Aufbruch in die Welt von morgen

Leseprobe Die Art, wie wir leben, wird sich fundamental verändern. Bisherige Selbstverständlichkeiten zerbröseln. Doch dieses Buch macht Mut: Maja Göpel verdeutlicht, wie wir komplexe Entwicklungen verstehen und das Wissen für eine bessere Welt nutzen können
„Urban Gardening“: Willkommene Abwechslung zwischen Hochhäusern
„Urban Gardening“: Willkommene Abwechslung zwischen Hochhäusern

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Verhalten – Anders organisieren

»Je größer der Druck der Verbände und Gruppen auf den Gang der Politik, je ungehemmter der Egoismus von Teilgewalten sich entfesselt, um so entschiedener ist es allen verantwortlichen Kräften (…) aufgegeben, für die Respektierung des Gemeinwohls Sorge zu tragen.«

– Ludwig Erhard, Politiker159

Paris ist die am dichtesten besiedelte Stadt in Europa. Auf einer Fläche, die kleiner ist als ein Achtel von Berlin, leben mehr als zwei Millionen Menschen. Den Tourist:innen, die jedes Jahr zu Hunderttausenden in die Stadt kommen, mag das egal sein. Die französische Hauptstadt besucht man ja normalweise wegen anderer Superlative. Für Menschen aber, die in und um Paris leben, hat diese Tatsache enorme Auswirkungen. Sie bedeutet, dass Platz in der Stadt knapp ist – und das macht ihn teuer. Wer im Zentrum von Paris eine Wohnung sucht, muss als Mieter:in fast 30 Euro pro Quadratmeter zahlen können und als Käufer:in fast 13 000 Euro.160 Das können sich nur sehr wenige Menschen leisten, und die, die es können, leben oft gar nicht in der Stadt, sondern nutzen die Wohnung als Geldanlage. Paris ist nicht nur die am dichtesten besiedelteste Stadt in Europa, sie ist auch die zweitteuerste der Welt.161 Von den zwölf Millionen Menschen, die im Großraum der Metropole leben, wohnen daher zehn Millionen in den Vororten, den Banlieues, Hochhaussiedlungen, die hinter dem mehrspurigen Autobahnring liegen, der die Stadt von ihrem Umland abgrenzt. Von dort aus pendeln sie jeden Morgen zur Arbeit, fahren abends wieder zurück und stecken dabei – auch das für Europa ein Superlativ – pro Jahr fast sieben ganze Tage im Stau.162 Oder steigen stattdessen in die Regionalbahn oder in die Metro, die fast immer so voll sind, dass man sich buchstäblich in sie hineinquetschen muss.

»Métro, boulot, dodo«, so nennen viele Pariser:innen jenen Dreiklang, der ihren Alltag prägt. Die Aufzählung bedeutet so viel wie »Metro, Arbeit, Schlafen« und ist angelehnt an ein Gedicht, mit dem der französische Schriftsteller Pierre Béarn bereits in den 1950er-Jahren beschrieben hat, wie sich aus der scheinbar unveränderlichen Tatsache, dass Arbeit und Wohnen sehr weit voneinander entfernt liegen, ein monotoner Lebensrhythmus ergibt, der offenbar nicht zu durchbrechen ist.

Das ursprüngliche Leitbild einer europäischen Stadt, nämlich viele unterschiedliche Funktionen des Austauschs auf kurzen Wegen bequem miteinander zu verbinden, schien in Paris verloren gegangen zu sein.163 Anderen Metropolen ging es ganz ähnlich. Deshalb umfasst die globale Agenda der siebzehn Nachhaltigkeitsziele ein eigenes Ziel für nachhaltige Städte. Sie sind Ballungszentren, an denen sich die Vernetzung zwischen sozialen, ökologischen, kulturellen und ökonomischen Trends am deutlichsten zeigt. Für europäische Städte gibt es darüber hinaus mit der Leipzig Charta 2007 und 2020 ein klares Leitbild der »integrierten Stadt« mit einem Fokus auf Gemeinwohl: »Zum Gemeinwohl gehören verlässliche öffentliche Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sowie die Verringerung und Vermeidung von neuen Formen der Ungleichheit in sozialer, wirtschaftlicher, ökologischer und räumlicher Hinsicht. Unser gemeinsames Ziel sind der Erhalt und die Verbesserung der Lebensqualität in allen europäischen Städten und Gemeinden und ihren funktional zusammenhängenden Räumen. Niemand soll dabei zurückgelassen werden.«164

Ob aus einem solchen erklärten auch ein gelebtes Ziel wird, hängt, Sie ahnen es, natürlich von Menschen ab. Den Wirks in unserer Welt.

Als sich die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo im Jahr 2020 um ihre Wiederwahl bewarb, trat sie mit einem Konzept an, das sie die »15-Minuten-Stadt« nannte. Sie will, dass die Bürger:innen alles, was sie in der Stadt zu erledigen haben, in einem Umkreis von einer Viertelstunde erledigen können. Das soll nicht nur für den Einkauf gelten, den Besuch beim Arzt, die Schule, das Kino, Theater oder Fitnessstudio, auch der Arbeitsplatz zählt dazu – und alles, ohne ein Auto benutzen zu müssen.165 Schon in ihrer ersten Amtszeit hatte die Bürgermeisterin begonnen, Paris für dieses Ziel umzubauen.166 Sie sperrte die große Schnellstraße entlang des Nordufers der Seine, die die Stadt von Ost nach West durchzog. Wo bis dahin täglich mehr als 70 000 Autos unterwegs waren, ließ sie einen Park anlegen, den sie für Radfahrer:innen und Fußgänger:innen freigab. Heute gibt es dort Cafés, Bars und kleine Läden. Für den Fall ihrer Wiederwahl kündigte Hidalgo an, fast die Hälfte der öffentlichen Parkplätze, das sind etwa 70 000 Stück, in Grünflächen umwandeln zu lassen. Auf dem Autobahnring sollen Autos, in denen nur eine einzige Person sitzt, nur noch eine Spur benutzen dürfen, der Rest gehört Mitfahrgemeinschaften, Bussen und Fahrrädern. Einige der großen Avenuen, die die Stadt durchqueren, sollen zu Radwegen werden, einige der berühmten Plätze zu Fußgängerzonen. In bestimmten Wohnvierteln soll sogar jede Straße so verschmälert werden, dass Autos dort nicht mehr überholen können. Ohnehin gilt in Paris heute fast flächendeckend Tempo dreißig.

Was wäre in Deutschland los, wenn sich eine Politikerin in einer derart großen Stadt mit so einem Programm zur Wahl stellt? In Hannover etwa wurde Belit Onay für seine Vision der autofreien Innenstadt 2019 zwar als Oberbürgermeister wiedergewählt. Doch jetzt, wo es konkret wird, sinkt die Zustimmung: Den Einkauf würden die Leute eben lieber mit dem Auto erledigen, heißt es aus dem Einzelhandel, und es müssten doch alle willkommen sein, egal wie sie anreisen.167 Dabei geht es doch erst einmal um den Durchgangsverkehr, der sinken soll. Wenn Menschen zu Fuß oder mit dem Rad einkaufen, scheinen sie übrigens gar nicht weniger einzukaufen, sie kaufen nur, wie Studien zeigen, häufiger und dafür kleinere Mengen auf einmal ein.168 Und Berlin? Dort hat der Senat einen Volksentscheid zur autofreien Innenstadt gar nicht erst zugelassen. Dabei ging es allerdings auch gleich um einen Gesetzesentwurf, und der sah auch für Anwohner:innen nur noch begrenzte Fahrerlaubnisse für Urlaub oder Transport vor. Das schränke die Handlungsfreiheiten der Bürger:innen zu stark ein, urteilte die lokale Regierung.169

So schnell landet man wieder in Tanaland, wenn die Aufmerksamkeit zu stark auf das scheinbar drängendste Problem fixiert wird. Mit der »Überwertigkeit des aktuellen Motivs« verlieren sich die größeren Zusammenhänge aus dem Blick.

Das passiert Anne Hidalgo nicht.

Hidalgo hat verstanden, dass sie den Bewohner:innen der Stadt nicht einfach ihr Auto wegnehmen konnte, egal wie viele gute Gründe es dafür gab. Sie musste ihnen ein Angebot machen, wie sie den Alltag stattdessen ohne Auto besser bewältigen konnten. Und zwar so, dass er sogar schöner und stressfreier wurde. Den dritten Horizont klar anvisieren und kommunizieren, auch wenn es sich kurzfristig dann erst einmal unbequemer und umständlicher anfühlt.

Sie wird 2020 als Bürgermeisterin bestätigt, und in ihrer zweiten Amtszeit soll die Metro 200 zusätzliche Kilometer erhalten, um Vororte besser anzuschließen. Das Radwegenetz soll auf 1000 Kilometer anwachsen. Laut Stadtverwaltung hat sich die Anzahl der Radfahrer:innen in der Stadt von 2019 bis 2020 verdoppelt.170 Seit Langem betreibt Paris mit »Plan Vélo« eines der größten Fahrradverleihsysteme außerhalb Chinas.171 In den nächsten Jahren will Hidalgo nicht nur 40 000 Sozialwohnungen bauen lassen, sondern auch 30 000 Wohnungen in den städtischen Wohnungsmarkt zurückholen, die den Pariser:innen derzeit noch entzogen sind, weil sie über Plattformen wie Airbnb an Tourist:innen vermietet werden. Außerdem will sie 170 000 Bäume pflanzen lassen. Vor dem Rathaus, der Oper oder dem Bahnhof Gare de Lyon sollen kleine Wälder entstehen. Auch wenn die Kritiker:innen von Hidalgo es gern anders darstellen: Sie kämpft nicht gegen ein bestimmtes Verkehrsmittel. Sie will schlicht den begrenzten öffentlichen Raum der Stadt wieder für das Gemeinwohl öffnen und die soziale, ökologische und räumliche Gleichheit unter allen Bürger:innen ins Zentrum der Stadtgestaltung stellen.

Die Ideen, auf die Anne Hidalgo sich bei ihrer Politik stützt, gehen auf das Konzept einer living smart city, einer lebendigen, intelligenten Stadt, zurück, das der französisch-kolumbianische Wissenschaftler Carlos Moreno erdacht hat.172 Sein Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass moderne Metropolen ihren Bewohner:innen kein natürliches Gefühl für Raum und Zeit mehr vermitteln. Der Raum wird geschrumpft, weil die vielen Transportmittel weite Wege überwinden und damit jeden Ort innerhalb der Stadt leicht erreichbar machen. Sobald man diese Transportmittel aber nutzt, wird die Zeit gedehnt, und man verbringt täglich mehrere Stunden im Auto oder der Metro, obwohl man eigentlich nur zur Arbeit will. Mit der Idee, dass alles, was zum Leben wichtig ist, im Umkreis von fünfzehn Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein soll, will Moreno den Menschen ihr natürliches Gefühl für Raum und Zeit zurückgeben. Die Strukturen der Stadt sollen sich nach den Bedürfnissen ihrer Bewohner:innen richten, nicht umgekehrt.

Als Anne Hidalgo eines Tages Carlos Moreno anrief, um sich über sein Konzept zu informieren, habe er, wie er später einer Journalistin erzählte, zuerst gedacht, es würde sich am Ende vielleicht irgendwo am Schluss eines Flugblatts wiederfinden.

»Aber sie rückte es ins Zentrum.«173

Inzwischen hat das Time-Magazin Anne Hidalgo zu einer der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gewählt,174 und Paris gilt international als einer der interessantesten Orte, wenn es um einen ökologisch-sozialen Stadtumbau geht. Die französische Hauptstadt reiht sich ein in Entwicklungen, die es auch in Kopenhagen, Amsterdam, Wien, Zürich oder Barcelona gibt. Wenn man als Tourist:in in diese Städte reist und deren Lebendigkeit bewundert, spricht man oft von der Kultur, die diese Städte so besonders macht. Nur selten macht man sich klar, dass Kultur sich auch aus den Strukturen ergibt, die ihre Lebendigkeit ermöglichen. Umgekehrt sind Infrastrukturen Ausdruck einer Kultur. Sie organisieren Beziehungen und Begegnungen, beeinflussen unsere Wahrnehmung, prägen soziale Einstellungen und legen ein gewünschtes Verhalten innerhalb des Systems fest – oder machen zumindest einige Entscheidungen und Verhaltensweisen einfacher und wahrscheinlicher als andere. Sie erleichtern Schritte in eine Richtung und erschweren Schritte in eine andere.

Lange haben sich die Planungen für die städtische Infrastruktur, also für Straßen, Ampeln oder Parkplätze, am dem Leitbild der autofreundlichen Stadt orientiert. Es beeinflusst Regeln wie die Straßenverkehrsordnung, die so gefasst ist, dass sie dem Auto Vorrang gibt, indem sie ihm erlaubt, schneller zu fahren als Radfahrer, und die Grünphasen der Autoampeln aufeinander abstimmt. Ebenso Institutionen, die Flächen zuordnen, Baugenehmigungen erteilen, Verkehrswege planen, die also Zugang gewähren oder Designs bestimmen. Aus der Summe entsteht ein System, das bestimmte Formen der Mobilität attraktiver macht als andere. Und damit die stocks and flows eines Mobilitätssystems, also die Bestände an Autos, Straßenbahnen, Radfahrwegen und Parkplätzen sowie die Frequenz und Geschwindigkeit, mit der sie sich hin und her bewegen. Stellen wir uns nun für einen Moment vor, die Ampelphasen würden so umgestellt, dass Fußgänger:innen und Radfahrer:innen doppelt so lange Grün haben wie Autofahrer:innen. Das würde die Staus, die Wegezeiten und damit die Entscheidung, womit man von A nach B kommt, enorm verschieben. Und somit auch die Bestände von Fortbewegungsmitteln, die in einer Stadt vorzufinden sind.

Mit dem Leitbild der 15-Minuten-Stadt ändert sich also die Bestimmung, nach der die Regelsetzung und Anreize ausgerichtet werden – und es ergibt sich eine völlig andere Stadt mit völlig anderem Lebensgefühl. Natürlich nicht von heute auf morgen – aber eben über die Zeit, wenn die Innovationen aus dem zweiten Horizont sich an der neuen Bestimmung ausrichten. Denn dann entstehen aus den vielen einzelnen Aktivitäten und Entscheidungen der in einem System agierenden und lebenden Wirks Schritt für Schritt neue Lösungen, um die übergeordnete Zielerreichung zu organisieren.

Kurz: Es findet gesellschaftliches Innovationslernen statt.

»Wenn Systeme gut arbeiten, erkennen wir eine Art Harmonie in ihrem Funktionieren«, schreibt Donella Meadows.175 Man könnte diesen Zustand auch als »Harmonie der Hierarchien« bezeichnen. Sie entsteht, wenn das übergeordnete System, hier die Stadtregierung, die für das Wohl des Ganzen sorgen soll, den Rahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die untergeordneten Systeme, also die Wohnenden, Arbeitenden, Verkaufenden, Reisenden, mit ihren verschiedenen Ansprüchen frei organisieren können. Zentral für diese Harmonie ist, dass die Summe ihrer Aktivitäten zugleich die Bestimmung des übergeordneten Systems ermöglichen. Wenn das Leitbild »autofreundlich« irgendwann nicht mehr mit ökologischer, sozialer, räumlicher und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zusammenpasst, braucht es ein neues. Wird das neue zur gelebten Bestimmung, folgen die Strukturen dem deklarierten Ziel. Idealerweise so, dass die Instanz, die sich um Verkehr kümmert, weder mit der für Ressourcenschutz noch mit der für Wohnungsbau und auch nicht mit der für Wirtschaftsförderung weiter konkurriert – sondern alle vier gemeinsam darüber nachdenken, wie Flächen, Infrastrukturen und Wege so gestaltet werden können, dass ein Quadratmeter mehrere Ziele bedienen kann.176

Vom sektoralen zum räumlichen Denken.

Vom Nullsummenspiel zum Multisolving.

Ein weiteres Beispiel dafür ist der deutsche Wald. In unserer Fantasie mag er manchmal noch so aussehen wie der mythische Wald, in dem die Märchen spielen, die wir als Kinder gehört haben. Uralt, wild und voller Geheimnisse, mit Eichen, Buchen und meterdicken Stämmen. Tatsächlich sieht der Wald schon lange nicht mehr so aus. Vor allem in den Mittelgebirgen prägen heute Fichten das Bild.177 Wie im Spalier stehen sie dort nebeneinander, so dicht, dass kaum Licht auf den Waldboden fällt. Das ist kein Zufall, sondern das Ergebnis von Pflanzung. Das lange, gerade Holz der Fichte war seit jeher ein beliebtes Bauholz, das hohe Gewinne brachte, weshalb es lange Zeit üblich war, den Baum früh in einen Wachstumsstress zu versetzen. Legte man eine Schonung an, pflanzte man die Setzlinge bewusst eng, damit sie gezwungen waren, schnell an Höhe zu gewinnen, wenn ihnen die anderen nicht das Licht nehmen sollten. Außerdem bildete die Fichte in diesem sogenannten Engstand weniger starke Seitenäste aus, was jenen astreinen Wuchs ergab, den die Bauwirtschaft so sehr bevorzugt. Allein stehend hat die Fichte die Form eines Kegels, eng stehend dagegen die eines Zaunpfahls.

Wer sehen will, wie sich sektorales Silo-Denken und eine zu eng gefasste Bestimmung eines Systems – in dem Fall die Erhöhung der Holzmenge – in einer bestimmten Struktur niederschlagen, muss nur in den deutschen Wald gehen. Wer wissen will, was mit dieser Struktur passiert, wenn Veränderungen auf sie zukommen, kann gleich dort bleiben.

Als im Jahr 2018 heftige Stürme über Deutschland zogen, richteten sie in den Wäldern schweren Schaden an. Normalerweise wird Windbruch sofort aus dem Wald geräumt, weil die umgeknickten Bäume ein idealer Nährboden für den Borkenkäfer sind, den Feind der Forstwirtschaft. Doch damals waren die Schäden so groß, dass die Waldarbeiter das nicht mehr schafften. In den nächsten Jahren kam es daher zu einer regelrechten Borkenkäfer-Invasion. Gegen solche Angriffe verfügt die Fichte eigentlich über zwei natürliche Abwehrmechanismen. Zum einen bildet sie starke Seitenäste aus, die ihren Stamm vor der Sonne abschirmen. Da der Borkenkäfer Wärme liebt, bietet das einen gewissen Schutz. Im Engstand, ohne Seitenäste, fällt dieser jedoch weg. Der zweite Abwehrmechanismus ist das Harz, mit dem der Baum die Löcher in der Rinde wieder verschließt, die der Käfer gebohrt hat. Nun aber waren aufgrund des aufziehenden Klimawandels die Sommer so heiß, dass die Fichten, geschwächt durch Trockenheit, weniger Harz produzierten. Selbst gesunde Bäume wurden so vom Borkenkäfer befallen, der sich durch die Hitze bis zu viermal statt wie üblich zweimal im Jahr vermehrte.178

Ähnlich wie bei der Autofreundlichkeit war das Ziel des Systems Holzvolumen zu eng gefasst und damit der Spielraum künstlich verkleinert geworden. Wäre das Ziel beispielsweise Waldgesundheit gewesen, hätte man den Baumbestand weniger dicht, monoton und flächenweise gepflanzt. Dann hätten Blätterdächer durch Laubbäume Schatten gespendet und Blaubeeren und Moos das Wasser gespeichert, wären die Bäume weniger trocken und dem Borkenkäfer weniger ausgeliefert gewesen, der eigentlich kranke Bäume in den Stoffkreislauf des Waldes zurückführt, wo deren Totholz als Nahrung für Insekten und Humus für den Boden dient. So aber entstand das größte Fichtensterben der Nachkriegszeit. Inzwischen muss Deutschland eine Fläche wieder aufforsten, die mehr als fünfmal so groß ist wie der Bodensee.179

Systeme verändern sich und werden verändert. Dieser ständigen Dynamik zu begegnen und immer wieder Antworten auf Fragen zu finden, die sich bis dahin nicht stellten, das ist die Aufgabe des Fortschritts und des antizipativen Korrigierens von Trends, die zu einseitig werden und dafür sorgen, dass die übergeordnete Bestimmung verfehlt wird. Es geht um geeignete Vorwärtskopplungen, die Krisen möglichst gut verhindern, abfedern und uns schnell aus ihnen herauskommen lassen.

Zu Beginn des Jahres 2021, Deutschland befand sich mitten in der dritten Welle der Pandemie, fragte der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in einem im Spiegel veröffentlichten Essay, welche Antworten der Staat auf diese Herausforderung geben könne.180 Wie gut oder schlecht er dafür gerüstet ist, haben wir in der Pandemie gesehen, davor bei der Finanzkrise und der Migration, und wir werden es beim Klimawandel und dem Artensterben erleben – und das sind nur die Krisen, von denen wir wissen, dass sie uns in Zukunft erwarten. Die unerwarteten sind da noch gar nicht mitgerechnet.

Wie soll sich der Staat auf diese Zukunft vorbereiten?

Andreas Reckwitz bringt dazu die Resilienz ins Spiel, einen Begriff, der heute überall verwendet wird und sich mit Widerstandsfähigkeit übersetzen lässt. Ursprünglich stammt er aus der Psychologie, wo er als Fähigkeit verstanden wird, mit schweren Schicksalsschlägen umzugehen, also möglichst gut und zügig wieder auf die Beine zu kommen. In »Resilienz« steckt das lateinische Wort resilire, zurückspringen, weshalb die Wissenschaft hier auch gerne die englische Formulierung bouncing back verwendet. Mittlerweile, so Reckwitz, habe der Begriff auch Eingang in die Politik gefunden, wo er Gutes wie Schlechtes anrichte: »Zweifellos« schreibt er, »ein Paradigmenwechsel in Richtung einer Politik der Resilienz im 21. Jahrhundert wäre ein Akt der Klugheit«, aber er habe auch seine Tücken.181

Eine Politik der Resilienz unterscheide sich nämlich insofern von allen bisherigen Politiken, als dass sie von einer vollkommen anderen Zukunft ausgehe, als wir sie bisher kennen. Während sowohl für den Wohlfahrtsstaat der 1950er- und 1960er-Jahre als auch für den Wettbewerbsstaat ab den 1980er-Jahren die Zukunft immer offen und voller Chancen gewesen sei, die nur ergriffen werden mussten, um mehr Fortschritt, Freiheit und Wohlstand zu erreichen, bestehe die Zukunft für eine Politik der Resilienz vor allem aus Risiken, die immer wieder heftige Störungen bis hin zum Kollaps verursachen. Darin steckt Reckwitz zufolge ein fundamentaler Perspektivwechsel, bei dem das grundlegende Narrativ umgedreht werde: »vom Streben nach dem Neuartigen und Positiven in das Vermeiden oder Aushalten des Negativen. Die Gesellschaft erscheint weniger als ein Raum für den Aufbruch in eine progressive Zukunft, sondern im Zustand der allseitigen Verletzbarkeit«, in dem es gelte, »das Schlimmste zu verhüten«.

Für Reckwitz entsteht auf diese Weise eine »Politik des Negativen«, die lerne, »mit den Verlusten zu rechnen«.182 Auch wenn der Soziologe die Notwendigkeit einer solchen Politik sieht, so ist ihm doch ein Unwohlsein anzumerken, schließlich dürfe die Sensibilität für transformative Veränderungsmöglichkeiten nicht verloren gehen.

Spannenderweise gibt es durchaus auch Forschungsansätze, in denen genau diese Transformabilität, also die »Fähigkeit, unerprobte Anfänge zu schaffen, aus denen sich eine völlig neue Form des Lebens entwickelt«,183 im Zentrum des Resilienzbegriffs steht und nicht als eine Alternative dazu verstanden wird. So zum Beispiel im Stockholm Resilience Center, das Resilienz als ein strukturelles und dynamisches Konzept analysiert: Wie gelingt es sozio-ökologischen Systemen, sich in Krisen nicht nur möglichst schnell wieder zu erholen, sondern sich auch vorwärtsgerichtet weiterzuentwickeln und damit die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Krisen zu reduzieren?184 Kurz: Können sie nicht, statt mit bouncing back, auch mit bouncing forward reagieren?

Einen ähnlichen Schwerpunkt setzen auch die Forscher:innen des Joint Research Center (JRC), einer europäischen Forschungsstelle im italienischen Ispra, unweit des Lago Maggiore. Dort beraten Wissenschaftler:innen aus den verschiedensten Disziplinen die Europäische Kommission und arbeiten ihr zu. In den 1950er-Jahren als Zentrum zur gemeinsamen Erforschung der Atomenergie gegründet, kümmerten sich die Kolleg:innen bereits in den 1980er-Jahren um die Solarenergie und wurden somit zu wissenschaftlichen Pionieren einer europäischen Umweltpolitik. Als ich sie besucht habe, zeigten sie mir, wie ihnen mit Satellitenbildern von Google Earth eine ziemlich genaue zeitliche Beobachtung von Ökosystemen wie beispielsweise Flüssen gelingt – und sie so frühzeitig erkennen können, wenn sich dort, wie etwa bei Peter Lake, ein critical slowing down anbahnt. Ihr Schwerpunkt liegt in der Prävention von Krisen, weshalb sie sich eben nicht nur den Zeitpunkt der Krise ansehen und was dann möglich ist. Vielmehr analysieren sie, wie wir Krisen bestmöglich verhindern und gleichzeitig die übergeordnete Bestimmung des jeweiligen Systems weiter positiv verfolgen können.185 Dazu führen sie ein wichtiges Begriffspaar ein: Sie unterscheiden zwischen dem Output und dem Outcome eines Systems.

Bleiben wir zunächst beim Output.

In der Regel bewerten wir die Funktionsfähigkeit eines Systems nach seinem Output, also einer quantitativen Ausgabe. Beim Beispiel des deutschen Waldes wäre das die Höhe des Holzertrags. Mehr ist dabei in der Regel besser, und der Wert des aktuellen Jahres wird im Folgejahr zur Referenz. Kaum etwas bringt das so auf den Punkt wie unser Verständnis von Versorgungssicherheit.

Die Versorgungssicherheit muss gewährleistet sein, heißt es bei jeder Gelegenheit. Damit sind heute allerdings nicht mehr Wohnungen mit Zentralheizung gemeint, kostenlose Schulen oder eine ärztliche Grundversorgung für alle, unabhängig vom Einkommen. Das war für unsere Großeltern so. Versorgungssicherheit drückt sich für uns heute in einem lückenlosen Handynetz aus, einer digitalen Verwaltung oder dem Lieferdienst, der in zehn Minuten nach der Bestellung mit Essen vor der Tür steht – und das alles natürlich zusätzlich zu dem, was für unsere Großeltern galt, am besten möglichst optimiert. Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, dass in der Europäischen Union seit dem Jahr 2017 nur noch Staubsauger mit einer Leistung von weniger als 900 Watt verkauft werden dürfen, nachdem die Hersteller Jahre zuvor gut und gern bis zu 1600 Watt in die Geräte packten, weil der Kunde angeblich Staubsauger mit immer mehr Leistung haben will?186

Und ist es bei Ihnen zu Hause seitdem weniger sauber?

Das, was wir Versorgungssicherheit nennen, beschreibt in Wirklichkeit nichts anderes als die Erwartung, dass unsere ständig wachsenden materiellen Ansprüche störungsfrei erfüllt werden, als wäre das vollkommen normal. Dabei wird eine Frage nie gestellt: Wie soll den versorgenden Systemen das gelingen? Und auf welchem Niveau der Versorgung oder Sicherheit sind wir denn eigentlich zufrieden?

Das Joint Research Center, ähnlich wie die Forscher:innen am Stockholm Resilience Center, hat dieses Defizit bemerkt und sich gefragt, inwiefern es eigentlich unsere Vorstellung von Resilienz beeinflusst. Aus diesem Grund haben sie ein Konzept entworfen, das aus drei Teilen besteht und besser veranschaulichen soll, auf welchen Säulen unsere Resilienzsteuerung steht.

Für dieses Modell haben sie im ersten Schritt den Output mit dem Outcome ersetzt, womit das Ergebnis gemeint ist, das wir mit einem möglichen Output eigentlich erreichen wollen. Für Hidalgos 15-Minuten-Paris ist das die am Gemeinwohl orientierte Stadt. Für die Gesellschaft als Ganzes das menschliche Wohlergehen oder auch das größte Glück für die meisten. Und das lässt sich, wie schon im Kapitel »Vermögen« beobachtet, mit sehr unterschiedlichen Strategien erreichen.187 Allein durch diese Erweiterung des dritten Horizontes entsteht viel mehr Raum für positive Resilienz-Politik.

Als zwei weitere Säulen für die Resilienzsteuerung identifizieren die Wissenschaftler:innen des JRC zum einen die aktuellen sozialen und ökologischen Kooperations-, Verarbeitungs- und Produktionsprozesse einer Gesellschaft, die sie engine nennen. Hinzu kommen die jeweiligen Vermögenswerte, die assets, also der Bestand an ökologischem, sozialem und menschlichem Kapital sowie dem sogenannten Realkapital, das alles bisher Produzierte umfasst.

Je nachdem, wie wir unser gesellschaftliches Betriebssystem organisieren, werden sich alle drei Säulen der Resilienz verändern: die Vermögensbestände, die Prozesse und die Art von Output, mit dem wir das Ergebnis – das Outcome – des menschlichen Wohlergehens erreichen. Und auf dem Weg dahin haben wir einiges an Spielraum: mehr oder weniger Müll und Umweltzerstörung wird erzeugt, mehr oder weniger hilfreiches Lernen findet statt, mehr oder weniger Vertrauen und Kooperationsfähigkeiten werden aufgebaut. Und zwar in unserem täglichen Leben als Wirk in diesen Prozessen. Nicht erst mit dem Turbo-Staubsauger, wie es die bloß Output-basierten ökonomischen Modelle annehmen.

Wieso wir damit besser nach vorne koppeln können?

Weil wir in der Art, wie wir diese Prozesse organisieren, die Puffer in den Beständen auch wieder aufbauen können. Anders gesagt: Wir können sehr viele unterschiedliche Strategien entwickeln, um durch ein besseres Betriebssystem die Krisen nicht nur zu parieren, sondern sie auch unwahrscheinlicher zu machen. Denn Krisen resultieren, wie wir an vielen Beispielen gesehen haben, oft genau daraus, dass wir nicht frühzeitig darauf achten, wenn die Bestände – die assets – zu gering werden: wenn nicht mehr genug Fläche für die Bedürfnisbefriedigung der Städter da ist oder wenn im Wald nicht mehr genug balancierende Rückkopplungsschleifen vorhanden sind. Richtig brisant wird es, wenn in Krisen strukturkonservativ reagiert wird, also alles gegen die Schocks verteidigt, aber nicht transformiert werden soll.

Eine positive Resilienz-Politik würde hingegen bedeuten, dass wir stattdessen strukturkreativ und werterhaltend in die Zukunft planen, und zwar rechtzeitig. Dann geht es um die Stärkung der Vermögenswerte, woraus auch ganz direkt das gesellschaftliche Wohlergehen gespeist wird: intakte Natur, gute Bildung und Gesundheit, vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen und Institutionen sind ja nicht nur Faktoren für wirtschaftliche Prozesse, sondern beschreiben unser Leben und Zusammenleben. Und dann geht es auch um die Stärkung unserer Fähigkeiten, Prozesse und Strukturen frühzeitig zu verändern. Transformation by design, not disaster, wie es im Englischen heißt.188

Wie das geht?

Transformationswissenschaftler:innen beschreiben dafür einen dauerhaften Lernprozess, typischerweise in vier Schritten.189

Der erste Schritt besteht darin, nicht nur frühzeitig zu agieren, sondern das Problem auch wirklich zu verstehen. Und damit auch das System, das es hervorbringt. Klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht. Dafür passiert es immer noch zu oft, dass der neue Chef schon verkündet, wie er die Abteilung umkrempeln wird, bevor er überhaupt mit den Mitarbeiter:innen gesprochen hat. Oder das Problemverständnis selbst wird nicht mehr hinterfragt – wie beim Bau des Bewässerungskanals in Tanaland. Neue Einsichten und besseres Verständnis der Zusammenhänge entwickeln sich aber häufig erst, wenn mit allen Akteur:innen geredet wird, die für das System wichtig sind. Das bedeutet, zuzuhören, was diejenigen, die den ganzen Tag mit einem Problem konfrontiert sind, brauchen, um die Dinge besser zu machen, statt ihnen Lösungen anzubieten, mit denen sie womöglich gar nichts anfangen können. »Das ganze System in den Raum holen«, nennen die Transformationsforscher:innen diesen Schritt.

Im zweiten Schritt geht es darum, eine Zielbeschreibung und eine entsprechende Mission für den Veränderungsprozess zu entwickeln, der in und mit dem System erreicht werden soll. Während beim ersten Schritt das Systemwissen und eine angemessene Problembeschreibung im Vordergrund stehen, also Vernetzung, Dynamiken und möglicherweise diverse gelebte Ziele erfasst werden, entsteht im zweiten ein breit getragenes Zielwissen, also eine Übereinkunft darüber, wohin es eigentlich gehen soll und auf welchen Wegen man dorthin kommen kann. Damit eine Mission breit getragen wird, muss sie für die Beteiligten und Betroffenen anschlussfähig bleiben. Sich für Geschichten eignen, die wir uns auf den Gängen erzählen. Zeigen, dass einzelne Schritte sich im großen Ganzen verorten können, mitsamt den passenden Messgrößen und Erfolgsindikatoren, die das Verhalten auf dem Weg orientieren und Fortschritte abbilden.

Im dritten Schritt, oft als »Portfolio« bezeichnet, wird ein Repertoire an Ideen für die gewünschte Veränderung entwickelt und ihr Einsatz choreografiert. Das ist die Phase des Erkundens und Experimentierens, in der sich der Möglichkeitsraum öffnet, eine Vielfalt an unterschiedlichen Ansätzen entsteht, die sich miteinander austauschen und im Idealfall kombinieren lassen, um Mehrfachlösungen, also Multisolving, zu ermöglichen. Komplexe Systeme brauchen den Tanz und die Interaktion, oft über bisher bestehende Abteilungen oder Institutionen hinweg, und nicht das stoische Abarbeiten von fixierten Plänen. Dafür sind neben quantitativen immer auch qualitative Indikatoren nötig, die eine Organisationskultur erfassen, also das Lebendige. Viel zu oft lässt der Verweis auf Zuständigkeiten den Misfits die Luft raus, die Verantwortung übernehmen wollen. Allzu leicht kann Wirkungsorientierung von Verfahrensregeln erstickt werden. »Das ist so nicht vorgesehen« sollte also ein Satz sein, auf den ein »Warum nicht?« folgen darf.

Im vierten Schritt, der das Verbreiten und die Verstetigung des Gelernten umfasst, geht es darum, die erfolgreichen Lösungen im System zu verankern und sie zu skalieren. Das heißt nicht immer, sie größer zu machen, einige funktionieren vielleicht nur bis zu einer bestimmten Größenordnung und sollten lieber in Variationen multipliziert werden. Wichtig ist dabei, in den Experimenten nicht Spielplätze für ein paar nervige Utopist:innen, sondern die Pionierarbeit für größere Veränderung zu sehen – und sie auch so zu behandeln. Nur so können sie gesellschaftliches Lernen inspirieren und als Teile einer neuen Normalität verstetigt werden. Dafür braucht es eine entsprechende Haltung. Und Führungspersonal, das sowohl über die Qualitäten einer Hebamme als auch über die einer Palliativschwester verfügt, also das Neue gut begrüßen und das Alte gut verabschieden kann. Denn dann entsteht etwas, das Donella Meadows »Selbstorganisation« nennt und als das zentrale Charakteristikum von Systemen bezeichnet, die sich strukturkreativ am Puls der Zeit entwickeln.

Die Harmonie der Hierarchien in komplexen Systemen ist also etwas anderes, als wir es uns oft vorstellen. Sie orientiert sich von unten nach oben. »Zweck der oberen Hierarchieebenen ist es, den Zwecken der unteren Ebenen zu dienen«, schreibt Donella Meadows.190 Eine Harmonie der Hierarchien zu kuratieren ist eine Kunst für sich. Sie ist vergleichbar mit der Aufgabe von Architekt:innen – nur dass es hier statt um Häuser und Städte um Organisationen und Nationen geht, statt um physische um soziale Strukturen. Und in diesen sozialen Strukturen finden sich viel mehr Befindlichkeiten, Aufregung und erratische Trends als in Sand- und Steinhaufen.

Um die Kunst sozialer Architekt:innen zu würdigen, habe ich damals mit den Kolleg:innen bei der Stiftung World Future Council den Future Policy Award ins Leben gerufen, der auch heute noch in Kooperation mit internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen vergeben wird. Es ist der weltweit einzige Preis, der Gesetze auszeichnet, und zwar solche, die bessere Lebensbedingungen für heutige und künftige Generationen fördern.191 Im ersten Jahr, 2009, ging er nach Belo Horizonte, einer Stadt im Südosten Brasiliens.

Dass die Stadt einmal die erste auf dem Reißbrett geplante Stadt des Landes gewesen ist, erkennt man noch heute an der schachbrettartig angelegten City, über die die Metropole inzwischen aber längst in die umliegenden Hügel hinaufgewachsen ist. Mit mehr als zweieinhalb Millionen Einwohnern ist Belo Horizonte eine der größten Städte Brasiliens und wichtiges wirtschaftliches und kulturelles Zentrum, dessen Stadtbild auf den ersten Blick von breiten Alleen, großen Parks und einer beeindruckenden Skyline geprägt wird. Doch vom wirtschaftlichen Aufstieg, der vor allem von der Metall-, Textil- und Autoindustrie herrührt, profitierten längst nicht alle Bewohner:innen. Wie an vielen Orten in Brasilien ist die soziale Ungleichheit in Belo Horizonte groß. Es gibt Stadtteile, in denen der Lebensstandard mit dem skandinavischer Länder vergleichbar ist, und es gibt Armenviertel, sogenannte Favelas, wo er auf dem Niveau von Nordafrika liegt.192 Anfang der 1990er-Jahre lebte mehr als ein Drittel der Familien in der Stadt unterhalb der Armutsgrenze, knapp ein Fünftel aller Kinder war nur mangelhaft ernährt.193

Als 1992 mit Patrus Ananias ein neuer Bürgermeister gewählt wurde, gingen er und seine Kommunalregierung fast prototypisch genau jene vier Schritte, um diesen Zustand zu verändern.

Ausgangspunkt war ihre Betrachtung des Systems, das für die Ernährung der Bewohner:innen sorgen sollte – und das war der freie Markt. Für diejenigen, die sich die Lebensmittel leisten konnten, die dort gehandelt wurden, funktionierte das System. Für alle anderen aber versagte es. Begriff man Ernährungssicherheit als öffentliche Aufgabe, so wie Patrus Ananias und seine neue Kommunalregierung es taten, dann musste dieses Versagen staatliches Verhalten auf den Plan rufen.

Mit dem Gemeindegesetz Nr. 6.352 vom 15. Juli 1993 verabschiedete die Stadt daraufhin ein Regelwerk zur Ernährungssicherheit, in dem sie allen Bürger:innen das Recht auf ausreichend und gute Nahrung zusagte und der Kommune, also sich selbst, die Aufgabe übertrug, diesen Anspruch zu garantieren und durchzusetzen.

Mit anderen Worten: Sie formulierte eine Mission.

Zugleich schuf Bürgermeister Patrus Ananias eine neue Behörde, das Sekretariat für Ernährungspolitik und Lebensmittelversorgung, kurz SMAAB, an dem er Vertreter aller mit dem Problem befasster Bereiche in einem Rat zusammenholte. Von der Wirtschaft, der Wissenschaft, den Kirchen und verschiedenen staatlichen Ebenen bis hin zu den Konsumenten brachte er sozusagen das ganze System in einen Raum und schuf innerhalb seiner Verwaltung zugleich eine Stelle, bei der alle Initiativen, mit denen man sich der Lösung nähern wollte, zusammenliefen und in einer Hand lagen.194 Die Mission bekam den Slogan »Nahrung mit Würde«. Raus aus dem Stigma, dass arme Menschen um etwas bitten müssen, und rein in die Aufgabe der Gemeinschaft, alle gut zu versorgen. Raus aus der Suche nach Schuldigen, wegen denen es nicht klappt, und rein in die gemeinsame Aufgabenstellung, in Belo Horizonte zu zeigen, dass Nahrungssicherheit machbar ist. Gemeinwohl durch bessere Kooperation und effektives Nutzen von Ressourcen.

Eine der wirkungsvollsten Initiativen waren die kostenlosen Schulmahlzeiten, die jährlich mehr als 45 Millionen Essen für Kindergärten, Schulen und Universitäten umfassen. Eine der beliebtesten waren die Restaurante Popular, die Volksrestaurants, von denen inzwischen fünf existieren und in denen die subventionierten Mahlzeiten im Schnitt weniger als einen Euro kosten.195 Die Zutaten werden von lokalen kleinen Anbietern erworben, und obwohl die Mahlzeiten subventioniert werden, können alle Personen dort essen. Es entstanden Schul- und Stadtgärten, in denen gemeinschaftlich Gemüse angebaut wird und in denen über gesunde Ernährung aufgeklärt und Kochen gelehrt wird. Eine Food-Bank arbeitete überschüssige Nahrungsmittel auf, und es wurden Volkskörbe ausgegeben, die verbilligte Lebensmittel enthielten und aus mobilen Verkaufswagen heraus dort verteilt wurden, wo es in den Geschäften kein frisches Obst und Gemüse gab. Darüber hinaus vergab die Stadt spezielle Lizenzen für den Lebensmittelhandel, bei denen eine Verkäufer:in Waren nur dann in den reicheren Vierteln anbieten darf, wenn er oder sie das im Gegenzug und zu gesenkten Preisen auch in ärmeren Viertel tut. Den Kleinbauern aus der Umgebung wurden vergünstigt Marktstände angeboten, um im Direktverkauf die oft hohen Händlerpauschalen zahlen zu können. Auch wurden ungenutzte Flächen von Großgrundbesitzer:innen für den Anbau freigegeben. Die Vielzahl der Ideen war enorm.

Wie hatte Patrus Ananias das geschafft? Ähnlich wie in vielen anderen Fällen dieser Art finden sich Führungsfiguren mit einer ansteckenden Vision und Koordinationsfähigkeit, die Follower zu Co-Designern unterschiedlicher Bausteine werden lassen. Daraus erwächst ein Portfolio, aus dem diverse Ideen, sich gegenseitig bestärkende Ansätze und damit Multisolving hervorgehen: Indem die Vernetzheit erkannt und eine packende Mission formuliert wird, die anderen vermittelt, welche Rolle sie dabei einnehmen können. Damit geht es nicht nur um Strukturen, sondern um die Haltung, die Ethik, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Das ist eine Skalierung, die in die Tiefe geht. Sie berührt unsere Wertebasis. Aus ihr entsteht eine ganz eigene Qualität, die den Willen freilegt, Wege zu finden, anstatt auf Gründe zu verweisen.

Letztlich zielte die Verstetigung dieser Mission in Belo Horizonte also nicht einfach darauf ab, den Hunger zu besiegen. Sie sollte eine Kultur der Armut beenden. Unter Einbezug des gesamten Systems der Ernährungskette führte das dazu, dass die Beteiligten alles, was sie in diesem Prozess erkannten und lernten, verinnerlichen konnten. Dass bisherige Silos – also abgetrennt voneinander agierende Akteur:innen – miteinander kooperierten und ihre Ressourcen und Einflussmöglichkeiten neu bündelten. Belo Horizonte zeigt: Innovationen verstetigen sich, wenn sie sich kulturell verankern. Veränderte Strukturen spiegeln eine veränderte Kultur. Sie machen bisher abweichendes Verhalten zur neuen Normalität.196

»Es ist offensichtlich, dass die Beseitigung des Hungers nicht an fehlenden Mitteln scheitert«, sagte Patrus Ananias anlässlich der Verleihung des Future Policy Award, »sondern an mangelndem politischem Willen.«197

Mit dem nötigen Willen aber war es Belo Horizonte gelungen, mit weniger als zehn Millionen Dollar jährlich – das sind nur zwei Prozent des kommunalen Haushalts – die Ernährungslage spürbar zu verbessern. Innerhalb von zehn Jahren ging die Kindersterblichkeit um 60 Prozent zurück, der Anteil der mangelernährten Kinder konnte um 75 Prozent verringert werden.198 Inzwischen wird das Modell nicht nur in Ländern wie Namibia und Südafrika kopiert.199 Es war auch Vorbild für das Programm, mit dem Patrus Ananias als Minister für soziale Entwicklung später versuchte, Armut und Hunger in ganz Brasilien zu bekämpfen. In Belo Horizonte blieb die Beteiligung der Bürger:innen an den politischen Organisationen nicht auf die Ernährung beschränkt. In sogenannten Bürgerhaushalten können sie seit Jahren über die Verteilung von Finanzmitteln mitbestimmen.200 Eine Lösung hat die Nische verlassen, sich verbreitet, vergrößert und vertieft.

Wie Paris am Beispiel Mobilität, so zeigt Belo Horizonte anhand der Ernährung, dass wirkliche Veränderungen nicht nur neue Behörden und Papiere mit sich bringen, sondern davon abhängen, wie die neuen Beziehungen und Prozesse des Lernens, Abstimmens und Kooperierens aufgestellt werden.

Das gilt auch für funktionierende Märkte, wie die Komplexitätsökonomen Eric Beinhocker und Nick Hanauer vom Institute for New Economic Thinking in Oxford schreiben. Die beiden laden dazu ein, sich ein komplexes System als eine »Fitness-Landschaft«, eine fitness landscape, vorzustellen.201 Ist diese austariert, kooperieren Personen und Gruppen oder laufen im Wettbewerb, um Lösungen für Probleme zu finden. Wenn diese Landschaft aber nicht durch Gärtnern erhalten wird, sinkt die Fitness des gesamten Systems: Nutzen einige Teilsysteme Vorteile zu stark dafür, die Landschaft so zu verändern, dass sie der eigenen Stärke nutzt, stecken wir schnell in der Falle »Erfolg den Erfolgreichen«, wie sie auch bei Monopoly zuschnappt. Denn »[n]ur weil Löwenzahn, wie Hedge Fonds auch, leicht und schnell wächst, heißt das nicht, dass wir ihn übernehmen lassen sollten. Nur weil du mit etwas Geld machen kannst, heißt das nicht, dass es gut für die Gesellschaft ist. (…) Ob ein Markt mehr Lösungen für menschliche medizinische Herausforderungen produziert oder mehr Lösungen für menschliche Kriegsführung – oder ob er Probleme erfindet wie schlechten Atem, für die Lösungen gebraucht werden –, ist gänzlich die Konsequenz der Konstruktion des Marktes, und diese Konstruktion wird immer menschengemacht sein, entweder als Unfall oder als Design.«202

In Demokratien ist es also nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine durch die Verfassung legitimierte Verpflichtung, Märkten eine Orientierung zu geben, also das Gemeinwohl auszubuchstabieren, auf dessen Erreichen sie durch die politische Regelsetzung hinwirken. Dann funktioniert die Marktwirtschaft als Instrument zur Erfüllung der gesellschaftlichen Ziele. Und natürlich sollten nicht alle Ziele einer Gesellschaft über Märkte organisiert werden. Gerade die öffentliche Daseinsvorsorge und soziale Sicherung zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus der Verfassung abgeleitete Rechte betreffen und für alle Menschen in würdevoller Qualität zugänglich sein sollten, unabhängig von der Kaufkraft.

Selbstverständlich läuft das nicht konfliktfrei. Überall stecken überall auch persönliche Interessen im Spiel. Die Kunst ist, diese erfolgreich zu benennen und auszutragen. Dafür ist Transparenz und gute Kooperation genauso nötig wie passende Anreize oder Vergütungen. Gestaltungsmacht durch exzellente soziale Technik. Und eine Bildung, die uns dafür befähigt.

Wissen Sie, was hier das Schöne an gutem Design ist?

Es führt zu positiven Rückkopplungsschleifen.

Das können Bürger- oder Zukunftsräte oder Trialoge sein, die aus der Politik oder Zivilgesellschaft angestoßen werden.203 Open-Social-Innovation-Projekte wie die Hackathons »Wir versus Virus« oder »Aufbruch Deutschland« zwischen Bundesregierung und Akteur:innen aus allen Teilen der Gesellschaft.204 Förderprogramme wie die Innovative Hochschule, die für Universitäten eine dritte Mission neben Forschung und Lehre finanzieren, nämlich die Vermittlung und Einbettung von »Wissen schaffen« in die Gesellschaft. Eine breite Palette von Reallaboren, in denen über bisherige Organisationsgrenzen hinweg neue Lösungswege und Regeln für zähe Probleme gesucht werden.205 Und global vernetzte Forschung und Beratung zu den Erfolgskriterien solcher Prozesse.206

Welches Design von Organisationen und Institutionen im konkreten Fall zur Harmonie der Hierarchien führen kann, wird immer variieren, je nach Aufgabe und kulturellem Kontext. Ob es gelingt, liegt aber nie nur an Führungsfiguren, sondern immer auch am Verhalten der Follower. So äußerte sich auch schon Ludwig Erhard 1963 in seiner Regierungserklärung: »Es würde einen gewaltigen Fortschritt in den öffentlichen Dingen unseres Staates bedeuten, wenn die große Macht und der Sachverstand der Interessengruppen und die Fülle der Talente auch für die allgemeinen Aufgaben des Gemeinwesens zur Verfügung stünden.«207 Wenn das nicht mehr gegeben ist, sollten machtvolle Teilsysteme oder Akteure sich nicht darüber wundern, dass die Harmonie ins Rutschen gerät.

Und wissen Sie, wem das bereits aufgefallen war? Dem antiken griechischen Philosophen Platon. Die Voraussetzung für eine funktionierende Harmonie der Hierarchien – er hat den Begriff der »Demokratie« verwendet – ist eine Bildung, deren Inhalt den aktuellen Herausforderungen entspricht und Bürger:innen zu einem verhältnismäßigen Handeln befähigt. Nur so kann ein System der Selbstregierung erhalten werden.208 Zu dieser Bildung gehört auch die individuelle Resilienz gegenüber der Versuchung, privilegierte Stellungen primär zum eigenen Vorteil zu nutzen.

Systemfalle: Änderungsresistenz

Organisationen sind Ausdruck einer bestimmten Zielsetzung zu einem bestimmten Zeitpunkt: Autofreundliche oder menschenfreundliche Stadt? Holzproduktion oder Waldgesundheit? Organisationen verstetigen Denkmuster und Abläufe und halten Entwicklungen auf einem bestimmten Kurs. Wenn es ihnen wichtiger wird, sich selbst zu erhalten, anstatt sich gemeinsam fortzuentwickeln, entstehen für alle unbefriedigende Ergebnisse. Will man diese Falle nicht über Macht auflösen, hilft eine neue Mission, die den Akteur:innen erlaubt, aus ihren begrenzten Logiken auszubrechen und neue Pfade und Kooperationsmuster zu erkunden.

13.09.2022, 12:31

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