Utopische Dimensionen

Kommentar Wer über Utopien nachdenkt, muss bei ihrem Gegenteil beginnen – der Dystopie. In Zeiten, in denen Krisen und Krieg allgegenwärtig sind, ist es auch das Dystopische. Gelingt es uns trotzdem, die Utopie zu denken? Ein Beitrag von Diana Wechsler
Christin Berg Filmstill „Beyond the Now“ (2021)
Christin Berg Filmstill „Beyond the Now“ (2021)

© Christin Berg

Wer gegenwärtig über die utopische Dimension nachdenkt, muss notwendigerweise auch ihr Gegenteil, das Dystopische, ins Auge fassen. Seit der Covid-19-Pandemie wurde der – früher Literatur und Film vorbehaltene – Begriff der Dystopie zunehmend zur Beschreibung unseres alltäglichen Erlebens herangezogen. Angesichts der aktuellen Kriege und eines „Kapitalismus der Fragmentierung“ (Quinn Slobodian), werden wir allerorten zu Zeuginnen und Zeugen der Entmenschlichung. Und wir beobachten, dass die Bemühungen um supranationale Regulierungen wie auch die Demokratie selbst an ihre Grenzen stoßen.

Beides, Utopie wie Dystopie, sind Konstrukte, die uns ermöglichen, unsere gegenwärtige Situation von einem anderen kritischen Standpunkt aus zu reflektieren. Dabei impliziert die Beschreibung unserer Gegenwart als dystopisch im Kern schon den Gegenentwurf einer besseren Welt. Die utopische Dimension meint diese implizite Anwesenheit des Utopischen im als dystopisch erlebten Jetzt – die Utopie als eine Kraft, die uns auf eine erstrebenswertere Zukunft hin auszurichten vermag.

Utopien an einem Ort wie der Akademie der Künste neu zu denken, stellt eine Herausforderung dar, hallen in den Räumen der Institution doch die Kämpfe nach, die hier zu früheren Zeiten um symbolische Macht ausgefochten wurden. Diese Ausstellung versucht, die Ideale der Moderne für die Gegenwart fruchtbar zu machen, indem sie Werke ausgewählter Künstlerinnen und Künstler zeigt, die sich innerhalb des von Jeanine Meerapfel entworfenen programmatischen Rahmens auf einen impliziten Dialog mit dem Gedächtnis des Ortes einlassen.

Das Nachdenken über das Konzept der Utopie und seine mögliche Rolle führt uns zurück zu Walter Benjamin und seinen Ansichten zur Moderne, zur Geschichte und zur Vorstellung von Zeit, zu Theodor W. Adorno und seinen Ideen zur Philosophie der Zukunft und den Beschränkungen der Moderne sowie zum Denken von Fredric Jameson, Slavoj Žižek und anderen zeitgenössischen Intellektuellen.

Kann es gelingen, die Moderne als ein unvollendetes Projekt zu begreifen und ihre verschiedenen utopischen Vorstellungen mithilfe der Kunst wiederzubeleben? Letztlich wird jede Vergangenheit in der Gegenwart neu geschrieben, es könnte also durchaus produktiv sein, uns einige dieser utopischen Dimensionen durch Befragen neu und anders zu erschließen. Die ausgewählten Werke vermögen verschiedene Bedeutungsebenen von Träumen und Utopien in der Gegenwart aufzuzeigen. Zu den zentralen Konzepten, die der Auswahl zugrunde liegen, zählen Zeit, Erinnerung, Widerstand und Beharrlichkeit.

Mit ihrem Rückgriff auf utopische Dimensionen der Moderne will die Ausstellung zum Nachdenken einladen. Ihr Ziel ist es, einen provokativen kritischen Anstoß zu bieten, um mögliche Horizonte für einen modernen Humanismus aufzuzeigen, der in einer sich ständig verändernden Welt stets neu ausgerichtet und eingefordert werden muss.

18.04.2024, 22:11

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