Mehr als nur das Porträt einer Familie

Interview Das klassische Familienmodell wird in Deutschland bis jetzt als Norm angesehen. Erst in den 90er Jahren wurde die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen verboten – seit 2017 gibt es die „Ehe für Alle“. Schritte in die richtige Richtung
Die Regisseurin Annette Ernst
Die Regisseurin Annette Ernst

Foto: jip Film & Verleih

Wie kamst du auf die Idee, einen Film über eine Regenbogenfamilie zu machen?

Als ich noch Schülerin war, hatte eine Freundin ihr Coming-out und ich bin mit ihr durch Szenebars gezogen. Ein paar Jahre später fragte ich sie, ob sie sich vorstellen könnte, mit ihrer Freundin Kinder zu haben. Sie sah mich fassungslos an: „Ich bin lesbisch, ich werde gar keine Kinder haben!“Das war 1996. Heute hat sie mit ihrer Freundin zwei Töchter. Für mich war seitdem klar, dass ich darüber einen Dokumentarfilm machen möchte.Mich haben die Klippen interessiert, die eine Regenbogenfamilie in einer Gesellschaft wie unserer umschiffen muss. In der Zeit, in der die Idee zum Film entstand, gab es neben dem klassischen Familienmodell „Vater, Mutter, Kind“ noch keine Vorbilder für eine Regenbogenfamilie.

Weshalb hast du dich für diese Protagonisten entschieden und wie kam der Kontakt zustande?

2009 begann ich mit den Recherchen nach geeigneten Protagonistinnen.Ich kontaktierte die einschlägigen Netzwerke, ging auf Veranstaltungen, traf lesbische Paare mit Kinderwunsch. Schließlich lernte ich Pedi und Anny kennen. Von Anfang an waren die beiden bereit, uns auch Teil ihres intimsten Lebens werden zu lassen. Auch Eike, der „Samenspender“ und Vater ihrer drei Kinder, war bereit beim Film mitzumachen.2009 durften wir die Geburt ihres jüngsten Sohnes Pino im Geburtshaus miterleben. Nina Werth, die Kamerafrau, die jeden einzelnen der vielen Drehtage in den zwölf Jahren gedreht hat, konnte bei der Geburt vor lauter Tränen kaum etwas sehen. Wir waren sehr berührt von diesem wunderschönen, fast heiligen Moment.

Der Film ist über einen Zeitraum von circa 12 Jahren gedreht worden. Wie war es, die Familie so lange zu begleiten und welche Herausforderungen gab es dadurch beim Dreh?

Anfangs waren nur zehn Jahre geplant. Aber als auch Pino alt genug war, um uns eigene Interviews zu geben, waren daraus zwölf Jahre und über achtzig Stunden gefilmtes Material geworden.Den Müttern war immer wichtig, dass ihre Söhne Linus, Lou und Pino jedes Jahr frei entscheiden konnten, ob sie mitmachen wollten. Sie entschieden sich immer dafür. Es war auch für mich als Regisseurin ein Wagnis, mich mit ihnen auf eine so lange Zeitreise zu begeben, ohne zu wissen, wie sich die Familie entwickeln würde.Die Stimmen der Kinder sind ein wichtiges Element in diesem Film. Und wo sonst kann man einem Menschen bei seiner Geburt zuschauen und am Ende des Films hat er sich zu einer Persönlichkeit mit eigenem Blick auf die Welt entwickelt? Außerdem haben Kinder den natürlichsten Umgang mit Diversität, den man sich vorstellen kann.Jedes Jahr habe ich alle Beteiligten durchtelefoniert, um zu hören, was es Neues gibt, um die nächsten Drehtage zu planen. Dabei gab es immer wieder auch überraschende Momente. Zum Beispiel 2014, als Eike uns von einem Brief von Linn erzählte. Das Auftauchen von Halbschwester Linn ist nur eine der vielen Wendungen, die sich über die Zeit ergeben haben.Für die Produktion war die lange Produktionszeit und die Finanzierung eine extreme Herausforderung. Dank Hessen Film und Medien, die uns immer wieder unterstützt hat, obwohl in keiner deutschen Förderung so ein Langzeitprojekt vorgesehen ist, konnten wir den Film überhaupt realisieren. Um mit verschiedenen Stilmitteln zu experimentieren, starteten wir 2018 erfolgreich eine Crowdfunding Kampagne.

Wie war und ist dein Kontakt zur Familie von Pedi und Anny?

Wir wurden von Anfang an sehr vertrauensvoll aufgenommen und haben uns mit der Zeit immer besser kennengelernt. Dadurch veränderten sich natürlich auch die Interviews. Pedi und Anny sind die „perfekten Eltern“ und manchmal war es gar nicht so einfach, auch das andere, das „Unperfekte“ zu finden und gezeigt zu bekommen. Für einen klaren Blick im Schnitt brauchte ich auch immer eine gewisse Distanz.Sehr wichtig für den Drehprozess war die kontinuierliche Arbeit mit der Kamerafrau Nina Werth. Sie war mit all ihrer Kompetenz und ihren Ideen immer an meiner Seite. Mit ihrer direkten Art hat sie einen ganz eigenen Draht zu den Kindern und den Müttern aufgebaut.

Im Film gibt es auch Szenen mit zwei Schauspieler*innen, die eine Mutter und einen Therapeuten spielen und sich über Ängste und Vorurteile gegenüber Regenbogenfamilien austauschen. Wie kamst du auf die Idee, diese fiktiven Elemente in den Dokumentarfilm einzubinden?

Auch in Pedis und Annys Familien gibt es nicht nur Akzeptanz, sondern auch Ablehnung. Ich habe mich intensiv um diese Personen in der Familie bemüht, aber sie wollten sich nicht vor einer Kamera äußern.Während der langen Drehzeit habe ich überall immer wieder festgestellt, dass niemand über seine Vorurteile und seine Ablehnung einer Regenbogenfamilie öffentlich sprechen will. Ich bin da einem Gemisch an negativen Gefühlen begegnet, welches die Beteiligten oft gar nicht genau artikulieren konnten. Ich habe das für mich mit dem Begriff „diffuses Unbehagen“ benannt. Gerade dieses Unausgesprochene, das oft unbewusst und unreflektiert abläuft, ist umso gefährlicher. Und da es Teil der Ansichten und Haltungen von Menschen ist, die auch in unserer Gesellschaft leben, musste das ans Licht. Dafür musste ich eine Form finden. So kam die fiktive Ebene mit den beiden Schauspielern, Mutter und Therapeut, in den Film. Ich wollte, dass diese Gedanken, Fragen und Zweifel, denen ich in all den Jahren begegnet bin, auch ihren Platz im Film finden und zum Überprüfen der eigenen Weltsicht anregen. Es sind ja durchaus Fragen dabei, die sich nicht nur homophobe Populisten stellen.Damit ganz klar ist, dass wir hier auf einer fiktiven Ebene arbeiten, haben wir einen abstrakten Theaterraum gewählt und das Material am Ende schwarz-weiß stilisiert.

Du benutzt auch Archivmaterial, um die Ereignisse in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu setzen. Wie bist du bei der Arbeit mit dem archivarischen Material vorgegangen?

Es war mir wichtig, die privaten Erlebnisse unserer Protagonisten in einen zeitgeschichtlichen Kontext zu stellen und auch den Umgang mit Homosexualität in Deutschland international zu verorten. Wenn man bedenkt, dass der § 175, „die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen“ erst 1994 abgeschafft wurde, sieht man, welch großen Schritte wir in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt haben.Pedi und Anny haben Anfang dieses Jahrtausends noch analog eine Annonce in einer Zeitschrift geschaltet, um Eike zu finden. Heute ist es ein Klick und man kann entsprechende Portale im Netz finden. Dort verorten sich Menschen, die Familien in allen erdenklichen Konstellationen gründen wollen. Da hat sich extrem viel verändert.Während wir den Film gedreht haben, gab es auch politische Meilensteine in der homosexuellen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. Zum Beispiel als im Sommer 2017 Angela Merkel in einer für alle überraschende Wende die „Ehe für alle“ mit umgesetzt hat, obwohl sie persönlich dagegen war.Für diese zeitgeschichtliche Aufarbeitung brauchten wir jede Menge Bilder, Archivmaterial. Anfangs gingen wir sehr intuitiv vor und ließen uns von der gigantischen Materialsammlung, die das Internet bereitstellt, inspirieren. Was das für die anschließende Klärung der Bildrechte bedeutete, hatten wir unterschätzt.

Über 12 Jahre ist bestimmt extrem viel Material zustande gekommen, wie seid ihr im Schnitt vorgegangen?

Das über die Jahre mit der Familie gedrehte Material wurde immer wieder gesichtet. Dennoch lag, als wir mit dem Schnitt begannen, mit 80 Stunden Material ein unglaublicher Berg vor uns. Die Editorin Anja Lüdcke, die ich bei der deutsch-französischen Serie „Deutsch-Les-Landes“ kennengelernt habe, war für mich dabei eine sehr wichtige und inspirierende Partnerin. Sie reiste zum ersten Schnittag aus Paris mit einer visuellen Idee und Phantasie von „Spermien“ an, mit der ich zuerst wenig anfangen konnte. Wir arbeiteten uns da sukzessive hinein.Um eine klare dramaturgische Struktur zu finden, haben wir die chronologisch vergangene Zeit der 12 Jahre als eine Art Grundgerüst genommen. Um uns in der unglaublichen Materialmenge nicht zu verheddern und den Überblick nicht zu verlieren, haben wir ganz klassisch mit Karteikärtchen gearbeitet und wichtige Szenen an einer Pinnwand sortiert. Es war eine komplexe Herausforderung, Übergänge für all die Themen zu finden, die wir im Film zusätzlich zum reindokumentarischen gedrehten Material unterbringen wollten.

Was wünscht du dir, dass dein Film bei den Menschen auslöst?

Thematisch hat mich der Film im Laufe der Jahre selbst überrascht, weil aus einer Beobachtung einer Regenbogenfamilie eine Geschichte über ein ganzes Familienuniversum wurde. Irgendwann ging es um die Frage nach der eigenen, selbstbestimmten „Identität“. Darf ich ich sein, auch wenn es für mich noch gar keine Begrifflichkeit gibt? Dieser Film möchte ein Votum dafür sein, der Mensch, die Persönlichkeit sein zu dürfen, die man ist, solange man andere damit nicht verletzt. Dazu gehört auch der Mut, über frischen Schnee zu gehen und neue Spuren zu hinterlassen. Mein Anliegen mit diesem Film ist ein Plädoyer für Diversität, Vielfalt und Toleranz. Denn obwohl wir in Deutschland in einer Welt voller Gendersternchen leben, werden heute transsexuelle Menschen auch noch auf offener Straße verprügelt.Was mir als Regisseurin, die immer die Komödie im Blick hat, dabei sehr wichtig ist, ist den Humor im Alltäglichen zu entdecken und auf die Leinwand zu bringen. Raum zu schaffen für Leichtigkeit und Spaß. Die komischen Momente, die das Leben immer auch bereit hält ebenso herauszukitzeln, wie die berührenden und emotionalen. In einer von Corona und Klimawandel geschwächten Welt, die zusätzlich von einem Krieg in Europa erschüttert wird, brauchen wir das Lachen so sehr. Wenn es diesem Film gelingt, ein Lächeln auf das Gesicht des einen oder der anderen Zuschauer*in zu zaubern, wenn sie aus dem Kino kommt, dann hat er funktioniert.

12.10.2022, 11:47

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