Mehr Demokratie wagen

Programm Zum ersten Mal stellt das FIND gleich drei Inszenierungen in portugiesischer Sprache vor. Im Rahmen des Festival rücken diese – vor dem Hintergrund des 50. Jahrestags der »Nelkenrevolution« am 25. April 2024 – in einen gemeinsamen Kontext
»Manifesto Transpofágico« von und mit Renata Carvalho
»Manifesto Transpofágico« von und mit Renata Carvalho

Foto: Rai do Vale

Catarina e a beleza de matar fascistas

von Tiago Rodrigues
Regie: Tiago Rodrigues
Gastspiel FIND 2024
Lissabon

Eine Familienfeier auf dem Land, in einem Hain von Korkeichen. Man isst und trinkt und scherzt an einer großen Tafel im Freien. Scheinbar ein flirrendes Sommeridyll. Doch etwas stimmt nicht. Die Familie hat sich versammelt, um ein blutig-archaisches Ritual zu zelebrieren. Seit mehreren Generationen finden sich ihre Angehörigen zusammen, um des Mordes an Catarina Eufémia zu gedenken. Die analphabetische Landarbeiterin wurde 1954 bei ihrem Kampf für höhere Löhne von Schergen der Salazar-Diktatur ermordet und hinterließ drei Waisenkinder. Zum Zweck, dieses Unrecht zu rächen, wird alljährlich beim sommerlichen Familientreffen, wie es im Titel heißt, »die Schönheit, Faschisten zu töten« unter Beweis gestellt. Dafür wird ein Exemplar jener Spezies von einem ausgewählten Familienmitglied erst entführt, dann vor den Augen der versammelten Familie erschossen und im Garten vergraben. Doch was wird aus den heroischen Traditionen, wenn eine junge humanistische Generation von Catarinas die nackte blutige Gewalt plötzlich boykottiert? Wenn ihre Schwester als Veganerin beim Essen die traditionellen Fleischspeisen verschmäht? Wenn beim Abdrücken der Waffe plötzlich moralische Zweifel den Schuss hemmen? Und was wäre, wenn die Gegner genau dieses ethische Dilemma zum Absprung nutzten, um der Freiheit den Garaus zu machen? »Ist Gewalt legitim, um die Welt zu verbessern? Können die Regeln der Demokratie mit dem erklärten Ziel gebrochen werden, sie zu verteidigen?«, fragt Tiago Rodrigues. Anstelle einer Antwort führt er die Folgen der Frage als gleichermaßen luzides wie grotesk-fabelhaftes dramatisches Paradox auf der Bühne vor. Dabei schafft er einen Theaterabend, der die Zuschauer_innen und ihre eigenen inneren Widersprüche bis zur Schmerzgrenze herausfordert – und gerade in dem Moment, in dem der 50. Jahrestag der portugiesischen Revolution und das Ende des Faschismus in Europa zu feiern wären, die Bedrohung in ganz Europa greifbar macht.

Tiago Rodrigues ist Schauspieler, Regisseur und Dramatiker und wurde 1977 in Amadora geboren. 2003 gründete er mit Magda Bizarro die Kompagnie »Mundo Perfeito«, die seither viele Inszenierungen produzierte und innerhalb von elf Jahren international tourte. Seit 2023 leitet er das Festival d’Avignon.

Manifesto Transpofágico

von und mit Renata Carvalho
Regie: Luiz Fernando Marques
Gastspiel FIND 2024
São Paulo

Am Anfang ist der Körper. Durch Scheinwerfer beleuchtet, bewegt sich Performerin Renata Carvalho kaum bekleidet über die Bühne. Ihr Gesicht sehen wir nicht. Sie setzt ihren Körper unseren Blicken aus, damit wir ihn beurteilen, einschätzen, einordnen. Schon immer wird dieser Körper beobachtet und untersucht. Widersetzt er sich der Einordnung, darf er bestraft, gedemütigt, entrechtet werden.

Renata Carvalhos Performance »Manifesto Transpofágico« beginnt beim Blick der Zuschauer_innen auf den Körper der Travesti, ein Begriff, der in Brasilien Menschen meint, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeschrieben wurde, die aber für sich eine weibliche Geschlechtsidentität entwickelt haben. Die Selbstbezeichnung verweist auf eine kollektive Geschichte, die Carvalho zum Gegenstand ihrer Performance macht.

Unseren Blicken ausgesetzt, erzählt Carvalho mit dokumentarischem Videomaterial vom systematischen Ausschluss jeglicher Andersartigkeit. Ein machistisches, patriarchales System, in dem sich Geschlechtsidentitäten danach unterscheiden, wer Gewalt ausübt und wer sie stumm erleiden muss. Den Protestakt gegen diese Struktur, die jede Travesti durch ihr reines Dasein vollführt, ist zugleich ein Kunstwerk: Carvalho erzählt ihre Biographie als Weg einer künstlerischen Selbstgestaltung. Sie zeigt, wo sie ihren Körper durch Schönheitsoperationen in Hinterzimmern verändert und verformt hat, welchen gesundheitlichen Risiken sie sich aussetzen musste.

Die Performerin tritt selbst in den Zuschauerraum und befragt uns: Können wir beschreiben, wie und warum wir die Menschen um uns herum lesen? Was macht den Unterschied zwischen den Geschlechtern, die wir zuschreiben – kurze oder lange Haare, ein Kleidungsstück, ein Rucksack? Am Schluss der Performance müssen wir uns entscheiden, welchen Blick auf den Körper der Performerin wir wählen und erleben dabei, wie die Fragen des Anfangs von Carvalhos Performance überflüssig werden: Der entblößte Körper wird zu einer Erscheinung, die schlicht Respekt und Fürsorge einfordert.

Regisseur Luiz Fernando Marques und die Performerin und Autorin Renata Carvalho stammen beide aus Santos im Bundesstaat São Paulo. Renata bezeichnet sich selbst als Transpologin, eine Kombination der Begriffe Transgender und Anthropologie, und widmet ihre künstlerische Praxis dem Erfahrungsraum von trans* Körpern und Personen.

Pêndulo

von Marco Martins und Arena Ensemble
Regie: Marco Martins
Gastspiel FIND 2024
Lissabon

Eine Gruppe von Pflegerinnen und Hausangestellten, deren Leben vom täglichen Pendeln bestimmt wird: zwischen der Peripherie und dem Zentrum der Hauptstadt Lissabon; zwischen ihrem Zuhause und dem Zuhause derjenigen, die sie beschäftigen; zwischen den Ländern, in denen sie geboren wurden, und Portugal, dem Land, in dem sie jetzt leben; zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Hoffnung und Sehnsucht. »Pêndulo« ist eine intime, ständige Suchbewegung, auf die sich Regisseur Marco Martins und das Ensemble gemeinsam begeben haben.

Die Protagonistinnen und Ko-Autorinnen dieser Inszenierung sind sieben Frauen, deren Arbeit die Hausarbeit und Pflege ist. Sie alle sind aus den einstigen Kolonien in Afrika und Lateinamerika nach Portugal gekommen. In welchem Verhältnis stehen diese zugewanderten Arbeitnehmerinnen zu den Familien, für die sie arbeiten, für die sie ihr eigenes Zuhause verlassen haben, um die Häuser anderer zu reinigen? Was sind das für Beziehungen? Woran denken sie auf ihren Wegen hin zur Arbeit und zurück nach Hause, wenn sie nicht vor Erschöpfung in Bus und Bahn einschlafen? In persönlichen und traumähnlichen Situationen zugleich stehen sie auf der Bühne und sprechen über ihre eigenen und fremden familiären Beziehungen, die Konfrontation zwischen verschiedenen Lebensformen, Orten, Erwartungen, und dem täglichen Leben. Panorama einer Gesellschaft in Bewegung. Dabei begibt sich »Pêndulo« ebenfalls auf die Spuren des portugiesischen Kolonialismus in der Gegenwart, der auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Ende tief ins Bewusstsein wie auch ins Unbewusste der Menschen eingeschrieben ist.

Regisseur Marco Martins setzt mit »Pêndulo« seine über mehrere Jahre etablierte künstlerische Arbeitsweise fort, die aus Begegnungen mit Individuen und Gruppen aus den urbanen Peripherien besteht. Der intensive Austausch mit Menschen, die keine ausgebildeten Schauspieler_innen sind, und ihre Lebensgeschichten bilden dabei Kern und Ausgangspunkt seiner preisgekrönten Inszenierungen und Filme, die er seit 2007 im Rahmen der künstlerischen Plattform »Arena Ensemble« realisiert.

Not One of These People

von Martin Crimp
Regie: Christian Lapointe
Gastspiel FIND 2024
Québec/London

»Not One of These People« besteht aus 299 Aussagen, die von 299 verschiedenen Figuren gesprochen werden, deren Gesichter wir als Videoprojektionen sehen. Sie wenden sich direkt an uns und teilen uns ihre Gedanken und Ansichten über die Welt mit. In einem Moment stellen sie Fragen über Rassismus, Geschlecht und das Patriarchat, im nächsten vertrauen sie uns intime Geheimnisse an. Mit jeder Äußerung entsteht eine kleine Vignette und ein Einblick in das Privatleben dieser zahlreichen Figuren, die an die Flut von Meinungen erinnern, die uns in den sozialen Medien überschwemmen. Doch die Figuren, die wie Projektionen erscheinen und völlig authentisch wirken, sind in Wirklichkeit nicht echt: Jede von ihnen ist ein Avatar, der mit Hilfe von KI-Algorithmen und Deepfake-Technologie erstellt wurde. Und auch die Texte, die sie sprechen, sind nicht von ihnen selbst gesprochen, sondern werden von einem einzigen Performer vorgelesen: Martin Crimp, der Autor des Stücks. Wenn es die Aufgabe des Schriftstellers ist – so scheint er zu fragen –, Stimmen zu erfinden, wessen Stimmen darf er dann erfinden? Gibt es Grenzen für das, was sie sagen können? Und was, wenn eine erfundene Stimme Dinge sagt, die der Verfasser selbst lieber nicht hören möchte? Beobachten wir hier die Ausübung von Einfühlungsvermögen und Fantasie oder eine Warnung, nicht zu versuchen, in die Köpfe anderer einzudringen?

Martin Crimp, geboren 1956 in Dartford, UK, studierte englische Literatur an der Cambridge University. Seit seinem Debüt als Dramatiker 1982 mit »Living Remains« hat er neben Stücken mehrere preisgekrönte Hörspiele und Opernlibretti geschrieben sowie Übersetzungen und Bearbeitungen veröffentlicht. Er zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen Dramatikern.

Christian Lapointe, 1978 in Québec, Kanada, geboren, ist künstlerischer Leiter von Carte Blanche und Kurator des Festivals Mois Multi, beide in Québec City. Seit 2000 hat er mehr als dreißig Stücke und Performances konzipiert, aufgeführt und inszeniert.

Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto

von Kepler-452
Regie: Kepler-452/Enrico Baraldi & Nicola Borghesi
Gastspiel FIND 2024
Bologna

Am 9. Juli 2021 erhält die komplette Belegschaft des Automobilzulieferers GKN Driveline nahe Florenz ihre sofortige Kündigung per E-Mail. Daraufhin besetzen die Arbeiter_innen ihr Werk in Campi Bisenzio und kämpfen fortan als Collettivo di Fabbrica GKN gegen die Abwicklung ihrer Fabrik. Aus der Besetzung geht ein breites Bündnis aus Arbeiter_innen, Klima-Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen hervor, das eine ökologische Transformation der Produktion fordert.

Auch Enrico Baraldi und Nicola Borghesi, die zusammen das Theaterkollektiv Kepler-452 bilden, hören von diesem radikalen Klassenkampf und besuchen die streikenden Arbeiter_innen. Gemeinsam mit ihnen wollen sie »Das Kapital« von Karl Marx lesen. Wie ließe sich ein künstlerischer Dialog zwischen dem berühmtesten Werk der politischen Ökonomie und dem Streik in der Fabrik herstellen? Doch schnell werden sie sich der enormen Distanz zwischen Theorie und Praxis, dem Leben der Kunst und der Welt der Arbeit bewusst. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, entscheidet sich Kepler-452 zusammen mit Arbeiter_innen, ein Stück darüber zu machen, wie sie versucht haben, »Das Kapital« von Marx auf die Bühne zu bringen: also »ein Buch, das wir noch nicht gelesen haben«, wie der Untertitel es selbstironisch benennt. Dabei erzählen sie von sich und ihrem Leben und vor allem, was damit passiert ist, als die Produktion unterbrochen wurde.

Mit »Il Capitale – un libro che ancora non abbiamo letto« stellt sich das Kollektiv Kepler-452 zum ersten Mal einem deutschen Publikum vor. 2015 in Bologna gegründet, erkundet die Gruppe in ihren theatralen Reportagen anhand unterschiedlichster Formate konkrete Erfahrungen sozialer Wirklichkeit auf der Bühne. Mit Arbeiter_innen vom Collettivo di Fabbrica GKN haben sie ein Stück über Zeit und ihre wertvolle Bedeutung entwickelt: Wem gehört sie, wer kontrolliert sie und wie können wir sie wieder befreien, um unsere eigenen Geschichten zu erzählen?

Моя маленькая Антарктида (My Little Antarctica)

von Tatiana Frolova/KnAM Theater
Regie: Tatiana Frolova
Gastspiel FIND 2024
Komsomolsk am Amur/Lyon

Komsomolsk am Amur, von der Taiga umgeben, im »Förderationskreis Fernost«: dem russischen Teil Ostasiens nahe dem japanischen Archipel. Hier dauern die Winter bis zu sechs Monate und die Temperaturen fallen auf bis zu minus 40 Grad Celsius ab. In diese von der Welt vergessene »kleine Antarktis« kehren Tatiana Frolova und ihr Kollektiv KnAM Theater auf der Bühne zurück, nachdem sie im realen Leben nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, als Regimekritiker und Kriegsgegner bedroht, ins Exil nach Frankreich fliehen mussten.

Die offizielle Geschichtsschreibung behauptet, dass Komsomolsk in den 1930er-Jahren von einer Gruppe Freiwilliger der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol errichtet worden ist. Die Gründung einer Metropole in der unzugänglichsten Region des Sowjetreichs als Sieg des Sozialismus und der Zivilisation über die Naturgewalten. Die Wahrheit ist eine andere. Tatsächlich entstand die Stadt als Teil des Straflagernetzes Gulag. Die heutigen Bewohner_innen kennen daher vor allem zwei Arten von Vorfahren: Gefangene und Wächter des Lagers. Opfer und Täter des Stalinismus. Doch bis heute schweigen sie darüber.

Zum einen aus Gesprächen mit Menschen aus Komsomolsk gespeist, die ihre eigene Geschichte befragen, andererseits von Andersens »Die Schneekönigin« inspiriert, begibt sich die Inszenierung mitten hinein ins titelgebende ewige Eis, das ebenso konkrete Lebensrealität wie Metapher ist: Es »lässt Herzen gefrieren«, produziert soziale Kälte und konserviert alte Ressentiments. Ursprünglich vor Pandemie und Krieg in ihrem Studiotheater in Komsomolsk entwickelt – und in dieser Form für das pandemiebedingt ausgefallene FIND 2020 vorgesehen – hat die Gruppe ihr Stück in die Gegenwart fortgeschrieben. Die Ursprünge der Heimat im stalinistischen Terror und die bis heute ungebrochene Reproduktion dieser gewissermaßen in der DNA des Ortes verwurzelten Gewalt erhält vor dem Hintergrund von Putins Angriffskrieg eine beängstigend neue Dimension - paradoxerweise gerade aus der Peripherie eines abertausende Kilometer von seinem Schauplatz entfernten Ortes.

Das KnAM Theater wurde, als erste russische Independent-Theatergruppe jenseits jeglicher Institutionen, während der Perestroika 1985 von Tatiana Frolova in Komsomolsk am Amur gegründet. Ihren Anfang machte sie mit Aufführungen klassischer Theatertexte bevor sie sich dem Dokumentartheater zuwandte. In ihren Arbeiten, die stets im Kollektiv entstehen, verwebt sie Video, Film, Fotografie, Sound und Schauspiel und verbindet individuelle mit kollektiver Geschichte.

11.04.2024, 10:14

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