Kreisläufe sind nachhaltig, Durchläufe nicht

Leseprobe Wir kaufen ein, wo es am billigsten ist, und verkaufen, wo der größte Profit winkt. Die Folgen unserer Geschäfte interessieren nicht – ob sie Kriege finanzieren oder das Treibhaus anheizen. Ökonomische und moralische Maßstäbe klaffen auseinander
Ohne ihre Arbeit ist eine nachhaltige Landwirtschaft undenkbar: Bienen
Ohne ihre Arbeit ist eine nachhaltige Landwirtschaft undenkbar: Bienen

Foto: ROUF BHAT/AFP via Getty Images

Vorwort

Mehr als eine Worthülse

Nachhaltigkeit als Vertrauenswährung im Marketing – Der Verschiebebahnhof – Alles eine Frage der Zeit – Umwelt, Mitwelt, Innenwelt

1. Regenerativ: vom klugen Umgang mit der Natur

Was stellt uns die Natur zur Verfügung? – Zeiten der Stoffe – Zeiten der Energie – Zeiten des Lebens – Zyklus I: Mit den Früchten begnügen – Und was heißt das praktisch?

2. Reziprok: vom klugen Umgang mit dem Mitmenschen

Was ist fair gegenüber Mitmenschen? – Zeiten der Kooperation – Zeiten der Kommunikation – Zyklus II: Sich wechselseitig anerkennen – Exkurs: Selektion gemäß der „Hitler-Formel“ – Und was heißt das praktisch?

3. Reflexiv: vom klugen Umgang mit sich selbst

Was braucht und was kann der Mensch? – Zeiten des Körpers – Zeiten der Seele – Zeiten des Geistes – Zyklus III: Mit sich selbst im Reinen sein – Und was heißt das praktisch?

Zeit ist Leben

Korrektur eines Irrwegs – Lärm des Geldes versus Symphonie des Lebens – Zeitpolitik, gutes Leben und Zeitwohlstand

Anmerkungen

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Vorwort

Wir kaufen Öl und Gas, wo es am billigsten ist, verkaufen Autos und Maschinen, wo sie am meisten Geld bringen. Kaum jemand hat bisher interessiert, was mit dem Geld, das wir beim Kaufen ausgeben, anschließend geschieht, und woher das Geld, das wir beim Verkaufen einnehmen, eigentlich kommt. Die Abhängigkeit von Russland ist das aktuellste, der China-Boom das folgenreichste Beispiel. Unsere Kalküle beziehen das, was all dieses Geld den natürlichen Lebensgrundlagen, den Standards des Zusammenlebens und uns selbst antun, nicht wirklich ein. Klimakrise, Artensterben und Hunger sind die Quittung dafür. Und selbstverstärkende Rückkopplungen, treffend als Teufelskreise bezeichnet, lassen sich längst nicht mehr übersehen. Aktuell zwischen ökologischer Nische und Krieg: Je enger die ökologische Nische für das Leben im Wohlstand, desto lauter der Ruf nach seiner militärischen Absicherung, je aufwändiger diese Absicherung, desto mehr schrumpft die Nische für den Menschen.

Der Mythos vom „Wandel durch Handel“ löst sich auf wie Schall und Rauch, die Floskel vom „wertebasierten Realismus“ entlarvt sich täglich. Die alten Orientierungsmarken taugen nicht mehr. Unsere Werte zerbröseln: in materielle und ideelle, in Geld und Moral. Lauter Dilemmata, wohin man auch sieht: „Eigentlich - Aber!“ Was rauskommt, sind faule Kompromisse und jede Menge Heuchelei. Wir messen mit zweierlei Maß und haben keine Ahnung, wie diese Maße zusammenpassen: die florierende Wirtschaft und das gute Leben – das idealerweise auch noch ein gutes Gewissen bereiten soll.

In Krisenzeiten zeigt sich immer wieder neu, was im Normalbetrieb erfolgreich verdrängt wird. Genau das hat uns auch die Pandemie gelehrt. Sie hat uns vorgeführt, dass nicht mehr alles machbar ist, was wir uns wünschen. Dass wir also wählen müssen, was wichtig ist und was nicht. Die Rede war gar von „Systemrelevanz“. Und die Pandemie hat auch bewiesen, dass die Politik in der Not zu Maßnahmen greift, die sie vorher nicht einmal zu denken gewagt hat. Insgesamt eigentlich eine gute Botschaft: Wir könnten auch anders!

„Schneller, höher, weiter!“ „Aber wohin?“ Wir haben uns verlaufen, mit unserem „Fortschritt“. Jetzt wäre eine Vogelperspektive hilfreich, ein größerer Ausschnitt, eine Karte. Wo sind wir eigentlich? Wo kommen wir her? Wo wollen wir hin? Dieses Buch ist ein Orientierungsangebot. In einer Situation, in der uns der alte Kompass unübersehbar immer mehr in die Irre führt, geht das Angebot zur Neuorientierung von einer ebenso häufig beanspruchten wie längst zur Floskel verkommenen Leitidee aus: der Idee der „Nachhaltigkeit“. In den drei Kapiteln dieses Buches wird die Zeitdimension, die diesem Begriff zugrunde liegt, ernst genommen und nach und nach konkretisiert. So entstehen Konturen einer Alternative zum perspektivlosen „Weiter so“ – eine Vision, die mit guten Gründen beanspruchen kann, konservativ und revolutionär zugleich zu sein.

Mehr als eine Worthülse

Kitzbühel ist vor allem wegen seiner ausgezeichneten Wintersportmöglichkeiten einer der angesagtesten Orte in den österreichischen Alpen. Unweit von Kitzbühel, wo seit 1524 Bergbauern das Weiderecht für ihre Kühe haben, baut nun eine thailändische Firma ein Wellness-Resort der Luxusklasse: ein Hotel, 45 Appartements, 13 Chalets und drei Restaurants. Ein „Öko“-Luxus-Resort, konsequent am Leitbild der „Nachhaltigkeit“ ausgerichtet, verspricht der Investor. Die Baumaterialen seien naturnah, alles komplett plastikfrei, die Heizwärme komme aus der Erde, die Restaurants böten regionale Kost. Beim Kauf eines Chalets im Wert von 5,5 Millionen Euro gibt es, als Krönung der Nachhaltigkeit, einen Elektro-Porsche gratis dazu – natürlich in „veganer Ausstattung“, weil der Bodenbelag aus recycelten Fischernetzen bestehe.

Wer am Puls der Zeit sein will, kommt heute am Bekenntnis zur „Nachhaltigkeit“ nicht mehr vorbei.Bei manchen Gütern, deren Eignung als Beitrag zur Umsetzung des Leitbilds der Nachhaltigkeit nicht jedem sofort einleuchtet, besteht Rechtfertigungsbedarf. Dabei begegnet uns ein vertrautes Bild. Vor einiger Zeit schon warben zum Beispiel Hersteller von Kinderschokolade damit, dass die Käufer mit dem Kauf dieser Süßigkeiten auch gleich ein Programm zur Gesundheitserziehung für Kinder mitfinanzieren könnten. Heute begründen die Hersteller von SUVs, mit den Umsätzen, die mit solchen Fahrzeugen gemacht werden, könne überhaupt erst die Entwicklung von Elektroautos finanziert werden. Es muss also offenbar immer erst Schädliches produziert werden, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, den Schaden wieder gutzumachen.

Nachhaltigkeit als Vertrauenswährung im Marketing

Der Begriff „nachhaltig“ verkauft sich hervorragend. Nachhaltigkeit soll Zukunftsfähigkeit und Enkeltauglichkeit signalisieren und so für ein gutes Gewissen sorgen. Nachhaltigkeit ist heute zur generellen Vertrauenswährung im Marketing verkommen. In einer Zeit, in der Fake-News an allen Ecken und Enden die öffentliche Kommunikation vergiften, gilt eine solche Vertrauenswährung offensichtlich als unverzichtbar. Fast alles, was verkauft werden soll, beansprucht heute das Etikett „nachhaltig“, zuletzt sogar Investments in Gas-, Atom- und Rüstungstechnologie. Auch die Politik legt längst Wert auf das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Staaten schließen heute kein Freihandelsabkommen mehr ab, ohne ein Nachhaltigkeitskapitel einzufügen. All das ist Grund genug, die Nachhaltigkeitsidee einem Fakten-Check zu unterziehen.

Das deutsche Wort „Nachhaltigkeit“ ist eine Übersetzung des englischen Wortes „sustainability“. Nachhaltigkeit bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Durchhaltbarkeit und Dauerhaftigkeit. Erstmals aufgetaucht ist ein Vorläufer des Wortes in einem forstwirtschaftlichen Lehrbuch aus dem Jahr 1713. Eine „continuierliche“, „beständige“ und „nachhaltende“ Nutzung von Wäldern erfordere, so schreibt Carl von Carlowitz, dass nur so viele Bäume gefällt werden, wie wieder nachwachsen. Rund 250 Jahre später wurde der Nachhaltigkeitsbegriff in einem Bericht der „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“ der UN aus dem Jahr 1987 (Brundtland-Bericht) von der Entwicklung der Forstwirtschaft auf Entwicklung generell ausgeweitet. „Nachhaltig“ ist eine Entwicklung dann, wenn sie „die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde der Nachhaltigkeitsbegriff schließlich durch die „Umwelt- und Entwicklungskonferenz“ der UN 1992 in Rio de Janeiro bekannt. Dies war die erste UN-Konferenz, die das Umwelt- und das Entwicklungsthema als etwas im Kern Zusammenhängendes behandelte. Man hatte erkannt, dass über Umwelt nicht sinnvoll gesprochen werden könne, wenn man nicht gleichzeitig über Entwicklung spreche. Und man hatte auch begriffen, dass Entwicklung immer auch im Zusammenhang mit den Konsequenzen für die Umwelt gesehen werden müsse.

Allerdings wurden in Rio bereits die unterschiedlichen Interessen des Nordens und des Südens der Welt deutlich: der Norden sorgte sich vor allem um die Umwelt, der Süden um die Entwicklung. Der seit dieser Konferenz als Leitbild popularisierte Begriff „Nachhaltige Entwicklung“ erweist sich inzwischen immer offensichtlicher als Formelkompromiss. Weil seine inhaltlichen Konturen so unscharf sind, eignet er sich ganz hervorragend als Worthülse, die fast beliebig gefüllt werden kann. Auch das so genannte „Drei-Säulen-Modell“ der Nachhaltigen Entwicklung konnte diesen Eindruck der Beliebigkeit nicht korrigieren. Nachhaltige Entwicklung baue, so die Behauptung seiner wissenschaftlichen Konstrukteure, auf einer „ökologischen“, einer „ökonomischen“ und einer „sozialen“ Säule auf. „Ökologisch“ meint, eine Nachhaltige Entwicklung müsse die Gegebenheiten der natürlichen Umwelt berücksichtigen, also die Kenntnisse über Naturprozesse vor allem durch entsprechende Techniken klug in die Praxis umsetzen. „Ökonomisch“ bedeutet, eine Nachhaltige Entwicklung müsse sich auch irgendwie rechnen oder wenigstens Umwege vermeiden und Kosten reduzieren, sei also vor allem eine Herausforderung für die Wirtschaft. Und „sozial“ bedeutet, eine Nachhaltige Entwicklung müsse an den sozialen Beziehungen und der Idee der Gerechtigkeit orientiert sein, sei also eine Aufgabe für Sozialpolitik, Erziehung und Bildung, Moral und Ethik. Die Konstrukteure dieses Drei-Säulen-Modells legen Wert darauf, dass jede dieser Säulen gleich wichtig sei und dass sich die Säulen gegenseitig stützten.

Der Verschiebebahnhof

Die Rede von einer Nachhaltigen Entwicklung und von ihren „drei Säulen“ eröffnet einen gigantischen Verschiebebahnhof der Verantwortung, der bis heute hervorragend funktioniert. Was ohnehin geschieht, wird auf diesem Bahnhof durch den Hinweis auf das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung und das Modell, das es präzisieren soll, theoretisch aufgewertet und erhält somit höhere Weihen. Auf diesem Bahnhof wird die Verantwortung für die herrschenden Verhältnisse schier endlos zwischen Wirtschaft und Politik (Kräfte des Marktes versus Regulierung durch Staat), zwischen Wirtschaftssektoren und Politikbereichen (Landwirtschaft, Industrie, Verkehr), zwischen Verbrauchern und Wählern (Ladentheke versus Wahlurne) hin und hergeschoben. Oft geht es dabei auch ganz grundsätzlich um das Verhältnis zwischen Alt und Jung (intergenerative Lastenverteilung) oder noch grundsätzlicher um die Frage, ob man auf das Gute im Menschen hoffen könne oder vor seiner schlechten Natur kapitulieren müsse (Erziehbarkeit versus Unveränderlichkeit des Menschen).

Typisch ist, wie dabei ökologische und soziale Nachhaltigkeit gegeneinander ausgespielt werden. Dann heißt es als Einwand gegen Defizite in der ökologischen Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit müsse man sich eben auch leisten können. Oder aber als Einwand gegen Defizite in der sozialen Nachhaltigkeit, der Klimawandel verlange eben von jedem Menschen gewisse Einschränkungen. Unklar bleibt dabei immer, wer bei Nachhaltigkeitsdefiziten jeweils welche Lasten trägt. So werden diese Lasten je nach Bedarf beliebig hin und her geschoben. In Bezug auf die ökologische Nachhaltigkeit etwa zwischen den Gegnern von Kohlekraftwerken, von Wind- und Wasserkraftanlagen, von Flächen für Photovoltaikanlagen und Monokulturen aus Energiepflanzen. Einig ist man sich höchstens, wenn es um China als den angeblichen Hauptverursacher alles Übels geht. Wie überhaupt alte Industrieländer dazu neigen, den neuen Industrieländern, den Nachzüglern der Industrialisierung also, die Schuld für alles Mögliche zuzuschieben. Diese Schieberei der Verantwortung steht im krassen Gegensatz zum weitgehenden Stillstand einer wirklichen Bewegung in Richtung Nachhaltigkeit: zur wirklichen Annahme jener Verantwortung, die das Leitbild fordert. Was hier stattfindet, erinnert an die Verlagerung von Süchten, ohne dabei wirklich den Zustand des Süchtig-Seins ernsthaft anzugehen.

Weil der Verschiebebahnhof so gut funktioniert, braucht man sich über den 2015 veröffentlichten Bericht der UN über den Stand der Umsetzung der Millenniumsziele nicht zu wundern. In dem UN-Bericht heißt es: Zwar ist seit 2000 in Bezug auf die Bekämpfung des Hungers und des Analphabetismus viel erreicht worden, aber auf der anderen Seite haben auch die Klimaveränderungen und die Zwangsmigration weltweit enorm zugenommen. Bezeichnend ist, dass auch dieser Bericht keinen Zusammenhang zwischen sozialen Erfolgen und den ökologischen Misserfolgen herstellt. Und er gibt keine Entwarnung angesichts der Befürchtung, dass sich der Kampf um knapper werdende Ressourcen und um die Folgen der Klimaveränderung weiter dramatisch verschärfen könnte. Die Befürchtung einer solchen Verschärfung liegt nahe, weil Wirtschaftswachstum unter Inkaufnahme ökologischer Schäden auch weiterhin für die Bessergestellten dieser Welt ein attraktiver Weg sein dürfte, um sich Verteilungskonflikte zu ersparen. Denn je mehr es in einer ständig wachsenden Wirtschaft zu verteilen gibt, desto leichter können auch die Armen und Ärmsten zufrieden gestellt werden, ohne dass die Reichen und Reichsten etwas abgeben müssten.

Der Eindruck vom Verschiebebahnhof hat sich nach 2015 weiter bestätigt. Die von der UN 2016 verkündeten 17 Ziele für eine Nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) wurden von der Bundesregierung 2017 in einem 260 Seiten starken Programm für Deutschland durch 67 Unterziele konkretisiert. Diesem Programm erteilte der Bundesrechnungshof im Juli 2020 eine „schallende Ohrfeige“. Die Bundesregierung, so der Rechnungshof, habe es „bislang versäumt“, die „Voraussetzungen“ für die Erreichung dieser Ziele zu schaffen. Weil das Kanzleramt die Indikatoren für die Erreichung der Ziele durch die Ministerien nie konkretisiert habe, seien diese Ziele für die Ministerien „wenig handhabbar“. So sind dem Bericht zufolge die Auswirkungen von Subventionen auf die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele in den einzelnen Politikbereichen bisher nicht systematisch erfasst worden. Beispielsweise seien beim 2018 beschlossene Baukindergeld die Folgen für Flächenverbrauch und Verkehr, vor denen das Umweltbundesamt gewarnt hatte, nicht berücksichtigt worden. Auch seien, so der Bericht weiter, in den Zielsetzungen des Programms keine Prioritäten erkennbar. So stünden etwa das Ziel der Aufstellung von Indikatoren für die Erhöhung der Lebenserwartung in Deutschland und für die Erhöhung des Anteils des Ökopapiers in der Bundesverwaltung auf ein und derselben Stufe. „Einen systematischen Prozess“, „in dem Ziele und Prioritäten ganzheitlich abgewogen und in Einklang gebracht werden, haben wir nicht vorgefunden“, heißt es in dem Bericht des Bundesrechnungshofes zur bisherigen Umsetzung des Leitbilds der Nachhaltigen Entwicklung in Deutschland.

Am 24. März 2021 folgte dann das aufsehenerregende Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Klimapolitik der Bundesregierung, angerufen maßgeblich durch Aktivisten von Fridays for Future. In der Pressemitteilung zum Urteil des höchsten deutschen Gerichts heißt es: „Die zum Teil noch sehr jungen Beschwerdeführenden sind durch die angegriffenen Bestimmungen … in ihren Freiheitsrechten verletzt.“ Die Begründung: Die im geltenden Klimaschutzgesetz enthaltenen Vorschriften zur Reduktion der Treibhausgase verschieben die hohe Emissionsminderungslasten „unumkehrbar“ auf die Zeit nach 2030. Um das Klimaziel, zu dem sich auch Deutschland 2015 im Vertrag von Paris verpflichtet hat und das den Auftrag des Grundgesetzes zum Klimaschutz konkretisiert, zu erreichen, „müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden. Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind. Der Gesetzgeber hätte daher zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern.“ Dies nachzuholen, setzt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen Termin: den 31. 12.2022.

Leider hilft angesichts dieser Diagnose auch die wissenschaftliche Befassung mit der Nachhaltigkeit meist nicht weiter. Immer länger und unübersichtlicher werden zwar die wissenschaftlich begründeten Taxonomien, mit denen Ziele, Kriterien und Instrumente einer Nachhaltigen Entwicklung erfasst werden sollen – als theoretische Orientierung für die praktische Transformation. Gleichzeitig gesteht man sich aber ein, dass eine integrative Nachhaltigkeitstheorie, die eigentlich wünschenswert wäre, nicht existiert. Den Grund dafür hat übrigens die Enquete-Kommission des Bundestags „Schutz des Menschen und der Umwelt“ in ihrem Abschlussbericht bereits 1998 klar benannt: Es fehlt eine gemeinsame Sprache, mit der man sich über Ökologie, Ökonomie und Soziales verständigen könnte, die ja eigentlich nur unterschiedliche Blickwinkel auf ein und denselben Gegenstand sind. Schärfer formuliert: Im wissenschaftlichen Nachhaltigkeitsdiskurs herrscht babylonische Sprachverwirrung, jede Disziplin spricht ihre eigene Sprache, am lautesten die Wirtschaftswissenschaft.

Alles eine Frage der Zeit

Weiten wir den Blick, zeitlich und räumlich: Seit 1950 hat sich die Zahl der Menschen verdreifacht, der globale Ausstoß an Treibhausgasen nahezu verfünffacht, das globale reale Sozialprodukt weit mehr als verzehnfacht. Was tun? Die Suche nach Antworten macht ratlos. Gern wird auf den globalen Süden verwiesen. Dort müsse die Geburtenzahl reduziert werden, heißt es. Nur: Haben die Neugeborenen im globalen Norden nicht einen ungleich höheren ökologischen Fußabdruck? Als hauptsächlich verantwortlich gilt deshalb wohl für die meisten Menschen der globale Norden. Dessen Wirtschaft müsse grünen, sagen die Einen. Nur: Wer kann sich das grüne Leben leisten? Die Wirtschaft müsse schrumpfen, sagen Andere. Nur: Wer soll verzichten? Worauf? Und was wird aus den Arbeitsplätzen?

Zu viele Menschen, zu viele Sachen, zu viele ungeklärte Fragen! Das sind offenbar die Probleme, die die Erde mit uns Menschen hat. Und die Situation verschärft sich weiter: Der durchschnittliche ökologische Fußabdruck des Menschen steigt und steigt. Der Tag im Jahr, ab dem wir über unsere Verhältnisse leben, weil wir mehr verbrauchen, als die Erde nachwachsen lässt, der sogenannte Welt-Überlastungs-Tag, rückt seit 1970 im Jahresverlauf immer weiter nach vorne. In Deutschland sind wir 2019 beim 3. Mai gelandet, weltweit beim 29. Juli. Es lässt sich immer schwerer verdrängen, dass wir längst einen gefährlichen Punkt erreicht haben. Es dämmert uns, dass die bisherige Richtung des Fortschreitens, die wir lapidar „Fortschritt“ nennen – ohne zwischen der technischen und der menschlichen Dimension des Schreitens zu unterscheiden – in vielerlei Hinsicht in eine Sackgasse geführt hat.

Jeder Rettungsweg setzt Klarheit voraus: Was ist eigentlich los? Warum ist es so weit gekommen? Vergleichen wir die aktuelle Situation der Menschheit einmal kurz mit der Situation eines Menschen, der sich in einer fremden Stadt verlaufen hat. Instinktiv fragt er: Wo bin ich hier überhaupt? Wo komme ich her? Und wo will ich hin? Wer die Orientierung verloren hat, muss sich neu orientieren, wer in einer Sackgasse gelandet ist, muss einen Ausweg finden. Dabei hilft der Blick auf den Stadtplan (heute natürlich im Smartphone). Dieser Blick ist hilfreich, weil er einen größeren Ausschnitt der Stadt sichtbar werden lässt, als den, den das bloße Auge erfasst. Übertragen auf das Thema Nachhaltigkeit: Wenn wir den Blick weiten, den Ausschnitt der Welt, den wir betrachten, also vergrößern, müssen wir den inneren Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Sozialem genauer untersuchen.

Beginnen wir mit dem Wort „Nachhaltigkeit“. Es verweist auf das Thema Zeit. Wer erklären will, was Nachhaltigkeit bedeutet, ist dazu gezwungen, auf die Zeitdimension Bezug zu nehmen. Auf ihre Dauer (Durchhaltbarkeit), auf ihren Horizont (Zukunft) und, wie wir sehen werden, ganz entscheidend auf ihre Zyklizität (Kreislauf, Wiederholung). Wie sehr Nachhaltigkeit eine Frage des Umgangs mit Zeit ist, hat beispielsweise der Deutsche Bundestag längst erkannt. Auch der Wirtschaft dämmert der enge Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeit und Zeit, ohne daraus allerdings irgendwelche ernsthaften Konsequenzen zu ziehen. Das bestätigt eine Studie des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam über Nachhaltigkeitsberichte, wie sie mittlerweile nicht nur von unzähligen Unternehmen, sondern auch von politischen Institutionen von der OECD, der Internationalen Organisation für Normung (ISO) und der EU erarbeitet werden. Selten werde in diesen Berichten, so das Ergebnis der Vergleichsstudie, die „Nachhaltigkeitsleistung“ mit konkreten Kennzahlen „im Zeitverlauf“ dokumentiert.

Der Vorschlag dieses Buches lautet: Nehmen wir das Wort „Nachhaltigkeit“ (wie auch „Entwicklung“) mit seinem Fokus auf die Zeitdimension endlich ernst! Das Sprechen über die Zeit wird allerdings dadurch erschwert, dass der Mensch über kein Organ verfügt, mit dem er die Zeit wahrnehmen könnte. Es sind immer nur Veränderungen (der Größe, der Form und der Lage eines Objekts) in der Zeit, aus der er schließt, dass Zeit vergangen ist. Zeit und Veränderungen in der Zeit sind im Grunde ein und dasselbe. Die Fokussierung der Zeit beziehungsweise des Umgangs mit ihr ist in diesem Buch jedenfalls das Instrument, mit dessen Hilfe der Zusammenhang von Ökologie, Ökonomie und Sozialem verständlich gemacht werden soll. Anders gesagt: Das Buch verwendet die Zeit als Brille, die den Blick auf wichtige Eigenschaften der Welt erleichtert beziehungsweise überhaupt erst ermöglicht. Das Besondere an dieser Brille ist, wie sich zeigen wird, dass sie zugleich als Mikroskop und als Fernrohr fungiert, weil sie auch den Blick auf das ganz Kleine wie auf das ganz Große zu schärfen vermag. Durch diese Multifunktions-Brille, die die Fokussierung der Zeitdimension in der kleinen, der mittleren und der großen Welt gleichermaßen ermöglicht, kann Nachhaltigkeit (und Entwicklung) aus einem Guss theoretisch begriffen und die praktische Umsetzung konzipiert werden. Der Blick durch diese Brille zeigt, wie an die Stelle der beliebigen Hin- und Her-Schieberei der Verantwortung für die Nachhaltigkeit ein klarer übergreifender Maßstab für Prioritätensetzung und Lastenverteilung bei der Umsetzung des Leitbilds treten kann.

An vielen Beispielen wird in den drei Kapiteln dieses Buches gezeigt, was wir im Prinzip schon wissen, uns aber selten bewusst machen: Veränderungen in der Zeit können zyklisch oder linear sein, sind meist aber beides zugleich. Zyklisch sind Veränderungen, wenn sie nach einer gewissen Dauer wieder zum Ausgangspunkt zurückführen. Der Tag-Nacht-Wechsel oder der Wechsel der Jahreszeiten sind naheliegende Beispiele. Letzteres ist etwa in den Jahresringen der Bäume zu besichtigen, die zeigen, dass sie immer wieder Sommer, Herbst, Winter und Frühling erleben. Linear sind Veränderungen, wenn es kein Zurück gibt. Bei linearen Veränderungen wird etwas mehr oder weniger, schwerer oder leichter, kürzer oder länger. Wenn der Baum in die Höhe wächst, haben wir es mit einer linearen Veränderung zu tun, die sich freilich in der Natur fast nie gleichmäßig vollziehen, ganz im Gegensatz zum Ideal der Technik (zum Beispiel die Fortbewegung eines Hochgeschwindigkeitszuges). Der Baum wächst je nach Witterung mal schneller oder langsamer, bis er am Ende seines Lebens irgendwann umknickt und schließlich am Boden verrottet. Auch hier schließt sich ein Kreis, wenn einige Zeit später in der unmittelbaren Nähe ein neuer Keimling sprießt. Wichtig ist:Zyklische Veränderungen sorgen für Stabilität, Vertrauen und Berechenbarkeit. Lineare Veränderungen sind Ausdruck von Dynamik, von Kreativität, natürlich auch von Überraschungen. Beide Arten von Veränderungen finden im Bereich des Lebendigen gleichzeitig statt, es handelt sich also um eine „Wiederkehr des Ähnlichen“ (Ludwig Klages). Wenn „Nachhaltigkeit“ ein Synonym für „Dauerhaftigkeit“ ist, ist die „Wiederkehr des Ähnlichen“ ihr elementarer zeitlicher Baustein. Der Vollständigkeit halber muss aber neben zyklischen und linearen Veränderungen noch eine weitere Variante von Veränderungen genannt werden: die exponentiellen. Sie sind, wie wir nicht erst seit Corona wissen, in den allermeisten Fällen brandgefährlich. Sie gehen, wie wir sehen werden, unweigerlich mit Kontrollverlust einher, sie sind das genaue Gegenteil der Wiederkehr und enden sehr oft tödlich.

Umwelt, Mitwelt, Innenwelt

Wenn man „die Welt“ mit der Zeit-Brille betrachtet und nach Veränderungen fragt, hat man es genau genommen mit drei Teilwelten zu tun. Geordnet nach ihrem Alter sind das erstens die natürliche Umwelt, zweitens die soziale Mitwelt und drittens die personale Innenwelt. In der Regel fokussiert sich der Nachhaltigkeitsdiskurs auf den Umgang mit der natürlichen Umwelt. Spätestens wenn das Problem der Finanzierung der ökologischen Transformation auftaucht, wird dann notgedrungen auch die soziale Mitwelt einbezogen. Nachhaltigkeit muss man sich ja auch leisten können heißt es dann, und was man sich leisten kann, bestimmt sich im Verhältnis der Menschen zueinander, dort nämlich, wo es um Einkommen, Vermögen und Macht, also um das Soziale geht. Und die Einbeziehung der Innenwelt in den Nachhaltigkeitsdiskurs ist vor allem deshalb wichtig, weil geklärt werden muss, warum Umweltbewusstsein und Umweltverhalten derart stark auseinanderklaffen, wie das ganz offensichtlich der Fall ist. In der Innenwelt des Menschen entscheidet sich, ob und wie das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung für Herz und Kopf attraktiv werden und schließlich zum praktischen Handeln motivieren kann. Die Kunst der Verankerung des Leitbilds im Inneren des Menschen besteht darin, von negativen wie positiven Erfahrungen im Umgang mit Zeit in der Innenwelt auszugehen und daraus Schlüsse für den Umgang mit der Außenwelt zu ziehen – im Hinblick auf das Ziel des guten Lebens für alle.

Die Botschaft dieses Buches lässt sich für die sehr eilige Leserin und den sehr eiligen Leser zusammenfassen. Erstens: Nachhaltigkeit ist eine Frage der Zeit, genauer: der zyklischen Zeit. Nachhaltig ist eine Entwicklung, wenn sie einer annähernd kreisenden Bewegung folgt, wenn sie auf die „Wiederkehr des Ähnlichen“ zielt.Die fortschrittssüchtige Moderne mit ihrem Mantra des „Schneller, höher, weiter!“ hat uns die schlichte Tatsache vergessen lassen, dass bei allem Fortschreiten die Bodenhaftung nicht verloren gehen darf. Innovationen sind nicht beliebig steigerbar, es muss auch Dinge geben, die über die Zeit hinweg bestehen bleiben. Zweitens: Die Wiederkehr des Ähnlichen ist buchstäblich allumfassend. Sie ist nicht nur für den Umgang mit der natürlichen Umwelt maßgeblich, sondern ebenso für den Umgang mit der sozialen Mitwelt und der personalen Innenwelt, also des Menschen mit sich selbst. In allen drei Teilwelten kommt es auf eine relative Stabilität als Voraussetzung für kontrollierten Wandel an. Und drittens: Nachhaltigkeit ist eine Frage des klugen Ein- und Aufteilens von Zeit – der Zeit der Natur, die sich von der Beanspruchung durch den Menschen immer wieder erneut erholen muss, der Zeit der Mitmenschen, mit denen wir uns immer wieder irgendwie arrangieren müssen, und der Zeit des Einzelnen, der zu sich selbst finden und klären muss, was er eigentlich wirklich will. In einem Satz (an ein berühmtes Kant-Zitat angelehnt): Nachhaltig ist eine Entwicklung nur dann, wenn sie dafür sorgt, dass die Frucht am Baum über mir, die Freundlichkeit des Nachbarn neben mir und das gute Gefühl in mir regelmäßig wiederkehren. Man könnte auch sagen: Nachhaltigkeit zielt auf den Frieden – mit der Natur, den Mitmenschen und sich selbst.

Noch eine Anmerkung zur Motivation des Autors: In meinen bisherigen Büchern zum Thema Umgang mit Zeit habe ich hauptsächlich vor den Risiken der Beschleunigung und Atemlosigkeit gewarnt, mit teilweise apokalyptischen Zukunftserwartungen. Mir ging es um die Kritik des Mantras „Schneller, höher, weiter!“ und um die Frage nach dem „Wohin“. Viele meiner Leserinnen und Leser lobten den Realitätsgehalt (manche meinten, es sei sogar alles noch viel schlimmer). Vermisst wurde allerdings eine realistische Alternative. Je mehr ich über eine solche laut nachdachte, desto vehementer traf mich allerdings der beliebte Utopie-Vorwurf (der meist als Totschlagargument verwendet wird). Das vorliegende Buch möchte beiden Reaktionen gerecht werden, es möchte eine Brücke von einer realistischen Gegenwartsdiagnose zu einer praktikablen Zukunftsvision bauen. Das Schlusskapitel wird manche Leserin und manchen Leser überraschen, weil diese Brücke eine politische Perspektive eröffnet, die konservativ und revolutionär zugleich ist – und zwar in einem ziemlich radikalen Sinn.

15.04.2023, 15:16

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