Kapitel 1
»Er hat uns total in die Scheiße geritten!«
Joe Biden stand am Morgen nach der Präsidentschaftswahl 2024 auf und war überzeugt, dass man ihm Unrecht getan hatte. Die gesellschaftlichen Eliten, die Funktionsträger der Demokratischen Partei, die Medien, Nancy Pelosi, Barack Obama – sie alle hätten ihn nicht aus dem Rennen drängen dürfen. Wäre er der Kandidat geblieben, dann hätte er Donald Trump besiegt. Das zeigten jedenfalls die Umfragen, behauptete er immer und immer wieder. Die Meinungsforscher sagten uns, dass solche Umfragen nicht existierten. Es gebe keine belastbaren Daten, die die Behauptung stützen könnten, dass er gewonnen hätte. Sämtliche glaubwürdigen Informationen legen nahe, dass es eine Niederlage geworden wäre, vermutlich sogar eine krachende, weitaus heftiger als jene, die Vizepräsidentin Kamala Harris, die Ersatzkandidatin der Demokraten, hinnehmen musste. Die Diskrepanz zwischen Bidens Optimismus und der unerfreulichen Realität der Umfrageergebnisse zog sich durch seine gesamte Amtszeit. Viele Insider hatten das Gefühl, sein engster Kreis schirme ihn vor schlechten Nachrichten ab. Um diese Umfragezahlen zu akzeptieren, hätte sich Biden das größte Problem eingestehen müssen, das diesen Zahlen 15 zugrunde lag: Die Öffentlichkeit hatte – lange vor den meisten Funktionsträgern der Demokraten, den Medien und anderen Eliten – den Schluss gezogen, dass er viel zu alt für eine zweite Amtszeit war. In Wahrheit hatten schon vor jener folgenschweren Fernsehdebatte am 27. Juni 2024 viele Insider – Leute, die einen viel besseren Einblick in Bidens körperliche und geistige Verfassung hatten als die breite Öffentlichkeit – Dinge gesehen, die sie schlicht schockiert hatten. Die meisten von ihnen schwiegen darüber. Präsident Biden wachte am Morgen nach der Wahl auf mit der Gewissheit, ihm sei nichts vorzuwerfen. Zweieinhalb Meilen weiter nördlich, entlang der Connecticut Avenue Northwest, und weiter in Richtung Westen auf der Massachusetts Avenue, betrat Kamala Harris sehr ernst den Speisesaal der Residenz der Vizepräsidentin auf dem Gelände des US Naval Observatory. An jenem Morgen war nur ihr engstes Umfeld anwesend, ihr Mann Doug Emhoff, ihre Schwester Maya und ihr Schwager Tony West. Sie konnten es nicht glauben. Es war real. Es war kein Albtraum. Es war tatsächlich passiert. Sie wussten, dass sie spät ins Rennen gestartet waren, dass sie eine gewaltige Aufgabe vor sich gehabt hatten. Innerhalb von lediglich 107 Tagen hätten sie Amerika davon überzeugen müssen, dass die Vizepräsidentin eines historisch unbeliebten Präsidenten das Zeug dazu hätte, Veränderungen auf den Weg zu bringen. Sie hatten gehofft, die Fehlertoleranz in den Umfragen, die ihnen vorgelegt wurden, werde sich zu ihren Gunsten korrigieren. Der Enthusiasmus im Land, den sie auf der Wahlkampftour verspürt hatten, war greifbar gewesen. Sie waren voller Hoffnung gewesen. Aber im Lauf der Nacht hatten die Fernsehsender Donald Trump zum Sieger erklärt. Harris saß am Frühstückstisch und wusste, dass sie den ge16 wählten Präsidenten anrufen und ihre Niederlage würde eingestehen müssen. Und dann würde sie die Rede fertig schreiben, die sie niemals hatte halten wollen. Der Sieg hat hundert Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind, wie John F. Kennedy nach dem Fiasko in der Schweinebucht sagte. Von Demokraten, die sich zur Vaterschaft des politischen Desasters, das der Präsidentschaftswahlkampf 2024 darstellte, bekannt hätten, war nicht viel zu sehen. Niemand hat behauptet, die Harris-Kampagne sei frei von Fehlern gewesen. Aber für die meisten eingeweihten Offiziellen und Unterstützer, und auch für die Führungsriege ihres Wahlkampfteams, gab es keine Frage, wer der Vater dieser Wahlniederlage war: Es war Joe Biden. Harris würde in ihrer unverbrüchlichen Loyalität zu ihm so etwas nie sagen, viele Leute in ihrem Umfeld aber schon. »Wir als Partei sind von Biden dermaßen betrogen worden«, sagte uns David Plouffe, einer der Berater ihres Teams. Plouffe hatte 2008 den Wahlkampf von Senator Barack Obama geleitet und war als führender Berater für Präsident Obama tätig, bevor er sich 2013 weitgehend aus der Politik zurückzog. Nach Bidens Ausstieg aus dem Rennen am 21. Juli 2024 wurde Plouffe für eine – wie er es einschätzte – »Rettungsmission« der Harris-Kampagne an Bord geholt. Harris, sagte er, sei eine »große Kämpferin«, aber das auf 107 Tage komprimierte Rennen ums Weiße Haus sei ein »beschissener Albtraum gewesen«. »Und alles wegen Biden«, sagte Plouffe. Zu Bidens Entscheidung, erst zur Wiederwahl anzutreten und dann nach der katastrophalen Fernsehdebatte noch einmal drei Wochen zu warten, bis er das Handtuch warf, meinte er noch: »Er hat uns total in die Scheiße geritten.« Das hat mit den typischen Schuldzuweisungen nach einer verlorenen Wahl nichts zu tun. 17 Noch vor den Vorwahlen des Jahres 2020, im Dezember 2019, erzählten vier Berater Bidens gegenüber Ryan Lizza, einem Journalisten von Politico, es sei »praktisch undenkbar, dass er 2024 zur Wiederwahl anträte – immerhin wäre er dann der erste Präsident über achtzig«. Lizza interpretierte das Ganze als strategische Indiskretion, die den Gedanken an die Öffentlichkeit bringen sollte. »Keine Sorge, ich sehe mich als Brücke, als Übergang, nichts weiter«, bekräftigte Biden im März 2020, kurz bevor er sich in den Vorwahlen als Kandidat der Demokratischen Partei durchsetzen konnte. Stattdessen ließ der älteste Präsident der amerikanischen Geschichte, unterstützt von seinen wichtigsten Beratern sowie seiner Frau und der Familie, im April 2023 verlauten, er werde erneut antreten. Bei einer Wiederwahl wäre er bis zum Alter von 86 Jahren Präsident geblieben. Das eigentliche Problem war nicht sein Alter als solches. Es waren die klar erkennbare Verminderung seiner Fähigkeiten, die im Verlauf seiner Amtszeit immer deutlicher wurde. Schon was die Öffentlichkeit von seiner Fähigkeit, das Amt auszuüben, zu sehen bekam, gab Anlass zur Sorge. Aber was sich hinter den Kulissen abspielte, war noch viel schlimmer. Gewiss konnte Biden tagein, tagaus Entscheidungen treffen, seine Erfahrung beisteuern und die Rolle eines Präsidenten ausüben, aber es gab bedeutende Schwierigkeiten, die zu einer Belastung für seine Präsidentschaft wurden: die begrenzte Anzahl von Stunden, während der er zuverlässig arbeitsfähig war, und die immer zahlreicher werdenden Momente, in denen er augenscheinlich erstarrt war, den Faden verlor, die Namen wichtiger Mitarbeiter vergaß oder sich sogar kurzzeitig nicht mehr an Freunde erinnern konnte, die er schon seit Jahrzehnten kannte. Von den Beeinträchtigungen seiner Kommunika18 tionsfähigkeit – was nichts mit seinem lebenslangen Stottern zu tun hatte – ganz zu schweigen. Dieser Niedergang verlief nicht in einer geraden Linie. Er hatte gute und schlechte Tage. Aber bis zum letzten Tag seiner Präsidentschaft weigerten sich Joe Biden und die Leute in seinem engsten Kreis, der Realität ins Auge zu blicken: dass nämlich seine Energie, seine kognitiven Fähigkeiten und seine Kommunikationskompetenz deutlich nachgelassen hatten. Und was noch schlimmer ist: Sie versuchten, diese Tatsachen mit diversen Mitteln zu verschleiern. Der Sündenfall der Wahlen von 2024 war Bidens Entscheidung, überhaupt zur Wiederwahl anzutreten – gefolgt von aggressiven Bemühungen, seinen kognitiven Verfall zu kaschieren. Und dann kam jenes Fernsehduell mit Trump am 27. Juni, in dem Bidens Zustand vor aller Welt sichtbar wurde. Das war nicht einfach bloß ein schlechter Abend, wie Biden und sein Team hinterher behaupteten. Millionen Menschen waren entsetzt angesichts von Bidens Auftritt bei der Debatte, seinem hängenden Unterkiefer, seinem unverständlichen Gebrabbel. Einige Demokraten waren allerdings kein bisschen überrascht. Hinter verschlossenen Türen hatten sie ihn auch schon so erlebt, aber nichts gesagt. Aus unterschiedlichen Gründen versuchten sie, ihr eigenes Schweigen für vernünftig zu erklären. Am Ende taumelten die Demokraten in den Herbst 2024 mit einer Kandidatin ohne interne Konkurrenz und begleitet von einem wachsenden Misstrauen der Öffentlichkeit gegenüber dem Weißen Haus, das das amerikanische Volk gezielt in die Irre geführt hatte. Angesichts von nur dreieinhalb Monaten Zeit, um einen Wahlkampf gegen einen Kandidaten und eine Maschinerie zu führen, die im Grunde seit 2015 auf Hochtouren lief, fürchtete sich Kamala Harris davor, zu ihrem Chef auf 19 Distanz zu gehen – sie war nicht in der Lage, öffentlich auch nur das einzugestehen, was der Rest der Welt von Bidens Niedergang ohnehin mitbekam. Harris beging Fehler, sowohl vor Bidens Kandidatur als auch nach deren Ende, aber keine der Entscheidungen, die sie und ihr Wahlkampfteam trafen, war auch nur annähernd so folgenschwer wie Bidens Entschluss, zunächst zur Wiederwahl anzutreten und der Öffentlichkeit weiszumachen, er werdee eben nicht vor aller Augen geistig dahinwelken. »Es war grauenhaft«, sagte uns ein prominenter Strategieexperte der Demokraten – der sich öffentlich hinter Biden gestellt hatte. »Er hat der Demokratischen Partei eine Wahl gestohlen, er hat sie dem amerikanischen Volk gestohlen.« Biden hatte seine gesamte Präsidentschaft als offene Feldschlacht angelegt, die zum Ziel hatte, eine Rückkehr Trumps ins Oval Office zu verhindern. Sein Klammern an die Macht und seine Unehrlichkeit sich selbst und dem ganzen Land gegenüber, was seinen körperlichen und geistigen Niedergang betraf, waren die Garantie dafür, dass genau dies geschehen würde.