Da der Monat der zeitgenössischen Musik nicht von einer zentralen Stelle kuratiert wird, sondern direkt aus der Freien Szene heraus entsteht, ist er mit seinen rund 150 Veranstaltung an 65 Bühnen in nur vier Wochen verlässlicher Gradmesser für aktuelle Tendenzen der Szene.
Zur besseren Orientierung haben wir für euch rote Fäden des Musizierens und Komponierens ausgemacht, die sich durch das Programm ziehen.
Musikalische und intermediale Grenzgänge
Auffällig viele Projekte in diesem MdzM unternehmen musikalische und intermediale Grenzgänge und suchen die Nähe zu anderen Genres und Sparten, auch wenn die Umsetzung im Einzelnen bisweilen grundverschieden ausfällt.
Exemplarisch dafür steht »eclecticism ∞ LUX:NM« (1.9., Kesselhaus der Kulturbrauerei): Das auf neue Musik spezialisierte EnsembleLUX:NMlädt zur musikalischen Horizonterweiterung das Duo Witch'n'Monk,den Jazzmusiker Gebhard Ullmann und die Komponistin und Videokünstlerin Nicole Lizée ein. Bei derEröffnung des Monats der zeitgenössischen Musik(2.9., FAHRBEREITSCHAFT ) kollaborieren das Ensemble KNM Berlin mit dem Turntable-Duo Vinyl -terror & -horror. Einen ähnlichen Weg schlägt auch dasZafraan Ensembleein, wenn es bei seiner neuen Reihe Acud Session Verstärkung aus anderen Genres einlädt und diese Begegnungen mithilfe eines von François Sarhan entwickeltenLog Booksreflektiert. Gast der ersten Ausgabe (3.9., acud macht neu) ist die klassische Sopranistin Dénise Beck. Die ReihenKiezsalon(Alison Cotton, Dylan Henner and Ichiko Aoba, 7.9., HKW),Audiovisionen(Gebrüder Teichmann / Robyn Schulkowsky, 17.9. Zwinglikirche und Contagious, 22.9., Zwinglikirche) undKlappkart Rumpeln(18.9., Studio 764) haben das Miteinander verschiedener Musikstile gar längst zum programmatischen Kern erklärt. Wie die Genregrenzen allein bei der Konzentration auf Saiteninstrumente aufgelöst werden können, beweist dasDARA String Festival(10.+11.9., KM28), dessen Programm einen Bogen von früher zeitgenössischer bis zu experimenteller und frei improvisierter Musik spannt.
Mit anderen Sparten der Kunst liebäugeln das auf einem Heiner-Müller-Text basierende Hörstück»Traumtext 2022«(17.9., Café hausZwei) sowie dasSolistenensemble Kaleidoskop, das in »Tanz den Tanz« (18.+25.9.) mit Kunstwerken der Sammlung Hoffmann in den weit verzweigten Räumen der ehemaligen Nähmaschinenfabrik in einen Dialog tritt, bevor sie als Schenkung an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden übergehen.
Traditionelle Musik
Die neue Musik unserer Zeit löst sich zusehends von eurozentrischen Traditionen und Konzepten des Musizierens und Komponierens. Auf die Frage hin, wie eine neue transtraditionelle Musik klingen könnte, liefert die Freie Szene in diesem September eine Vielzahl von Antworten.
Im Rahmen der zwei Ausgaben von»Sonic Borderlines«im acud macht neu rekombinieren und interpretieren das Ghaith Al Shaar Trio und Marcinowska, Mayr and Pschichholz historische Stile aus dem arabischen und zentraleuropäischen Raum durch eine zeitgenössische Perspektive (6.9.). In der gleichen Reihe kontrastieren dasEnsemble KNM Berlin und Yogeswaran Manickam, Shashwathi Jagadish und Jeremy WoodruffKlassiker des 20. Jahrhunderts mit karnatischer Musik (25.9.). Derweil bringt das FestivalJeong Ga Ak Hoe(23.+25.9., ufaFabrik) alte und neue koreanischer Musik in Einklang. Ebenfalls von (süd-)ostasiatischer Musik lassen sich dasKairos Quartett(25.9., Nicolaisaal + 30.9., Villa Elisabeth) und dasmodern art ensemble(30.9., Konzerthaus) inspirieren.Kontraklang(10.9., St. Elisabeth Kirche) präsentiert mit Will Guthries Ensemble Nist-Nahund Pak Yan Laus Projekt Bakunawa zwei aktuelle europäische Ensembles, die sich in ihrer Musik explizit auf Gamelan beziehen.
Engagierte Musik
Deutlich spürbar ist auch der wachsende Drang der Musik, sich einzumischen und Position zu beziehen. So spielen soziale und politische Themen der Gegenwart eine zentrale Rolle im diesjährigen Monat der zeitgenössischen Musik.
Keyti, der bei der KlangKunstBühne (3.9.) einen Workshop gibt, hat mit dem Journal Rappé eine Art Bürger-Kunst-Journalismus mit tiefgreifenden Kommentaren zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen im Spannungsfeld von Journalismus, Kunst und Aktivismus, entwickelt. Die Marc Sinan Company macht in»Human Commodity«(17.9, Spreehalle Berlin) die Geschichte der Zwangsarbeit in Berlin zur Zeit der NS-Diktatur hörbar; ergänzt durch Sonic Bike Touren mit fahrenden Instrumenten vonKaffe Matthews(17.9, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit).
Das Y-E-S Kollektiv hinterfragt in seinemY-E-S-Fest(10.-11.9, Uferstudios) das durchrationalisierte Zeitregime des Kunstbetriebes und stellt als Alternative die sozialen Aspekte des Zusammenkommens ins Zentrum, ohne dabei künstlerische Ansprüche und musikalische Entdeckungen aus den Augen zu verlieren: Es gibt Workshops zur Pflanzenkunde von Hildegard von Bingen und zu choreografischem Aktivismus in Feriengebieten eine Kopfhörer-Klanginstallation, die sich mit der Architektur des öffentlichen Raumes beschäftigt. Mit dabei sind Marcela Lucatelli, Viola Yip, Jessie Marino, Ehsan Shayanfard, Lucien Danzeisen u.v.m.
Überhaupt bieten sich im Rahmen des Monats der zeitgenössischen Musik zahlreiche Möglichkeiten der Partizipation. DasFestival für selbstgebaute Musik(4.9., Holzmarkt ) beispielsweise würde ohne die aktive Einbindung des Publikums gar nicht funktionieren. Gleiches gilt für »Urban Miniatures«, bei denenDieOrdnungDerDingePassant*innen dazu einlädt, den Alltag neu wahrzunehmen.
Klang und Ökologie
Während des MdzM werden nicht nur unsere Beziehungen untereinander reflektiert, sondern auch die zu unserer Umwelt. So tritt beispielsweise das Reanimation Orchestra (17.9. ) in einen gleichberechtigten musikalischen Dialog mit den kreuchenden und fleuchenden Klangerzeugern der unmittelbaren Umgebung der Floating University, die Konzertinstallation »flowers & frequencies« von AnA Maria Rodriguez (24.+25.9., FAHRBEREITSCHAFT) untersucht die akustischen Beziehungen zwischen Bienen und Blumen und »obitop:biotop« von und mit Ulrike Brand (9.9.) widmet sich dem Spannungsverhältnis vom Todesort zum Lebensort der Zitadelle Spandau, die heute Naturschutzgebiet und Heimat einer Fledermaus-Kolonie ist. Lena Mahler und Christina Ertl-Shirley gehen indes in »Totes Holz« (29.9., ausland) den verborgenen und offenbaren Beschaffenheiten von Totholz und den in es eingeschriebenen ökologisch-künstlerischen Fragen auf die Spur und lassen ihre Untersuchungen zu Partituren, audiovisuellen Skulpturen und Klangportraits werden.
Kinder und Jugendliche
Diese intergenerational erfahrbaren Formate werden um Angebote ergänzt, die sich dezidiert an Kinder und Jugendliche richten. Mit »Sechse kommen durch die ganze Welt« erzählt Gordon Kampe mit LUX:NM ein Märchen der Gebrüder Grimm (23.+24., Atze Musiktheater) und auch die Maulwerker inszenieren in einer Ausgabe von Schrumpf!ihr Projekt »The Extended Voice« (25.9., Ballhaus Ost) als Mitmachstück für die ganze Familie. Das Programm präsentiert Vokalmusik des 21. Jahrhunderts zwischen erweiterten Stimmtechniken, Sprache als musikalisches Material und Stimme als Körperlichkeit in Bewegung (Originalfassung: 23.+24.9., Ballhaus Ost).