Erschütterungen
Längst schon hat es begonnen. Und vorbei wird es noch lange nicht sein. Krisen und Kriege scheinen immer dichter aufeinander zu folgen. Eine Zeit besonderer Krisenhaftigkeit des politischen Ordnungsgefüges scheint angebrochen zu sein. Sie findet im kollektiven Bewusstsein ihren Widerhall in Gefühlen einer Bedrohung der eigenen gesellschaftlichen Lebenssituation und in einer Unsicherheit über die Zukunft unserer Gesellschaft. Gefühle einer verlorenen Solidarität und Gefühle der politischen Ohnmacht verdunkeln in den letzten Jahren zunehmend die Grundstimmung in den Gesellschaften des Westens.
Gegenwärtige Krisen und Kriege scheinen in einem engen inneren Zusammenhang zu stehen. Dies wird zunehmend deutlicher. Und das macht sie umso bedrohlicher. Die Determinanten geopolitischer Konflikte und deren historische Kontinuitäten und Kausalitäten sind intuitiv nur schwer erfassbar. Nur durch mühevolle kollektive Analysen können sie besser verstanden werden. Hingegen sind die gesellschaftlichen Krisen, da sie sich oft unmittelbar auf unseren gegenwärtigen Lebensalltag auswirken, leichter zu bemerken und in einigen Grundzügen intuitiv zu verstehen. Ein tieferes Verständnis ihrer Ursachen kann indes ebenfalls nur auf der Grundlage kollektiver Anstrengungen erreicht werden. Stets geht es dabei um den grundlegenden gesellschaftlichen Konflikt zwischen Mächtigen und Machtunterworfenen und zwischen Besitzenden und Besitzlosen, der sich nur durch robuste gesellschaftliche Schutzinstrumente einhegen lässt. Es geht also um Demokratie und um den heute systematisch betriebenen Abbau mühsam gewonnener demokratischer Errungenschaften. Und es geht, im öffentlichen Bewusstsein noch wenig präsent, um den planmäßig und beharrlich vorangetriebenen Übergang zu 11 neuartigen Formen totalitärer Herrschaft.
Es wäre jedoch nicht sinnvoll, die gegenwärtige gesellschaftliche Krise eine Krise der Demokratie zu nennen. Jedenfalls nicht im ursprünglichen Sinne der egalitären Leitidee von Demokratie als individueller und somit auch gesellschaftlicher Selbstbestimmung. Für die Organisationsform des Staates beinhaltet diese zivilisatorische Leitidee eine radikale Vergesellschaftung von Herrschaft durch eine strikte vertikale Gewaltenteilung und eine Unterwerfung aller Staatsapparate unter die gesetzgebende Souveränität der gesellschaftlichen Basis. Da es Demokratie in diesem einzigen Sinn, der diese Bezeichnung verdient, in unserer Epoche nicht gibt, wäre die Behauptung ihrer Krise unsinnig. Die gegenwärtige schwere Krise des Westens kann also, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind, keine Krise der Demokratie sein.
Es gibt indessen gute Gründe anzunehmen, dass es sich um eine Krise handelt, deren Wurzeln gerade in der jahrhundertelangen Verhinderung von Demokratie zu finden sind. Mehr noch: Diese Krise und ihre lange Vorgeschichte lassen deutlicher erkennen, dass das westliche Denken auf einem Fundament von Ressentiments errichtet ist, das sich grundsätzlich nicht mit der Leitidee einer egalitären Demokratie vereinbaren lässt. Der Westen scheint seinem Wesen nach demokratieunfähig zu sein. Eine solche Diagnose scheint oberflächlich betrachtet im Widerspruch damit zu stehen, dass heute ›Demokratie‹ weithin als einzig legitime Herrschaftsform gilt. Dieser Widerspruch löst sich jedoch sofort auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Begriff ›Demokratie‹ eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat, die ihn geradezu in das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung verkehrt hat. Der Siegeszug der ›Demokratie‹ im Westen wurde, wie historische Studien im Detail nachweisen, überhaupt erst dadurch möglich, dass die »Väter der amerikanischen Verfassung« das Wort »Demokratie« seiner ursprünglichen Bedeutung beraubten und unter der neuen Bezeichnung »repräsentative Demokratie« ausdrücklich eine Form der Elitenherrschaft einführten. Dieser planmäßige Wortbetrug erwies sich als so erfolgreich, dass er heute kaum noch als Wortbetrug erkennbar ist. Vielmehr ist die Demokratiesimulation im »demokratischen Theaterstaat« so perfektioniert worden, dass sie dem überwiegenden Teil der Bevölkerung geradezu als Realität von Demokratie erscheint. In der Gegenwart verzichtet nun der Westen immer offener auf eine demokratische Maske zugunsten autoritärer Herrschaftsformen. Diese Dynamiken scheinen ihre Ursachen in einer tiefen inneren Krise des Westens zu haben, manche sprechen gar von seinem drohenden Niedergang.
Mit dem Ausdruck »Niedergang« eines Imperiums kann allerdings, wie die Geschichte aufzeigt, sehr Unterschiedliches gemeint sein. In jedem Fall wird man die gegenwärtigen innen- und geopolitischen Dynamiken als eine schwere Krise des Westens ansehen müssen, deren weitreichende Folgen bislang nicht abzuschätzen sind. Ihre tieferen Wurzeln hat diese Krise in grundlegenden inneren Widersprüchen des Westens. Aktuell wurden sie besonders sichtbar in dem US-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine, in dem Krieg gegen den Iran sowie in den erbitterten Machtkämpfen in den USA zwischen unterschiedlichen Machtgruppierungen, aus denen in der Präsidentenwahl 2024 die von Donald Trump repräsentierten Machtgruppierungen als vorläufige Sieger hervorgingen.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, betonte 2025 die Dramatik der Situation, mit der die gesamte westliche Zivilisation konfrontiert sei und erklärte, dass »der Westen, wie wir ihn kannten, nicht mehr existiert«. Wie man diese Behauptung versteht, wird selbstverständlich davon abhängen, wer mit diesem »wir« gemeint ist und auf welcher Seite des Gewehrlaufes man steht. Angesichts der Tatsache, dass die EU bereits zu einer Art zivilem Arm der NATO umgestaltet wurde und dass von der Leyen einen »Plan zur Wiederaufrüstung Europas« vorgelegt hat, der 800 Milliarden Euro für eine Militarisierung der EU mobilisieren soll, wird man die Behauptung eines Verschwindens des Westens, wie »wir« ihn kennen, weniger als Beschreibung der geopolitischen Realitäten denn als dringenden Aufruf zu den Waffen und damit zu einer Steigerung der Bereitschaft zu organisierter Gewalt verstehen müssen.