kämpfe.

Ebenso wenig hätte diese Kurze Geschichte der Gleichheit sich ohne die Fortschritte der Geschichte der Reichtumsverteilung zwischen sozialen Klassen schreiben lassen. Diese historische Disziplin hat ihrerseits eine lange Geschichte. Alle Gesellschaften haben Erkenntnisse und Untersuchungen über das tatsächliche, angenommene oder erstrebenswerte Wohlstandsgefälle zwischen Reichen und Armen hervorgebracht, angefangen mit Platons Politeia oder seinen Nomoi (die Kluft, rät Platon dort, sollte nicht größer als eins zu vier sein). Im 18. Jahrhundert erklärt Jean-Jacques Rousseau, die Erfindung und maßlose Anhäufung von Privateigentum stehe am Ursprung der Ungleichheit und der Zwietracht unter den Menschen. Erst mit der Industriellen Revolution freilich werden wirkliche Untersuchungen zu Löhnen und Lebensumständen von Arbeitern angestellt und neue Quellen der Einkommens-, Eigentumsund Gewinnermittlung erschlossen. Im 19.Jahrhundert versucht Karl Marx, das Beste aus den britischen Finanzdaten und Nachlassverzeichnissen seiner Zeit zu machen, auch wenn die Mittel und Quellen, die ihm zu Gebote stehen, sehr dürftig sind.

Systematischere Gestalt nehmen die Forschungen zu diesen Fragen im Laufe des 20. Jahrhunderts an. Die Forscher beginnen, in großem Stil Daten über Preise und Löhne, Grundrenten und Gewinne, Erbschaften und Grundstücke zu sammeln. 1933 veröffentlicht Ernest Labrousse seine Esquisse du mouvement des prix et des revenus en France au 18e siècle, eine monumentale Studie über den Rückgang der landwirtschaftlichen Löhne gegenüber Getreidepreisen und Grundrente in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution, im Kontext starken Bevölkerungsdrucks. Man wird dies kaum als einzige Ursache der Revolution begreifen wollen, aber klar ist, dass es die wachsende Unbeliebtheit der Aristokratie und des bestehenden politischen Regimes verstärkte. In ihrer dem Mouvement du profit au XIXe siècle gewidmeten Arbeit von 1965 verdeutlichen Jean Bouvier und seine Mitautoren von den ersten Zeilen an, welchem Forschungsprogramm sie sich verschrieben haben: «Solange die Einkommen unterschiedlicher Klassen der heutigen Gesellschaft von der wissenschaftlichen Forschung nicht erfasst werden, wird sich eine tragfähige Wirtschafts- und Sozialgeschichte nicht in Angriff nehmen lassen.»

Häufig mit der von 1930 bis 1980 besonders einflussreichen Annales-Schule assoziiert, widmet sich diese neue Wirtschafts- und Sozialgeschichte auch der Untersuchung von Eigentumssystemen. 1931 veröffentlicht Marc Bloch seine klassische Studie zum Charakter mittelalterlicher und moderner Agrarsysteme. Adeline Daumard legt 1973 die Befunde einer breit angelegten Auswertung französischer Nachlassarchive des 19.Jahrhunderts vor. Die Bewegung stagniert seit den 1980er Jahren ein wenig, aber sie hat bleibende Spuren in der sozialwissenschaftlichen Forschungspraxis hinterlassen. So haben im Laufe des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Historikern, Soziologen und Ökonomen, von Christian Baudelot und Emmanuel Le Roy Ladurie bis zu Gilles Postel-Vinay, zahlreiche historische Untersuchungen zu Löhnen und Preisen, zu Einkommen und Vermögen, zum Zehnten und zum Grundbesitz veröffentlicht.

Gleichzeitig haben US-amerikanische und britische Wissenschaftler dazu beigetragen, die Fundamente einer Geschichte der Wohlstandsverteilung zu legen. 1953 verknüpft Simon Kuznets die ersten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (die er mit anderen im Gefolge des Traumas der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre ins Leben gerufen hatte) mit Daten aus der Bundeseinkommensteuer (die 1930 nach langen politischen und verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen eingeführt worden war), um die Entwicklung des Anteils hoher Einkommen am Nationaleinkommen zu berechnen. Kuznets’ Untersuchung berücksichtigt nur ein einziges Land (die Vereinigten Staaten) während eines relativen kurzen Zeitraums (1913–1948), aber es handelt sich um die erste Untersuchung ihrer Art und sie erregt großes Aufsehen. Robert Lampman wird 1972 entsprechend mit Daten aus der Bundeserbschaftsteuer verfahren. 1978 vertieft Tony Atkinson diese Analyse am Beispiel britischer Erbschaftsdaten.Historisch noch weiter zurück geht Alice Hanson Jones, die 1977 die Ergebnisse ihrer breit angelegten Untersuchung der US-amerikanischen Nachlassverzeichnisse der Kolonialzeit vorlegt.

Auf der Grundlage dieser früheren Arbeiten ist zu Beginn der 2000er Jahre ein neues historisches Forschungsprogramm zu Einkommensund Vermögensverhältnissen entstanden, an dem teilzunehmen ich das Glück hatte, mit der maßgeblichen Unterstützung sehr vieler Kollegen wie Tony Atkinson, Facundo Alvarez, Lucas Chancel, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman.Verglichen mit den früheren Arbeiten hat dieser neue Anlauf von avancierteren technischen Mitteln profitiert. Zwischen 1930 und 1980 führten Labrousse, Daumard oder Kuznets ihre Forschungen praktisch ausschließlich von Hand auf Karteikarten durch. Jede Datenerhebung und jede Ergebnistabelle erforderten einen erheblichen technischen Aufwand, sodass dem Forscher mitunter wenig Zeit und Energie für die Arbeit der historischen Auslegung, der Mobilisierung anderer Quellen und der kritischen begrifflichen Arbeit blieb. Fraglos hat dies dazu beigetragen, eine Geschichtswissenschaft zu schwächen, die zuweilen als zu seriell galt (also zu sehr auf die Erstellung zeitlich und räumlich vergleichbarer historischer Reihen konzentriert, die eine notwendige, aber keinesfalls zureichende Bedingung sozialwissenschaftlichen Fortschritts sind). Die während dieser ersten Forschungsphase erhobenen Daten haben zudem wenig Spuren hinterlassen, was ihrer möglichen Wiederverwendung und einem echten Kumulationsprozess nicht förderlich war.

Umgekehrt haben die Fortschritte der Digitalisierung es möglich gemacht, die Analyse auf größere Zeiträume und eine größere Zahl von Ländern auszudehnen. Aus diesem Forschungsprogramm hervorgegangen, vereint die World Inequality Database (WID.world) 2021 die Anstrengungen von fast 100 Forschern, die sich auf über 80 Länder beziehen.Die über Einkommensund Vermögensverteilung zusammengetragenen Daten erstrecken sich in bestimmten Fällen vom 18. und 19. Jahrhundert bis in die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Durch diesen erweiterten Zeit- und Vergleichshorizont ließen sich die Vergleiche vervielfältigen und bedeutende Fortschritte in der sozialwissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Interpretation der beobachteten Entwicklungen erzielen. Diese kollektive Arbeit war es, die mich dazu ermuntert hat, 2013 und 2019 zwei Bücher zu veröffentlichen, die eine erste deutende Synthese der historischen Entwicklung der Wohlstandsverteilung bieten und öffentliche Debatten über diese Fragen angeregt haben.Im Anschluss an die in den 1960er Jahren von den Politikwissenschaftlern Seymour Lipset und Stein Rokkan angestoßenen Arbeiten habe ich gemeinsam mit Amory Gethin und Clara Martinez-Toledano den Strukturwandel sozialer Ungleichheiten und politischer Spaltungen untersucht.Trotz der Fortschritte, die diese verschiedenen Untersuchungen gezeitigt haben, muss aber unterstrichen werden, dass noch viel zu tun bleibt, um Quellen und Kenntnisse miteinander zu verknüpfen und so die an den freigelegten Veränderungen beteiligten Vorstellungen und Institutionen, Mobilisierungen und sozialen Kämpfe, Strategien und Akteure angemessen analysieren zu können.

Wenn es also, allgemeiner gesprochen, heute möglich ist, diese Kurze Geschichte der Gleichheit zu schreiben, dann dank sehr vieler sozialwissenschaftlicher Arbeiten, die sich der unterschiedlichsten Methoden bedienen und unsere Erkenntnisse in diesen Fragen vorangebracht haben. So hat in den letzten Jahren insbesondere eine neue Generation interdisziplinär arbeitender Forscher mit Forschungen an der Grenze zwischen Geschichte, Ökonomie, Soziologie, Recht, Anthropologie und Politikwissenschaften das Nachdenken über die sozialgeschichtlichen Dynamiken der Gleichheit und Ungleichheit erneuert. Ich denke an die Arbeiten von Nicolas Barreyre, Tithi Bhattacharya, Erik Bengtsson, Asma Benhenda, Marlène Benquet, Céline Bessière, Rafe Blaufarb, Julia Cagé, Denis Cogneau, Nicolas Delalande, Isabelle Ferreras, Nancy Fraser, Sibylle Gollac, Yajna Govind, David Graeber, Julien Grenet, Stéphanie Hennette, Camille Herlin-Giret, Élise Huillery, Stephanie Kelton, Alexandra Killewald, Claire Lemercier, Noam Maggor, Dominique Méda, Éric Monnet, Ewan McGaughey, Pap Ndiaye, Martin O’Neill, Hélène Périvier, Fabian Pfeffer, Katharina Pistor, Patrick Simon, Alexis Spire, Pavlina Tcherneva, Samuel Weeks, Madeline Woker, Shoshana Zuboff und so vielen anderen, die ich hier nicht alle erwähnen kann und die im Verlauf des Textes auftauchen werden.

23.08.2022, 17:57

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