Vielfältiger Blick

Zum Programm Der vierte Teil der Berlin Biennale startet unter dem Motto „Der Riss beginnt im Inneren“. Künstler*innen erkunden die Brüche und Risse unserer Zeit. An vier Ausstellungsorten sind ihre Werke bis zum 01. November zu sehen
Installationsansicht exp. 1: Das Gerippe der Welt, 7.9.–9.11.2019, 11. Berlin Biennale c/o ExRotaprint
Installationsansicht exp. 1: Das Gerippe der Welt, 7.9.–9.11.2019, 11. Berlin Biennale c/o ExRotaprint

Foto: Mathias Völzke

Eine Berlin Biennale 2020 in Zeiten der Pandemie zu eröffnen heißt, sich von traditionellen Praktiken zu verabschieden und nach Formaten zu suchen, die der aktuellen Situation entsprechen: Es ist ein Auftakt ohne Pressekonferenz, ohne Eröffnungszeremonie, ohne Künstler*innenparty, ohne großes Publikum.

Ihren Anfang nahm die 11. Berlin Biennale im September 2019 bei ExRotaprint in Berlin-Wedding. Dort begann sie mit verschiedenen Aktionen und Präsentationen im Rahmen eines Programms, das sich aus drei gelebten Erfahrungen zusammensetzte. Die Location selbst wurde zum Ort, an dem man mit der Stadt in Kontakt treten und von verschiedenen Communitys lernen konnte.

Der Epilog der 11. Berlin Biennale findet nun im Herbst 2020 an verschiedenen Orten in Berlin statt. Dabei wird das Thema „Der Riss beginnt im Inneren“ von verschiedenen Seiten beleuchtet.

Die Antikirche

KW Institute for Contemporary Art
Auguststraße 69, 10117 Berlin
Mi–Mo 11–19 Uhr, Do 11–21 Uhr, Di geschlossen

Können wir unseren kollektiven Körper von patriarchalischer Gewalt und der Gefahr, die sie darstellt, befreien? Nach wie vor feiern die Massen den weißen Vater, den Priester und den Staatsmann, der von seiner nationalistischen Kanzel herab predigt. In der gesichtslosen Menge der Anbetenden drängt sich Leib an Leib. Die sexualisierte Politik des Faschismus manifestiert sich im Zusammenspiel mit der ekstatischen, alle Häretiker*innen erfassenden Repression. In ihren zahlreichen Mutationen setzt die Religion des Kolonialkapitalismus den kriminellen Amoklauf gegen die wachsende Mehrheit der Ungläubigen fort. Diese wiederum wenden sich von den alten, blassen Göttern und ihren Fundamentalismen ab, vandalisieren Kathedralen, verkünden, dass auch ihre Statuen stürzen werden. Der Klerus insistiert, der heidnische Feind sei mächtig, unsichtbar und omnipräsent, und glücklicherweise stimmt das. In Konfrontation zu den neuen Theokrat*innen, ihren Anhänger*innen und ihrer mörderischen Historie stehen diejenigen, die zurückschlagen, indem sie schlicht ihr Leben leben. Ihre Existenz allein ist eine Übung im Überleben, gegenwärtig im Alltagskampf, der in diesem Augenblick überall auf dem Planeten geführt wird. Schlaflieder, gesungen von den Alten, Rebellionen, gewebt von indigenen Frauen, Kinder, ihren Müttern entrissen, die neue Verwandtschaften finden. Emanzipatorische Kosmologien und Sexualitäten bauen private und kollektive Gegenkirchen, queere und transfeministische Tempel, die sich der Taktik der Angst und des Fanatismus der Autokrat*innen und ihren makabren Prozessionen stellen. Sie sagen: „Wir sind die Enkel*innen der Hexen, die ihr verbrannt habt.“ Sie vollziehen Rituale feministischer Solidarität. Sie erfinden die matriarchalischen Allianzen der rebellischen Trauer. Sie teilen ihre Verletzlichkeit und ihre Geschichten. Sie sind spirituelle Heiler*innen. Sie sind immer viele, und niemals allein.

Schaufenster für dissidente Körper

daadgalerie
Oranienstraße 161, 10969 Berlin
Mi–Mo 11–19 Uhr, Di geschlossen

Die Stadt besteht nicht aus dem Gebauten. Sie formt sich ausweichen, durch sie bewegenden Körpern und ihrer affektiven Kartografie. Kleidung hilft uns, Raum zu gestalten, zu bewohnen und zu verändern. Doch können wir uns in den Ort hüllen, den wir erreichen wollen? Können wir den ersehnten kollektiven Leib tragen? Willkommen vor dem Schaufenster, das den Blick auf rebellische Körper und ihre Choreografien der Entwaffnung freigibt. Prêt-à-porter-Architektur für eine Dynamik der Empfindsamkeit und eine Politik der Mode, die die hypersexualisierte Normalität der saisonalen Kollektionen in den Warenhäusern entschleiert. Kleidung als zweite, als schützende Haut, als Fürsorge, die die Maskerade der Geburt oder der biologischen Mitgift offenbart. Kleidung und Kostüm als zärtliche, anschmiegsame Festung, als Raum für sich allein. Trojanische Gänse oder Opossums als liebevolle, organische Gefährte, aus denen wir herausspringen, um das Hausieren der Konzerne zu entlarven und die Uniformen zu zerreißen, die sie uns aufzwingen. Kleider und Prothesen als Akt der Liebe, als Möglichkeit des Zuhörens und des Zusammenseins, des Einswerdens mit dem, was uns umgibt. Kleidung, Bedeckung und Aufdeckung, als Sprache und Territorium. Weiße Wände sanft gezeichnet, kaschiert, das Licht reflektierend gestaltet, uns einfangend in ihren schimmernden Glanz. Dies ist eine Fassade für queere und dissidente Körper und ihre wilden Promenaden.

Das umgekehrte Museum

Gropius Bau
Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
Mi–Mo 10–19 Uhr, Do 10–21 Uhr, Di geschlossen

Wie beklagen wir den Verlust dessen, was nie sein durfte? Wie beweinen wir, was im Namen des Fortschritts, der Schönheit, der Zukunft ausgelöscht und zum Schweigen gebracht wurde? Museen wurden auf diesem vielfachen Tod erbaut. In kleinen Glassärgen bergen sie die Scherben zerbrochener Welten, das dort erbeutete Gut. Sie zogen weiter in die Moderne, unfähig, dem Impuls, besitzen zu wollen und einzukerkern, zu widerstehen, und behaupteten ein weiteres Mal, dass alles Wissen in der Schuld ihrer „Entdeckungen“ stünde. Hygienisch weiße Wände erklärten Pest und Plantagen zu Angelegenheiten der Vergangenheit. Saubere Schiefertafeln und riesige Ausstellungshallen wurden errichtet, um große Männer und ihre monumentale Kunst zu feiern. Neues wurde gestaltet, um die Vergangenheit im ewigen Machtverhältnis mit ihrer Gegenwart zu halten, die Zeitlichkeit selbst gekapert. Doch die Steine erinnern an die Jahrhunderte, in denen die Wälder brannten, das Land ausgebeutet, das Leben leergesaugt wurde. Sie sind Zeugen und erkennen, dass sich die Zeit nicht auf eine gerade Linie herunterbrechen lässt. Der alte Klang der Vögel, der Flüsse und Felsen, die dem Boden entrissen wurden, dröhnt über uns. Die aus der Geschichte Getilgten fragen nicht, ob sie leben dürfen, und sie weigern sich, zu vergessen. Sie warnen uns, dass der dunkle Rauch, der aus der rissigen Mutter Erde aufsteigt, eine Gefahr für alle darstellt, die auf ihr leben. Sie warnen, dass der fallende Himmel eine unmittelbare Bedrohung ist. Sie sind sich bewusst, dass diese Mauern ihre Erfahrungen und das Erleben ihrer ermordeten Vorfahren nicht festhalten können. Sie üben sich im Zuhören, um die Wunde zu heilen, zu der die Welt geworden ist. Ihre Geschichten des Verschwindens werden gehört und gefühlt. Sie fordern weder Inklusion noch neue Ideen, sondern die bedingungslose Freilassung aller Geiseln.

Das lebendige Archiv

Berlin Biennale c/o ExRotaprint
Bornemannstraße 9, 13357 Berlin

Mi–Mo 11–19 Uhr, Di geschlossen

Im vergangenen Jahr war unser temporärer Raum 11. Berlin Biennale c/o ExRotaprint ein Ort der Erfahrung und des Austauschs. Hier wurden Geschichten erzählt, erfunden und geteilt, in verschiedenen Sprachen, die im Hof und auf der Straße gesprochen werden, die immer noch zu hören sind. Dies war ein Ort des experimentellen Ausstellungsmachens, an dem sich Menschen begegneten, sich unterhielten, Tee tranken, saßen und vorlasen, Puppenspiele inszenierten und präsentierten, malten, schrieben, lauschten, tanzten. Ein Ort, an dem sich der Prozess des Machens den unerwarteten Konsequenzen gegenseitiger Exponiertheit öffnete. Wir, diejenigen, die dazukamen, lernten von unseren Nachbar*innen, von ihrer vorsichtigen Neugier und großzügigen Bereitschaft. Wir lernten vor allem von den Kindern, die sich als erste ein Stück dieses Quartiers aneigneten. Sie wussten, dass es ihnen mehr als uns gehörte, und sie nutzen es entsprechend. Wir waren traurig, als wir schließen mussten, weil die Pandemie die Stadt traf, und freuten uns, als wir die Türen wieder öffnen durften. Wir bemühten uns, vorsichtig zu agieren, suchten sichere Möglichkeiten der Wiederbegegnung, wissend, wie wichtig ein solcher Raum der Kontakte ist. Dieser Ort gab dem Prozess Sicherheit, er entstand langsam, war durchlässig und hatte einen menschlichen Maßstab. Fast wurde er zu einem Zuhause. Hier lebt sie, die Gastfreundschaft, die vor allem von unserer Umgebung, von den Passant*innen, Teilnehmer*innen, Gästen, Künstler*innen und Mitarbeitenden ausgeht. Für eine kurze Zeit ließen Menschen sich hier nieder, fanden zusammen, versammelten sich, sprachen miteinander und hörten zu. Was bleibt, ist ein lebendiges Archiv dieser Gastfreundschaft – das Geschenk, das sie alle uns machten.

04.09.2020, 12:29

Event: Weitere Artikel


Ein außergewöhnliches Team

Ein außergewöhnliches Team

Biografien Das diesjährige Team der Kurator*innen der Berlin Biennale ist generationsübergreifend und kommt aus Südamerika. Dabei setzen sie auf eine Zusammenarbeit, in der jede einzelne Stimme zum Ausdruck kommt
Der Riss beginnt im Inneren

Der Riss beginnt im Inneren

Statement Mit der diesjährigen Berlin Biennale sollen die Risse und Brüche unserer Gesellschaft und unseres Systems aufgezeigt und ein Raum geöffnet werden, der Zeit zur Reflexion gibt
Stellung beziehen

Stellung beziehen

Netzschau “Es wird deutlich, dass die vier Kurator*innen nichts mit der smarten 'Kunstblase' der Hauptstadt zu tun haben wollen, dem Hype um das Event Biennale. Nichts ist ihnen ferner als ein champagnerseliger, elitärer Kunstzirkus, der sich selbst feiert“

11. Berlin Biennale | Gespräch

Video Sinthujan Varatharajah befasst sich mit Vertreibung und Staatenlosigkeit, insbesondere im Kontext der eelam-tamilischen Bevölkerung. Indem er ein vertriebenes Volk ins Zentrum rückt, setzt er dessen Geschichten buchstäblich auf die Landkarte Berlins


11. Berlin Biennale | Performance

Video In "3, 2, 1...Entre deux !" erkundet Dorine Mokha sich und die Gesellschaft in der er lebt. Was bedeutet es, "dazwischen" zu sein? Wer bin ich? Was soll ich wählen? Was will die Gesellschaft, von der ich ein Teil bin?


11. Berlin Biennale | Gespräch

Video Der Künstler Osías Yanov greift auf kulturelle Objekte und Erinnerungen zurück, die unsere Art des Daseins in der Welt beeinflussen. In seinen Werken verflechten sich Rituale, nächtliche Feste und Geschlechtertheorien


11. Berlin Biennale | Gespräch

Video Diskussion mit Çiçek Bacık (Daughters and Sons of Gastarbeiters), Saraya Gomis (Lehrerin), Markus Schega (Rektor Nürtingen-Grundschule) Miriam Schickler und Tuğba Tanyılmaz (Projektleitung i-Päd Initiative intersektionale Pädagogik)