Der Aufstieg einer gefährlichen Idee

Leseprobe Der Ruf nach einer Gesellschaft, in der sich fast alles um diese starren Kategorien dreht, befeuert die Polarisierung, stellt Formen des Austausches unter Generalverdacht einer kulturellen Aneignung und verhindert eine echte Gleichheit
Ein Ort, an dem kulturelle Aneignung häufig zu beobachten ist: Besucher*innen des Kölner Karnevals
Ein Ort, an dem kulturelle Aneignung häufig zu beobachten ist: Besucher*innen des Kölner Karnevals

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Die Freuden gegenseitiger Beeinflussung

Im Sommer 2020 diskutierte ich das Konzept der »kulturellen Aneignung« mit einer Gruppe aufgeweckter, wissbegieriger Studenten. Nachdem sie drei philosophische Darstellungen darüber gelesen hatten,was an kultureller Aneignung schlecht sei, waren sie mehr denn je überzeugt von einer Annahme, die sie schon hegten, bevor sie in mein Seminar kamen. Nämlich, dass es ausgesprochen verwerflich sei, wenn das Mitglied einer Identitätsgruppe Lieder, Symbole, Kleider oder Gerichte benutzt, die für die Kultur einer anderen Identitätsgruppe charakteristisch sind – insbesondere, wenn der »Täter« selbst zu einer vergleichsweise »privilegierten« Gruppe gehört.

Dann meldete sich Selena, eine nachdenkliche Studentin im zweiten Studienjahr, die im Seminar selten etwas sagte, aber immer etwas Wichtiges beizutragen hatte, wenn sie es doch einmal tat. »Ich bin selbst mal der kulturellen Aneignung beschuldigt worden«, sagte sie leise. Gespannt, ermunterte ich sie, ihr Erlebnis mit uns zu teilen. Selena arbeitete damals als Praktikantin im Kunstmuseum der Universität. In dem Bestreben, ein lebendiges Bild seiner Sammlung zu vermitteln, startete das Marketingteam einen Aufruf, Neuschöpfungen der Museumskunstwerke zu kreieren. Da weniger Beiträge als erwartet eingereicht wurden, ermutigte Selenas Chef sie dazu, selbst einen Beitrag zu leisten, und schlug ihr sogar einige geeignete Kunstwerke vor. Selena stimmte begeistert zu und wählte eine Fotografie, von der sie sich besonders angesprochen fühlte: Plant Contest von Cao Fei, ein Selbstporträt der chinesischen Künstlerin und ihrer Mutter, wie sie inmitten von Blumenblüten und Schönheitsprodukten auf dem Boden liegen.

Weil Selena damals wegen der Pandemie bei ihrer Mutter, einer chinesischen Immigrantin, wohnte, bat sie diese, das Bild mit ihr zusammen nachzustellen. Nachdem sie das Foto eingereicht hatte, schickte ihr der Direktor des Museums einige Stunden später eine E-Mail, in der er sie zu ihrem Beitrag beglückwünschte.Er schrieb, sie habe ein wunderschönes Bild gemacht und versprach, es werde bald auf der Webseite des Museums zu sehen sein. Selena freute sich sehr. Dann jedoch bekam sie eine empörte E-Mail von einer asiatisch-amerikanischen Kuratorin des Museums. Es sei überhaupt nicht in Ordnung gewesen, sich das Werk einer chinesischen Künstlerin anzueignen, hieß es dort. Sie solle sich schämen.

Selena, deren Eltern aus verschiedenen Teilen der Welt stammen, und die deshalb nicht auf den ersten Blick einer Ethnie zuzuordnen ist, war verwirrt. Taktvoll wies sie darauf hin, dass ihre Mutter eine chinesische Immigrantin sei und sie sich ebenfalls als asiatisch-amerikanisch verstehe. Doch die Kuratorin wollte davon nichts wissen. Da Selenas Vater kein Chinese sei, habe sie nicht das Recht zu einer Neuschöpfung des Kunstwerks gehabt.

Als Selena ihre Geschichte erzählte, kippte die Stimmung im Seminar. Kurz zuvor waren sich die Studenten noch sicher, dass kulturelle Aneignung verwerflich sei. Nun machten auch sie sich Sorgen, dass das Konzept missbraucht werden könnte. »Wenn wir uns nicht auf die Kultur einer anderen Gruppe stützen dürfen«, fragte eine Studentin, deren Eltern aus Mexiko eingewandert waren, »wer entscheidet dann, wer als Mitglied welcher Gruppe zählt?« Ein weiterer Student, der in Europa und Lateinamerika aufgewachsen war, aber afrikanische Wurzeln hat, war offenbar noch besorgter: »Ich finde es beunruhigend, dass meine eigene Uni eine Art ›Rassereinheitstest‹ durchgeführt hat, um zu entscheiden, ob Selena das Recht dazu hat, dieses Bild nachzustellen.« Seit Menschen verschiedene Kulturen entwickelt haben, gibt es die Angst, dass deren Reinheit verdorben werden könnte. Im Alten Griechenland erregte Terpandros Anstoß, weil er seiner Leier eine zusätzliche Saite hinzufügte. Im 16. Jahrhundert befahl der Kaiser von China die Zerstörung aller seetüchtigen Schiffe, weil er die kulturellen Veränderungen fürchtete, die Handelsfahrten ins Ausland verursachen könnten. Und im Deutschland des 19. Jahrhunderts war Richard Wagner besorgt, dass die Juden die Authentizität der deutschen Kultur verderben würden.

Eine neue Version derselben alten Angst vor kultureller Beeinflussung ist heute erneut ein wichtiger Gegenstand der Debatte. Rechtspopulisten klagen gern darüber, dass durch die Einwanderung und das Wachstum von Minderheitengruppen soziale Normen erodierten, die einheimische Sprache durch andere ersetzt, gar die heimische Küche verdrängt werde. Die größte Gefahr sei heute der »Globalismus« sagen sie. Selbst moderate Politiker geben sich zunehmend als tapfere Verteidiger traditioneller Sitten: In einer ihrer ersten offiziellen Handlungen als Vorsitzende der Europäischen Kommission wollte Ursula von der Leyen einem Mitglied ihres Kabinetts den »Schutz der europäischen Lebensweise« zur Aufgabe machen.

Traditionell war es die Rechte, die sich gegen neue kulturelle Einflüsse wandte und die Linke, die diese willkommen hieß. Seit einigen Jahren machen sich aber auch viele Progressive darüber Gedanken, wie sich Kulturen gegenseitig befruchten sollten. Sie feiern zwar eine große Vielfalt traditioneller Kulturen und streben danach, die Repräsentation verschiedener ethnischer und religiöser Minderheiten zu verbessern – warnen aber gleichzeitig lautstark vor den Gefahren kultureller Aneignung. Wie ein linker Professor diese Sorgen auf den Punkt brachte: Die Kultur anderer solle »tabu« sein. Wie konnte diese Einstellung die Linke erobern?

Warum die Linke begann, sich über kulturelle Aneignung Sorgen zu machen

Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel es Kommunisten zunehmend schwer zu erklären, warum die von Karl Marx vorausgesagten Revolutionen in so vielen Ländern ausgeblieben waren. Bei der Suche nach einer Erklärung verfielen viele Denker, von Antonio Gramsci bis zu den Mitgliedern der Frankfurter Schule, auf die Fähigkeit der kulturellen Institutionen des Mainstreams, die Arbeiter zu vereinnahmen und sie in Bezug auf ihre wahren Klasseninteressen zu täuschen. Einen der einflussreichsten Versuche einer solchen Erklärung unternahm der britisch-jamaikanische Soziologe Stuart Hall in Birmingham.

Während die meisten seiner Vorgänger sich vor allem auf die Hochkultur konzentriert hatten, lenkten Hall und die »Birmingham School of Cultural Studies« ihre Aufmerksamkeit auf die Alltagskultur.

Anfangs war die Birmingham School entschieden marxistisch. Als jedoch die wichtigsten Anliegen der Linken in den Siebzigerund Achtzigerjahren durch Postmodernismus und Postkolonialismus eine neue Gestalt anzunehmen begannen, wurden die in Halls Tradition stehenden Kulturkritiker empfänglicher für die Sorge, dass die Mitglieder dominanter Identitätsgruppen über die Mitglieder marginalisierter Identitätsgruppen eine Art kultureller Hegemonie ausüben könnten. So vertritt etwa Professor Vinay Lal von der UCLA die Ansicht, eine der Kernfragen von Edward Saids Orientalismus habe gelautet: »Wer vertritt wen, mit welcher Autorität, welchem Recht und welchen Folgen?« Ausgehend von dieser Frage war es nur noch ein kleiner Schritt, wie Robert S. Nelson, Professor für Architektur und Kunstgeschichte an der Yale University, folgenden Schluss zu ziehen: »[B]ei jeder kulturellen Aneignung gibt es die, die handeln, und die, mit denen gehandelt wird – und für die, deren Erinnerungen und kulturelle Identitäten durch ästhetische, akademische, ökonomische oder politische Aneignung manipuliert werden, können die Folgen beunruhigend oder schmerzhaft sein.«

Bis 2010 hatten diese Ansichten in einer Vielfalt von Fachbereichen, von der Vergleichenden Literaturwissenschaft über die African American Studies bis zur Medienwissenschaft, großen Einfluss gewonnen. Als die neuen Ideen über Identität im Lauf des folgenden Jahrzehnts aus dem akademischen Elfenbeinturm ausbrachen, mauserte sich der Vorwurf, jemand habe kulturelle Aneignung begangen, in vielen Online-Communitys zu einem wiederkehrenden Refrain.Wie die Identitätssynthese insgesamt war auch der Begriff der kulturellen Aneignung Teil der Alltagskultur geworden.

Inzwischen sind Debatten über kulturelle Aneignung voll im Mainstream angekommen – und beziehen sich auf eine immer größere Bandbreite angeblicher Verstöße. In den letzten paar Jahren wurden Musiker an den Pranger gestellt, weil sie angeblich den Musikstil von Minderheiten kopiert hatten. Küchenchefs wurden boykottiert, weil sie Gerichte verschiedener Nationen mischten. Romane wurden nicht gedruckt, weil ihre Protagonisten eine andere »Identität« als ihre Autoren hatten. Die amerikanische kulinarische Zeitschrift Bon Appétit entschuldigte sich im Rahmen ihres »Archive Repair Project« dafür, dass sie einen nichtjüdischen Autor ein Rezept für Hamantaschen, eine traditionelle jüdische Nachspeise, hatte schreiben lassen.

Auch in Europa sind solche Diskussionen mittlerweile üblich geworden. In Deutschland behauptete der Spiegel, Nichtjuden hätten sich der kulturellen Aneignung schuldig gemacht, als sie aus Solidarität eine Kippa trugen, nachdem ein Mann mit der traditionellen jüdischen Kopfbedeckung in den Straßen Berlins angegriffen worden war. Und in Großbritannien überlegte der Guardian, ob der Starkoch Jamie Oliver das senegalesische Gericht Jollofreis kochen, ob Gordon Ramsay, ein weiterer Starkoch, ein chinesisches Restaurant eröffnen und ob die Starsängerin Adele auf dem Notting Hill Carnival eine traditionelle jamaikanische Frisur tragen durfte. In vielen Milieus gilt es mittlerweile als selbstverständlich, dass anständige Leute es vermeiden sollten, jegliche Form der kulturellen Aneignung zu begehen.

Einige Fälle sogenannter kultureller Aneignung sind zweifellos echtes Unrecht. So war es beispielsweise unmoralisch, dass weiße Musiker in den Vereinigten Staaten die Songs schwarzer Musiker stahlen, die aufgrund der Rassendiskriminierung keine große Karriere machen konnten, oder dass Sammler in Großbritannien Kunst aus früheren Kolonien stahlen. Aber drückt das Konzept der kulturellen Aneignung wirklich aus, was an solchen Fällen ungerecht ist? Und sollten sich Gesellschaften tatsächlich vor der Gefahr, dass Mitglieder der Mehrheit sich von den Kulturen ethnischer oder religiöser Minderheiten inspirieren lassen könnten, wappnen? Beide Fragen sind mit Nein zu beantworten. Angesichts der vielen Ängste, die der gegenseitige kulturelle Austausch mittlerweile entfacht, ist es höchste Zeit, eine Lanze für die kulturelle Hybridität zu brechen. Das Konzept der kulturellen Aneignung ist nämlich keineswegs geeignet, das Wesen echter Ungerechtigkeiten zu erklären: Vielmehr verwirrt es unser Denken und macht es uns schwerer zu erkennen, warum bestimmte Fälle tatsächlich ungerecht sind. Vor allem aber ist die allgegenwärtige Realität der gegenseitigen Inspiration keineswegs etwas, was uns Sorgen machen müsste: Vielmehr ist der kulturelle Austausch eine der attraktivsten Merkmale einer diversen Gesellschaft.

14.02.2024, 16:44

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