Blinde Flecken der Gesellschaft

Programm Im Zentrum des 20. FIND an der Berliner Schaubühne geben die Autor*innen, Regisseur*innen und Performer*innen den Bildern und Erzählungen Raum, die im gesellschaftlichen Diskurs verdrängt und ausgelöscht werden: Eine Befragung herrschender Strukturen
„Meine kleine Antarktis“ (Regie: Tatiana Frolova)
„Meine kleine Antarktis“ (Regie: Tatiana Frolova)

Foto: KnAM Theater

Festival Internationale Neue Dramatik 2020

Outside

Regie: Kirill Serebrennikov

»Das Leben ist eine Lüge. Wahrheit ist eine Lüge. Wenn ich ein Foto mache, bin ich nackt …« Ren Hang

Der chinesische Fotograf Ren Hang fotografierte Stadtlandschaften, die Natur und vor allem die nackten Körper junger Männer und Frauen in seiner Pekinger Wohnung. Hangs Fotos zeigen eine neue chinesische Generation in ihrem rebellischen Lebenswillen und einer unangepassten Schönheit, die im scharfen Kontrast stehen zum staatlich verordneten Bild der Jugend. Seine weniger bekannten Gedichte sind dunkler, handeln von Sex, Einsamkeit, Depressionen, der Liebe und dem Tod. Die Kunst von Ren Hang faszinierte den Regisseur Kirill Serebrennikov, beide planten eine gemeinsame Zusammenarbeit. Nur 48 Stunden vor einem verabredeten Treffen der beiden nahm sich der damals 29-jährige Ren Hang in Peking das Leben. Serebrennikov entschied sich unter dem Schock des Verlusts, Hang ein Denkmal zu setzen, und in seiner Inszenierung seine eigenen Erfahrungen im Leben und Werk von Ren Hang zu spiegeln. Nur wenige Monate später wird Serebrennikov selbst Opfer politischer Repressionen in Russland: Man wirft ihm Steuerbetrug vor und verordnet einen mehrere Jahre dauernden, vor kurzem aufgehobenen Hausarrest. So ist „Outside“, das Serebrennikov aus dem Gefängnis der eigenen Wohnung heraus schrieb und inszenierte, und das in Abwesenheit des Regisseurs beim Festival d’Avignon 2019 uraufgeführt wurde, auch das Ergebnis einer dramatisch abgebrochenen Begegnung zweier Künstler. In ihren Biografien und in ihrem Schaffen verteidigen sie vehement Themen wie Identität, Sexualität, Schönheit und den Platz des Einzelnen in totalitären Systemen – mit Humor, Poesie und einem ungebrochenen Willen zur Freiheit.

Termine: 13., 14. und 15. März

Pratthana — A Portrait of Possession

Regie: Toshiki Okada

Für seine erste Arbeit mit einem thailändischen Ensemble – zugleich der ersten Inszenierung aus Thailand, die bei FIND zu sehen ist – verwandelt Toshiki Okada (Tokio) in „Pratthana — A Portrait of Possession“ den jüngsten Roman des Erzählers Uthis Haemamool (Bangkok) in ein breit angelegtes Panorama der künstlerischen Gegenkultur von Bangkok über drei Jahrzehnte. In verschiedenen Stationen verfolgt die Inszenierung den Lebensweg eines Künstlers aus der Provinz, seinen Aufstieg und Fall in der Hauptstadt Bangkok von 1992 bis heute. Ein individuelles Menschenleben wird dabei zum Spiegel des Gesellschaftslebens eines ganzen Landes und seiner unversöhnlichen Widersprüche, in denen Sexualität und politische Repression, Kunst und Korruption eng miteinander verbunden sind. Der anarchische Freiheitswille einer Künstlerbohème, die sich in ihren Sex- und Drogenexzessen gegen jedes Establishment stellt, tritt in schroffen Kontrast zu einem Abriss der politischen Geschichte Thailands. Gemeinsam fügen sich die disparaten Elemente zu einer szenischen Radiografie der Degeneration und Verwesung einer Gesellschaft und ihres politischen Systems. Chronik eines radikalen Exodus aus allen Institutionen in einen scheinbar freien Gegenkosmos, der sich jedoch vor dem Hintergrund der politischen Verhältnisse zusehends als Ort der fatalen Isolierung erweist.

Termine: 21. und 22. März

Familie

Regie: Milo Rau

2007 erhängte sich in Calais eine ganze Familie: die Eltern und ihre zwei Kinder. Ein Motiv wurde nie gefunden. Im Abschiedsbrief heißt es: „Wir haben es vermasselt, sorry.“ Welche Gründe, welche Traumata liegen einem solchen Selbstmord zugrunde? In „Familie“ steht eine echte Familie auf der Bühne: Die Schauspieler*innen An Miller und Filip Peeters spielen nicht nur als Paar zusammen, sondern auch zum ersten Mal in ihrer Karriere mit ihren beiden Teenager-Töchtern Leonce und Louisa – und ihren Hunden. Ausgehend vom mysteriösen Fall der Familie Demeester untersucht die Familie Peeters-Miller dabei ihre eigene Geschichte und hinterfragt die Konstruktion Familie als Kern und Ursprung unserer heutigen Welt. „Familie“ ist ein Experiment, eine ethnologische Studie zeitgenössischen Privatlebens, eine Ausstellung des Alltags: Sehen wir auf der Bühne das Haus der Familie Demeester oder ist es das Haus der Familie Peeters-Miller? Fiktion und Realität vermischen sich, während wir auf der Bühne einen Abend wie in vielen Familien sehen – nur dass es der letzte ist. Wir beobachten die Mitglieder einer Familie beim Essen, Telefonieren, Duschen. Sie schauen Videos, hören Musik, räumen auf, sprechen über alltägliche Dinge und gemeinsame Erinnerungen. Und in dieser Darstellung des Gewöhnlichen stellt sich die Frage: Warum sind wir hier? Wäre es nicht besser, wenn wir verschwinden würden? Nach dem internationalen Erfolg der Produktionen „Five Easy Pieces“, die das Leben des Mörders und Kinderschänders Marc Dutroux mit Kindern auf die Bühne brachte, und „La Reprise“ über den homophoben Mord an Ihsane Jarfi in Liège, komplettiert Milo Rau seine Trilogie der modernen Verbrechen mit einemFamiliendrama.

Termine: 17. März

salt.

Regie: Selina Thompson

In „salt.“ fährt die britische Performerin Selina Thompson als Passagierin an Bord eines kommerziellen Containerschiffs die Route der Schiffe nach, die ihre Vorfahren aus Ghana nach Jamaika und von dort aus nach Großbritannien deportierten. Thompsons Vorfahren waren Teil von mehreren Millionen schwarzer Männer, Frauen und Kinder, die als Sklaven verkauft wurden und mit ihrer Arbeit den westlichen Wohlstand beförderten und den Grundstein des heutigen europäischen ökonomischen Erfolgs legten. Auf ihrer eigenen Reise wird Thompson mit normalisiertem, systemischem und beifälligem Rassismus konfrontiert und beobachtet patriarchale Machtverhältnisse innerhalb der Mannschaft, die nahe legen, dass die koloniale Vergangenheit nicht so weit in der Ferne liegt, wie sie vor Antritt der Reise glaubte. Als Thompson in Elmina Castle, Ghana vor der „Door of No Return“ steht und den atlantischen Ozean betrachtet, erinnert sie sich an die Menschen, die dort, auf der Reise oder auf den Plantagen, gestorben sind. Wie kann die Trauer, die sie in diesem Moment empfindet, in einer Welt existieren, in der es zugleich so banale Dinge wie Postfilialen und Parfümzerstäuber gibt? Und was bedeutet es, als schwarze Frau in einem zum Großteil von weißen Menschen bevölkerten Land zu leben?

Termine: 12., 13. und 14. März

Meine kleine Arktis

Regie: Tatiana Frolova

In „Meine kleine Antarktis“ begibt sich das KnAM Theater auf historische Spurensuche in ihrer Stadt Komsomolsk am Amur, umgeben von der Taiga im äußersten Osten Russlands, wo die Winter bis zu sechs Monate dauern und die Temperaturen auf bis zu -40 Grad Celsius abfallen. Die offizielle Geschichtsschreibung behauptet, dass Komsomolsk von einer Gruppe Freiwilliger des Komsomol errichtet worden ist – der kommunistischen Jugendorganisation, die der Stadt ihren Namen gab: Stadt der Jugend. Tatsächlich aber wurde Komsomolsk in den 1930er Jahren von Gulag-Häftlingen erbaut, die in eisiger Kälte zur Arbeit getrieben wurden. Ältere Generationen schweigen noch immer darüber. Aus diesem stadtgeschichtlichen Widerspruch heraus entwerfen Tatiana Frolova und ihr Team das Porträt einer zutiefst verunsicherten, von Verdrängung und Spannungen zerrissenen postsowjetischen Gesellschaft. Die Inszenierung, deren Text sich sowohl aus Gesprächen mit jungen Russ*innen speist, welche die eigene Geschichte befragen, als auch von Andersens „Die Schneekönigin“ inspiriert ist, begibt sich mitten hinein ins ewige Eis, welches „Herzen gefrieren lässt“, soziale Kälte produziert und Ressentiments konserviert.

Termine: 20. und 21. März


Teil des Festivals sind zudem die Uraufführung von „Die Affen“ von Marius von Mayenburg (Berlin) und „Qui a tué mon père“ von und mit Édouard Louis (Paris), das Thomas Ostermeier (Berlin) in einem try-out gemeinsam mit dem Autor auf die Bühne bringt. In diesem Experiment wird Édouard Louis erstmals als Performer eines seiner Texte auf der Bühne stehen. Der Abend ist eine Koproduktion mit dem Théâtre de la Ville Paris. Aus dem neuesten Repertoire der Schaubühne ist zudem das von der Autorin Anne-Cécile Vandalem (Brüssel) selbst inszenierte Stück „Die Anderen“ zu sehen.

Zum Programm des FIND 2020 geht es hier.

24.02.2020, 21:55

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FIND 2020 | Outside

Video Trailer zu Kirill Serebrennikovs Inszenierung „Outside“ (Moskau). Ein Gastspiel an der Berliner Schaubühne im Rahmen des FIND 2020. Vorführungszeiten: 13. März, 19.30 Uhr/ 14. März, 19 Uhr/ 15. März, 18 Uhr (Schaubühne Berlin)


FIND 2020 | Familie

Video Trailer zu „Familie“, einer Inszenierung aus Gent von Milo Rau und seinem Ensemble. Ein Gastspiel an der Berliner Schaubühne im Rahmen des Festival Internationale Neue Dramatik 2020. Vorführungszeiten: 17. März, 18 Uhr


FIND 2020 | Die Anderen

Video Trailer zu „Die Anderen“, einer Inszenierung der belgischen Regisseurin Anne-Cécile Vandalem mit dem Ensemble der Schaubühne Berlin. Premiere war am 30. November 2019, im Rahmen des FIND läuft die Inszenierung vom 12. - 14. März


FIND 2020 | A Portrait of Possession

Video Trailer zu „Pratthana — A Portrait of Possession“ (Tokio/ Bangkok), eine Inszenierung von Toshiki Okada nach dem Roman von Uthis Haemamool. Ein Gastspiel an der Schaubühne Berlin im Rahmen des FIND 2020. Vorführungszeiten: 21. und 22. März je 18 Uhr