Von Konsumenten zu Zukunftsproduzenten

Leseprobe Eine „schlafende Superkraft" sieht Florence Gaub in der Fähigkeit des Menschen, sich mögliche Zukünfte vorzustellen. Doch auch Vorstellungskraft muss erlernt und trainiert werden.
Das Unvorstellbare möglich gemacht: Eine Maschine schwerer als die Luft und doch flugfähig
Das Unvorstellbare möglich gemacht: Eine Maschine schwerer als die Luft und doch flugfähig

Foto: Hulton Archive/Getty Images

Einleitung

Vor der Erstbenutzung

Für die meisten von uns ist die Zukunft etwas, das sie passiv konsumieren, wie Lutscher oder Fernsehserien. Politiker, Tech-Unternehmer, Science-Fiction-Filme und sogar Wahrsager produzieren Zukunft von der Stange, die wir ihnen deshalb »abkaufen«, weil sie zumindest eine Vorahnung davon vermittelt, was das Morgen so bringen könnte. So gesehen ist die Zukunft etwas, das weit weg ist, noch nicht da, von uns getrennt, unwirklich, etwas, das von ganz allein passiert – ein bisschen wie ein Asteroid, der auf die Erde zurast.

Doch diese Sichtweise ist falsch. Denn die Zukunft ist keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen. Der Einzelne tut dies ebenso, wie es Staaten tun, Unternehmen und Fußballvereine. Und für alle ist die Zukunft in 3D – inklusive Bildern, Geräuschen und sogar Geschmack. Obwohl wir das Wort Zukunft in der Einzahl benutzen, ist sie eigentlich immer eine Vielzahl: Das Mögliche, das Wahrscheinliche, das Plausible und sogar das Unmögliche sind alles Versionen der Zukunft. Die Zukunft (bleiben wir aus Gewohnheit beim Singular) ist also alles, was wir uns über sie vorstellen können. Diese Fähigkeit, gedanklich in eine Zeit zu reisen, die noch nicht da ist, ist eine menschliche Eigenschaft, der im Tierreich so nichts entspricht – ein wenig wie eine Superkraft oder, um noch weiterzugehen, vielleicht eines der wichtigsten Merkmale des Menschseins überhaupt. Denn so ziemlich alles, was den Menschen zum Menschen macht – nachdenken über Optionen, Entscheidungen treffen, träumen, Ziele setzen, sich sorgen –, ist jeweils eine Form von Zukunft. Die meisten Menschen schöpfen diese Fähigkeit jedoch nur selten voll aus. Der Mensch verbringt zwar die Hälfte seiner wachen Stunden damit, über die Zukunft nachzudenken, aber den größten Teil verschwendet er für eher banale Zukünfte. 80 Prozent unseres Zukunftsdenkens gelten der alltäglichen Zukunft – was wir essen, wann wir zur Arbeit gehen und wann die Prüfungen der Kinder anstehen. Erst an weit abgeschlagener zweiter Stelle folgt mit 14 Prozent die Zukunft des kommenden Jahres: Ferien, Projekte, Arztbesuche. Lediglich sechs Prozent unserer Zukunft betreffen die nächsten zehn bis 15 Jahre, wie Heiraten, ein Hausbau oder Karriereziele.[1] Die größere und weiter entfernte Zukunft wird nur selten mental besucht, und wenn, dann fürchten wir uns schnell vor ihr und überlassen sie anderen, fast so, als gehörte sie uns nicht oder läge nicht im Bereich unserer persönlichen Verantwortung. Dies liegt zum Teil an dem verbreiteten Irrglauben, dass diese größere, kollektive Zukunft sich grundlegend von der kleinen, persönlichen Zukunft unterscheidet. Erstere gehört vermeintlich in die Hände von Regierungen und Unternehmen und wird mit strategischen Vorausschauberichten und Big-Data-Modellen gemanagt, Letztere mit Tagebüchern und Vision Boards – so wird jedenfalls oft gedacht. Bücher für die große Zukunft finden sich in der Wissenschaftsecke, die für die kleine in der Selbsthilfeabteilung. Aber diese Unterscheidung ist falsch. Alle Zukünfte sind miteinander verbunden, ja stecken ineinander wie Legosteine. Die tägliche Zukunft ist eingebettet in die persönliche Zukunft, die wiederum Teil der Zukunft dieser Epoche ist, die wiederum Teil der Zukunft des Planeten ist. Diese Zukünfte hängen nicht nur voneinander ab, sondern entstehen in den Köpfen der Menschen auf ziemlich dieselbe Weise: Es werden Elemente der Vergangenheit, Informationen der Gegenwart und Vorstellungskraft zusammengemischt, um daraus etwas ganz Neues zu machen. Jeder Mensch ist daher zu allen vier – großen und kleinen – Zukünften fähig, aber die meisten vernachlässigen zwei, oft sogar drei davon. Sie sind damit nicht die willentlichen Zukunftsproduzenten, die sie sein könnten, sondern Konsumenten der Zukünfte anderer. Und nicht nur wir Einzelne vernachlässigen die Zukunft, wir tun es als Gesellschaft, und zwar schon seit Jahrhunderten. Wir lernen in der Schule nicht, wie man mit ihr umgeht, die großen Philosophen haben wenig zu ihr zu sagen, und auch die Wissenschaft beschäftigt sich erst seit Kurzem mit der Zukunft als Forschungsobjekt. Vielleicht steckt die Zukunft gerade darum aktuell in der Krise. Und genau deshalb brauchen wir eine Bedienungsanleitung.

Die schlafende Superkraft

Alle Menschen werden mit der geistigen Fähigkeit geboren, in mehrere und sogar weit entfernte Zukünfte zu reisen. Doch man muss es zunächst lernen, wirklich weit zu reisen und viele und nützliche Zukünfte zu entwickeln. Das passiert schon deshalb nicht automatisch, weil wir im Jetzt des Alltags verwurzelt sind, denn dort spielt sich das Leben ab. Auch darum ist die kleine Zukunft diejenige, in der wir uns am meisten aufhalten, denn sie hat den größten Nutzwert für die unmittelbare Gegenwart. Weiter zu reisen – sei es in die persönliche Zukunft oder in die Zukunft der Gesellschaft und sogar des Planeten – geschieht schon deshalb seltener, weil es anstrengender ist, gewisses Handwerkszeug und gewisse Fähigkeiten erfordert und nicht zuletzt einer Gesellschaft bedarf, die beides fördert und lehrt. Aber bisher sind die meisten westlichen Gesellschaften eher vergangenheits- als zukunftsorientiert, das allein macht es schon schwer. Nicht Zukunftsvorausschau ist Pflichtfach in der Schule, sondern Geschichte, und Latein wird mehr unterrichtet als Weltraumforschung. Auch an den Universitäten sieht es nicht besser aus. Es wird grundsätzlich mehr Können gelehrt als Denken, und das Denken, das gelehrt wird, ist konvergent (wo mit Logik nach nur einer richtigen Antwort gesucht wird) und nicht divergent (wo mit Vorstellungskraft nach so vielen Lösungen wie möglich gesucht wird). Fächer wie Kunst, Literatur, Philosophie oder Nichtstun (von Schülern häufig praktiziert, ist aber kein Unterrichtsfach) würden die für die Zukunftsfähigkeit wichtige Vorstellungskraft fördern, werden aber meist als zweitklassig, da nutzlos auf dem Arbeitsmarkt angesehen. Auch sonst ist die Vorliebe für die Vergangenheit weit verbreitet. In der Psychologie dominiert immer noch der Ansatz, die Ursache von Problemen in der Vergangenheit des Patienten zu suchen, anstatt in der Zukunft eine Lösung zu finden. Die meisten unserer Religionen sind rückwärtsgewandt, predigen eine Rückkehr in ein verlorenes Paradies, nicht eine bessere Zukunft. Und natürlich fördert das 21. Jahrhundert mit seiner Sucht nach dem Unmittelbaren– Tweets, Quartalsberichte, Wahlzyklen – die Kurzfristigkeit und neigt dazu, der Zukunft die Probleme der Gegenwart aufzuhalsen. (Manche nennen das Zukunftskolonialismus, sprich die gewalttätige Aneignung von etwas, das einem nicht gehört.) Nicht zuletzt haben wir auch einen kulturellen Nachteil, wenn es um die Zukunft geht: Westliche Kulturen neigen dazu, sich kollektiv weniger für die Zukunft zu interessieren als asiatische.[2] Insgesamt ist unsere Gesellschaft also wenig zukunftsorientiert und trägt dementsprechend nicht dazu bei, dass wir als Einzelpersonen es sind. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir die Zukunft vernachlässigen.

[1] Roy Baumeister et al., »Everyday Thoughts in Time: Experience Sam- pling Studies of Mental Time Travel«, PsyArXiv, 2018, S.22, 45. Bruce E. Tonn et al., »Cognitive representations of the future: survey results«, Futures, Vol. 38, 2006, S. 818

[2] L. J. Ji et al., »Culture, psychological proximity to the past and future, and self-continuity«, European Journal of Social Psychology, Vol. 49, Is- sue 4, 2019, S. 735–747. L. J. Li et al., »To buy or to sell: cultural differen- ces in stock market decisions based on price trends«, Journal of Behavi- oral Decision Making, Vol. 21, Issue 4, 2008, S. 399–413. K. C. H. Lam et al., »Cultural differences in affective forecasting: the role of focalism«, Personality and Social Psychology Bulletin, 31(9), S.1296–1309. Nazike Mert et al., »What lies ahead of us? Collective future thinking in Turkish, Chinese, and American adults«, Memory and Cognition, Vol. 3, Issue 51, 2023, S. 773–790

20.09.2023, 09:46

Buch: Weitere Artikel


Handlungsspielräume aufzeigen

Handlungsspielräume aufzeigen

Biografie Pessimismus ist keine intellektuelle Leistung, sagt Florence Gaub, und plädiert für lösungsorientierte Zukunftvisionen
Zukunft will gestaltet werden

Zukunft will gestaltet werden

Hintergrund „Ohne eine zukunftsorientierte Bewegung sind Gesellschaften nicht innovativ" – Dafür braucht es Anreize. Vorausschauendes und visionäres Denken, das zusätzlich wissenschaftlich fundiert ist, sollte bereits in der Schule gelehrt werden

Bauen oder begrünen? – Square Idee | ARTE

Video Seit der ökologischen und pandemischen Krise hat sich die Debatte ob Bauen oder begrünen in den Städten verschärft. [...] Wie definiert man nachhaltige Prioritäten im öffentlichen Handeln?


Wie holen wir das CO2 aus der Luft? | SWR

Video In der Reihe „Science for Future“ geht Naturwissenschaftler Jacob Beautemps auf die Suche nach konkreten Lösungen für einige der größten Herausforderungen. Dabei trifft er auf Wissenschaftler:innen, die heute an den Lösungen für morgen arbeiten


Future Will Be Shaped by Optimists | TED Talk

Video "Every great and difficult thing has required a strong sense of optimism," says editor and author Kevin Kelly, who believes that we have a moral obligation to be optimistic


Resisting Dystopia | Talk

Video A thought-provoking conversation between two authors, Becky Chambers and Annalee Newitz. Known for challenging classic science fiction tropes such as war and violence. The talk is part of The Long Now Foundation's “Conversations at The Interval”