Ein Manifest von enormer Sprengkraft

Leseprobe Künftige Menschen zählen. Es wird möglicherweise sehr viele von ihnen geben. Und wir können einen Beitrag dazu leisten, dass sie gut leben. Das ist in aller Kürze das Plädoyer für langfristiges Denken
Zwar können wir künftigen Menschen keine echte politische Mitsprache geben, doch sie zumindest mitdenken
Zwar können wir künftigen Menschen keine echte politische Mitsprache geben, doch sie zumindest mitdenken

H. Armstrong Roberts/Getty Images

Teil I – Langfristig denken

Einleitung

Stellen Sie sich vor, Sie leben das Leben jedes einzelnen Menschen, der jemals geboren wurde, und zwar nacheinander und in der Reihenfolge der Geburt. Ihr Leben beginnt vor rund 300 000 Jahren in Afrika. Nachdem Sie am Ende dieses Lebens angelangt und gestorben sind, springen Sie in der Zeit zurück und werden als der zweite Mensch wiedergeboren, der kurz nach dem ersten zur Welt gekommen ist. Sobald Sie als dieser zweite Mensch gestorben sind, werden Sie als der dritte wiedergeboren, dann als der vierte und so weiter. Gut 100 Milliarden Leben später kommen Sie als der zuletzt geborene Mensch zur Welt. Ihr »Leben« ist also ein Nacheinander all dieser Leben.

Dabei lernen Sie die Geschichte ganz anders kennen, als sie in den meisten Geschichtsbüchern dargestellt wird. Berühmte Persönlichkeiten wie Kleopatra oder Napoleon nehmen nur einen winzigen Bruchteil Ihres Daseins ein. Der allergrößte Teil besteht aus den Leben ganz normaler Menschen und ihrer Alltagswirklichkeit – essen, arbeiten, gesellig sein, sich freuen, sich sorgen und beten.

Insgesamt kommen Sie so auf fast 4 Billionen Lebensjahre. Ein Zehntel dieser Zeit sind Sie Wildbeuter und 60 Prozent Bauer. Sie verbringen 20 Prozent Ihres Lebens mit Kindererziehung, 20 Prozent auf dem Acker und fast 2 Prozent mit religiösen Ritualen. Etwas mehr als 1 Prozent Ihrer Lebenszeit sind Sie an Malaria oder Pocken erkrankt. Sie haben 1,5 Milliarden Jahre lang Sex, und der Zeitraum, in dem Sie gerade ein Kind zur Welt bringen, dauert 250 Millionen Jahre. Außerdem trinken Sie 44 Billionen Tassen Kaffee.

Sie lernen Grausamkeit und Güte von beiden Seiten kennen. Als Eroberer besetzen Sie Länder, und als Eroberte verlieren Sie Ihr Land. Sie spüren die Wut der Täter und das Leid der Opfer. Rund 10 Prozent Ihres Lebens halten Sie Sklaven, und etwa genauso lang sind Sie selbst versklavt.

Aus erster Hand erleben Sie dabei, wie außergewöhnlich unser modernes Zeitalter ist. Aufgrund des dramatischen Bevölkerungswachstums findet ein Drittel Ihres Lebens in der Zeit nach dem Jahr 1200 statt und ein Viertel nach 1750. Ab diesem Zeitpunkt verändern sich Technik und Gesellschaft so schnell wie nie zuvor. Sie erfinden die Dampfmaschine, die Fabrik und den elektrischen Strom. Sie erleben die wissenschaftliche Revolution, die blutigsten Kriege der Geschichte und Umweltzerstörung in gewaltigem Ausmaß. Jedes Ihrer Leben wird immer länger, und Sie genießen einen Luxus, wie Sie ihn nicht einmal in Ihren früheren Leben als Königinnen und Kaiser kannten. 150 Jahre verbringen Sie im Weltall, und eine ganze Woche lang gehen Sie auf dem Mond spazieren. 15 Prozent Ihrer Lebenszeit entfallen auf Menschen, die heute noch am Leben sind.

So sieht also Ihr bisheriges Leben aus, von der Geburt des Homo sapiens bis heute. Und nun stellen Sie sich weiter vor, dass Sie auch alle zukünftigen Leben erleben. Dann würde Ihr Leben gerade erst am Anfang stehen. Selbst wenn die Menschheit dieselbe Lebenserwartung hätte wie eine durchschnittliche Säugetierart (eine Million Jahre) und selbst wenn die Weltbevölkerung auf ein Zehntel ihrer heutigen Größe schrumpfen würde, hätten Sie jetzt noch 99,5 Prozent Ihres Lebens vor sich. Wenn man das auf eine normale menschliche Lebensspanne übertragen würde, wären Sie jetzt gerade einmal fünf Monate alt. Und falls die Menschheit länger überleben sollte als die übrigen Säugetierarten, falls sie viele Hundert Millionen Jahre überdauert, bis die Erde nicht mehr bewohnbar ist, oder sogar zig Billionen Jahre, bis der letzte Stern verglüht, dann wären Ihre bisherigen vier Billionen Lebensjahre nicht mehr als ein erstes Blinzeln nach der Geburt. Die Zukunft ist groß.

Wenn Sie wüssten, dass Sie diese vielen künftigen Leben wirklich noch leben würden, was täten Sie in der Gegenwart? Wie viel Kohlendioxid würden Sie in die Atmosphäre pusten? Wie viel würden Sie in Forschung und Bildung investieren? Wie gewissenhaft würden Sie mit neuer Technik umgehen, die Ihnen die Zukunft kaputt machen könnte? Wie viel Aufmerksamkeit würden Sie den langfristigen Folgen Ihres heutigen Verhaltens schenken?

Ich stelle Ihnen dieses Gedankenexperiment vor, weil Moral in erster Linie darauf basiert, dass wir uns in die Lage anderer Menschen hineinversetzen und ihre Interessen so behandeln, als wären es unsere eigenen. Wenn wir das auf die menschliche Geschichte übertragen, dann rückt die Zukunft in den Vordergrund, denn dort leben die meisten Menschen, und somit liegt dort auch fast das gesamte Potenzial für Freude und Leid.

In diesem Buch geht es um langfristiges Denken: den Gedanken, dass es die oberste moralische Priorität unserer Zeit ist, positiven Einfluss auf die Zukunft zu nehmen. Das langfristige Denken nimmt die Tatsache ernst, dass die Zukunft sehr groß sein kann und bei ihrer Gestaltung sehr viel auf dem Spiel steht. So seltsam das klingen mag: Wenn die Menschheit auch nur einen Bruchteil ihrer möglichen Lebenserwartung erreicht, dann sind wir ihre Urahnen: Wir leben ganz am Anfang der Geschichte, in der fernen Vergangenheit. Was wir heute tun, hat Einfluss auf unzählige künftige Menschenleben. Wir müssen also weise handeln.

In der neueren Philosophie gibt es eine ganze Denkschule, die sich mit dem langfristigen Denken beschäftigt: der Longtermism. Ich habe lange gebraucht, um mich damit anzufreunden. Es ist ein abstraktes Ideal und betrifft Generationen von Menschen, denen wir nie persönlich begegnen werden, weshalb es uns nicht mit derselben Intensität motivieren kann wie greifbare Probleme. Als Schüler habe ich Freiwilligenarbeit in Einrichtungen für Senioren und behinderte Menschen geleistet. Als Student hat mich die Armut in der Welt beschäftigt, und ich habe in einer Rehastation für Opfer von Kinderlähmung in Äthiopien gearbeitet. Als Doktorand habe ich überlegt, wie Menschen einander wirkungsvoller helfen können, und beschlossen, mindestens 10 Prozent meines Einkommens für gemeinnützige Einrichtungen zu spenden. Außerdem bin ich Mitgründer der Organisation Giving What We Can, die es Menschen ermöglicht, anderen auf genau diese Weise zu helfen.

Die Wirkung dieser Aktivitäten war mit Händen greifbar. Doch der Gedanke, etwas zu tun, was unbekannten Menschen in der fernen Zukunft zugutekommt, ließ mich anfangs kalt. Als mir ein Kollege den Longtermism nahebringen wollte, reagierte ich spontan ablehnend. Es gibt genug wirkliche Probleme für wirkliche Menschen, dachte ich: Armut, fehlende Bildungsmöglichkeiten, ein Tod durch leicht vermeidbare Krankheiten. Darum sollten wir uns kümmern, sagte ich mir. Spekulationen über Dinge, die in der Zukunft eine Rolle spielen könnten oder eben auch nicht, lenken nur davon ab, die sind wie Science-Fiction.

Doch die Argumente für das langfristige Denken beschäftigten mich weiter. Sie gingen von einfachen Überlegungen aus: Künftige Menschen zählen aus moralischer Sicht genauso viel wie die heute lebenden; ihre Zahl könnte riesengroß und ihr Leben außergewöhnlich gut oder außergewöhnlich schlecht sein; und wir haben heute großen Einfluss auf die Welt, in der sie einmal leben werden.

Die entscheidende Frage war ganz praktischer Natur: Selbst wenn wir uns Gedanken um die Zukunft machen, was können wir denn konkret tun? Doch je mehr ich darüber erfuhr, welche wegweisenden Ereignisse in naher Zukunft eintreten könnten, umso ernster nahm ich den Gedanken, dass wir uns womöglich auf einen entscheidenden Moment der menschlichen Geschichte zubewegen. Die technische Entwicklung schafft neue Gefahren, eröffnet aber auch neue Möglichkeiten für die Menschheit, und es geht um nicht weniger als das Leben zukünftiger Generationen.

Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass das langfristige Schicksal der Menschheit zum Teil von den Entscheidungen abhängig ist, die wir heute treffen. Die Zukunft könnte ganz großartig sein: Wir könnten eine blühende und stabile Gesellschaft aufbauen, in der alle Menschen ein besseres Leben haben als wir heute. Genauso gut könnte die Zukunft aber auch voller Leid sein und von Tyrannen beherrscht werden, die ihre Ideologie mittels Überwachungstechnik und Künstlicher Intelligenz für alle Zeiten zementieren – oder wir könnten sogar gleich von Künstlichen Intelligenzen beherrscht werden, die die Macht an sich reißen, statt zum Wohl der Menschen beizutragen. Oder vielleicht hat die Menschheit auch überhaupt keine Zukunft, vielleicht löschen wir uns mit biologischen Waffen aus oder entfesseln einen Atomkrieg, der die gesamte Zivilisation in den Abgrund reißt.

Andererseits können wir einiges tun, um die Zukunft in bessere Bahnen zu lenken. Eine wunderbare Zukunft wird wahrscheinlicher, wenn wir die Leitwerte unserer Gesellschaften korrigieren und die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz sorgfältig steuern. Wir können dafür sorgen, dass die Menschheit überhaupt eine Zukunft hat, indem wir den Bau und Einsatz neuer Massenvernichtungswaffen verhindern und den Frieden zwischen den Großmächten der Welt sichern. Das sind große Aufgaben, und wie wir sie angehen, hat weitreichende Folgen.

Also habe ich meine Prioritäten überdacht. Auch wenn mir noch nicht klar war, was langfristiges Denken genau bedeutet, habe ich den Schwerpunkt meiner wissenschaftlichen Arbeit verschoben und zwei Organisationen gegründet, die sich der Erforschung dieser Fragen widmen: das Global Priorities Institute an der Universität Oxford und die Stiftung Forethought Foundation. Ausgehend von meinen Erkenntnissen und Erfahrungen, versuche ich in diesem Buch, die Argumente für das langfristige Denken so darzustellen, wie sie mich selbst vor einem Jahrzehnt überzeugt hätten.

Auf den folgenden Seiten verwende ich drei wiederkehrende Metaphern. Die erste ist das Bild der Menschheit als leichtsinnige Jugendliche. Als Teenager haben wir den größten Teil unseres Lebens noch vor uns, doch die Entscheidungen, die wir in diesem Alter treffen, prägen möglicherweise unser gesamtes restliches Dasein. Bei der Wahl einer Ausbildung und eines Berufs und bei der Abwägung von Risiken, sollten wir uns nicht am kurzfristigen Kick orientieren, sondern auch daran, dass wir unser Leben noch vor uns haben.

Die zweite Metapher ist das Bild der Geschichte als geschmolzenes Glas. Die heutige Gesellschaft ist noch geschmeidig und lässt sich in viele Formen bringen. Aber irgendwann kühlt das Glas ab und wird immer zäher, bis es sich gar nicht mehr gestalten lässt. Dann kann das Resultat schön oder missraten sein, oder das Glas könnte auch einfach zerbrechen. Es hängt alles davon an, was wir mit ihm anstellen, solange es noch heiß ist.

Die dritte Metapher vergleicht den Weg in die langfristige Zukunft der Menschheit mit einer gefahrvollen Expedition ins Unbekannte. Wenn wir heute versuchen, eine bessere Zukunft zu gestalten, dann wissen wir nicht genau, welche Gefahren auf uns zukommen werden oder wohin die Reise überhaupt geht – trotzdem können wir uns auf sie vorbereiten: die vor uns liegende Landschaft erkunden, sicherstellen, dass die Expedition gut ausgerüstet und geplant ist, und uns gegen die Gefahren wappnen, die wir schon heute absehen können.

Dieses Buch nimmt sich einiges vor. Ich plädiere nicht nur für das langfristige Denken, sondern mache mir auch Gedanken, was das genau bedeutet. Dazu stütze ich mich auf ein ganzes Team von Beratern und Forschungsassistenten. Wo immer ich mich über mein Spezialgebiet, die Moralphilosophie, hinauswage, habe ich mich von Anfang bis Ende von Fachleuten beraten lassen. Daher ist es im Grunde gar nicht »mein« Buch, sondern eine Mannschaftsleistung – das Ergebnis einer zehnjährigen Vollzeitbeschäftigung, bei der fast zwei Jahre auf die Überprüfung von Fakten entfielen.

Für diejenigen, die sich eingehender mit den hier behandelten Themen beschäftigen wollen, habe ich auf der Webseite www.whatweowethefuture.com weiterführendes Material zusammengestellt, darunter auch die Forschungsberichte, die ich im Rahmen meiner Recherche in Auftrag gegeben hatte. Doch so umfangreich diese Arbeit war, glaube ich dennoch, dass wir gerade mal an der Oberfläche des langfristigen Denkens gekratzt haben und es noch sehr viel zu lernen gibt.

Wenn ich richtigliege, tragen wir eine große Verantwortung. Im Vergleich zu all den Menschen, die nach uns kommen werden, sind wir nur eine winzige Minderheit. Und doch haben wir die gesamte Zukunft der Menschheit in der Hand. Die Ethik hat es nur selten mit derartigen Maßstäben zu tun. Wir benötigen eine moralische Weltsicht, die sich darüber im Klaren ist, was auf dem Spiel steht.

Wenn wir weise Entscheidungen treffen, können wir unseren Beitrag dazu leisten, die Menschheit auf den richtigen Kurs zu führen. Dann werden unsere Ururenkel auf uns zurückblicken und uns danken, weil sie wissen, dass wir alles in unserer Macht Stehende getan haben, um ihnen eine gerechte und schöne Welt zu hinterlassen.

[...]

30.08.2023, 09:27

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