Kaum jemand interessiert sich für Russland so sehr wie seine Nachbarn. Was auch daran liegen mag, dass Russlands Innenpolitik hin und wieder zu Außenpolitik wird, über seine Landesgrenzen hinausschwappt und die dahinterliegenden Staaten erfasst. Mal versucht es, diese zu erobern, mal zu kaufen, mal umgarnt es sie, mal will es sie vernichten. Russlands Nachbarn müssen also immer auf der Hut sein. Zwangsläufig interessieren sie sich daher für das russische Leben, damit ihnen nicht entgeht, wenn dieses Leben wieder einmal in Tod umschlägt – was leider nicht selten vorkommt.
Obwohl die Front des russisch-ukrainischen Krieges heute in einer gewissen Entfernung von Deutschland verläuft, muss es den Deutschen so vorkommen, als lebten sie in einem Frontstaat. Sie fürchten sich davor, in diesen Krieg hineingezogen zu werden, stecken aber in Wahrheit längst mittendrin. Auch Deutschland ist ukrainisches Hinterland, und ohne die deutsche Unterstützung fiele es den Ukrainerinnen und Ukrainern deutlich schwerer, für ihre Unabhängigkeit und um ihr Überleben zu kämpfen.
Das Interesse an Russland und allem, was russisch ist, hat in Deutschland spürbar zugenommen – und ich glaube, dass es den Deutschen nicht nur darum geht, den Feind zu studieren. Im Gegenteil, sie weigern sich, Russland als Feind wahrzunehmen, auch wenn dies – zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges – tatsächlich der Fall ist. Mir jedenfalls ist nie aufgefallen, dass man den russischsprachigen Einwohnern Deutschlands mit Feindseligkeit begegnet.
Ein Reich des Unglücks
Die Deutschen haben im vergangenen Jahrhundert selbst Zeiten gesamtgesellschaftlicher Geistesverwirrung durchgemacht. Vielleicht blicken sie deshalb mit einer gewissen Anteilnahme auf mein Land. Ich glaube, sie wollen herausfinden, ob es doch noch irgendwie möglich ist, Russland wachzurütteln und auf den Pfad des gesellschaftlichen Fortschritts zurückzuführen, ihm zu helfen, ein normales Land zu werden. Deutschland liegt mir am Herzen, es ist für mich als Schriftsteller ein wichtiges Land. Hier habe ich eine große Zahl interessierter Leserinnen und Leser und bin stets überaus herzlich empfangen worden. Ich fühle mich in Deutschland wie zu Hause. Gerade deshalb ist es mir ein großes Anliegen, dem deutschen Publikum zu vermitteln, was derzeit in Russland vor sich geht. Ich hoffe, dieses Buch wird seinen Leserinnen und Lesern helfen, Antworten auf ihre Fragen zu finden.
Manch einer sieht in Russland ein Reich des Bösen. Ich empfinde es eher als ein Reich des Unglücks, der Missverständnisse und der unerfüllten Hoffnungen, ein Reich mit einem Minderwertigkeitskomplex, mit dem naiven Wunsch, die ganze Welt in Erstaunen zu versetzen, ein Reich der endlosen Selbstzweifel, das sich trotz allem immer wieder beweisen will. Wer Russland in seiner Gänze erfasst, wird nicht nur besser vor ihm geschützt sein, sondern es auch besser verstehen.
Niemand erweist Russland einen größeren Bärendienst als all die »Putin-Versteher«, die dem Tyrannen alles verzeihen, um ihn zum Frieden zu bewegen. Was wir aber in Russlands Nachbarstaaten dringend benötigen, sind »Russland-Versteher«, denn ohne Unterstützung von außen wird es meinem Land kaum gelingen, wieder ein menschlicher Staat zu werden. Deutschlands Hilfe könnte – sofern es dazu bereit ist – auch an dieser Stelle von unschätzbarem Wert sein.
Dmitry Glukhovsky im Juni 2024