„One Life“: Nach einer wahren Begebenheit

Produktion Nachdem die Produzenten Emile Sherman und Iain Canning von der Geschichte Sir Nicholas Wintons und seiner Rettungsaktion aus der Sendung „That's Life" erfuhren, war ihnen klar, dass sie ihn treffen und seine Geschichte erzählen wollen
Zeitzeugin: Die Tasche aus dem Dezember 1938 überdauert die Jahrzehnte
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Foto: SquareOne

Die Adaption

Die Produzenten Emile Sherman und Iain Canning kamen zum ersten Mal auf die Geschichte von Sir Nicholas Winton zu sprechen, nachdem sie einen Ausschnitt aus der Sendung „That's Life" gesehen hatten. Das war vor über 15 Jahren, als sie See-Saw Films mitbegründeten.

Emile Sherman sagt dazu: „Wir wussten, dass der erste Schritt darin bestehen würde, Nicholas Winton zu treffen.“ Iain Canning fährt fort: „Wir hatten das große Glück, ihn noch vor seinem Tod kennenzulernen. Er war äußerst bescheiden und großzügig. Seiner Meinung nach sollte der Film nicht ihn glorifizieren, sondern feiern, wie die gewöhnlichsten Menschen Großes erreichen können.“

Später gab Nicholas‘ Tochter Barbara Winton See-Saw Films ihr Einverständnis, ihr Buch „If It’s not impossible...“ zu adaptieren. Man engagierte die Drehbuchautorin Lucinda Coxon. „Ich hatte das Gefühl, es wäre bei diesem Projekt besser, eine Unterstützung zu haben. So fragte ich auch den Autor Nick Drake, mit dem ich schon öfter zusammenarbeitete“, sagt Coxon. Drake ergänzt: „Das hat mich sehr erfreut. Nicht zuletzt, weil mein Vater und Großvater Flüchtlinge aus der ehemaligen Tschechoslowakei sind. Ich war sofort von der Möglichkeit hingerissen, eine Geschichte zu schreiben, die auch meine Familiengeschichte betrifft.“

Barbara Winton gab den beiden Drehbuchautoren ihr Buch, das sie über ihren Vater schrieb, und ermöglichte ihnen den Zugang zu seinem Archivmaterial sowie alten Briefen.

Die Produzentin Joanna Laurie erklärt, worauf es bei der Stoffentwicklung ankam: „Wir mussten genau das tun, was Nicholas als schwierig empfand – ihn hervorheben. Er sah sich wirklich nicht als Held. Unsere Herausforderung bestand also darin, seine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen und gleichzeitig seine Bescheidenheit zu würdigen. Der Filmtitel ONE LIFE kann für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen haben. Ich denke aber, der Film fordert uns alle auf, so wie Nicky, über unsere Entscheidungen als Individuen und als Gemeinschaft nachzudenken.“

Der Regisseur James Hawes fügt hinzu, dass es typisch für Generationen sei, die mit den Gräueltaten eines Krieges konfrontiert wurden: „Wir müssen uns in die Lage dieser Menschen versetzen. Man sprach nicht über den Krieg. Ich bin sicher, dass viele Menschen Großeltern und Ur-Großeltern haben, die Kriegserinnerungen haben, aber nicht darüber sprechen, weil es zu schrecklich war.“

Das Buch von Barbara Winton war auch für die Schauspieler eine wichtige Quelle. Helena Bonham Carter erklärt, wie sie sich ihrer Figur Babi, Nicholas' Mutter und Barbaras Großmutter, näherte: „Barbara Winton wurde nach ihrer Großmutter Babi benannt. Ich hatte das große Glück, auch mit Barbara sprechen zu können und ihre Perspektive als Enkelin zu erfahren. Denn Babi war ganz wunderbar in ihrem Buch beschrieben.“

Johnny Flynn, der den jungen Nicky Winton spielt, fügt hinzu: „Barbaras Buch war für mich sehr wichtig als Recherchequelle, zusammen mit einigen anderen Büchern, darunter auch eines, dass von Vera Gissing mitverfasst wurde (eines der von Nicky geretteten Kinder).“

Unglücklicherweise starb Barbara Winton während der Dreharbeiten zu dem Film.

1938 und 1988

Die Drehbuchautorin Lucinda Coxon über die Herausforderung, die verschiedenen Zeitabschnitte (1938 und 1988) zusammenzuführen: „Wir entschieden uns dafür, die Geschichte mit einem Zeitsprung von 50 Jahren zu erzählen, anstatt auf lineare Weise. Obwohl die Ereignisse 1938 sehr dramatisch waren, stellte sich die Frage nach den langjährigen Nachwirkungen, die sie bei allen Beteiligten hinterließen.“

Einer der Aspekte, den das Drehbuch aufgreifen musste, war Nickys eigene familiäre Geschichte und wie sie seine Entscheidungen beeinflusste. Drake sagt dazu: „Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wusste er, was es bedeutet, ein Flüchtling vor dem sich ausbreitenden Nationalsozialismus in Europa zu sein. Er schämte sich für den Verrat der Alliierten am tschechischen Volk durch das Münchner Abkommen. Drake fährt fort: „Nicky sah die humanitären Konsequenzen dieses Abkommens und diese abstoßenden Lager, in denen die Flüchtlinge aus Deutschland, Österreich und dem Sudentenland unter inakzeptablen Umständen lebten. Die Realität, mit der er sich konfrontiert sah, motivierte ihn. Er beschloss, etwas dagegen zu tun.“

Für den Schauspieler Johnny Flynn war dieser Aspekt bei der Ausarbeitung seiner Rolle sehr wichtig: „Nicky sagt, dass er ein Europäer, ein Sozialist, ein Agnostiker ist. Sein Glauben und seine Überzeugung lagen in der Menschlichkeit. Er betrachtete jeden als gleich, für ihn war jedes Leben wert, gerettet zu werden. Er hatte jüdische Wurzeln, wurde aber als Christ erzogen. Er konnte sich aber mit seiner eigenen jüdischen Familie, ursprünglich aus Deutschland stammend, identifizieren.“

Zu seinem persönlichen Interesse an dem Projekt, das auch sein Regiedebüt darstellt, sagt Hawes: „Ich fühlte mich zu dieser wahren Geschichte hingezogen. Eine Geschichte zu finden, die so menschlich ist, aber auch in der Welt, in der wir heute leben, nachhallt – am Ende aber auch erlösend und eine Botschaft der Hoffnung ist – das hat mich angezogen."

Flynn stimmt zu: „Es ist selten, dass man etwas liest, das in seiner Aktualität so unvergänglich ist. Das ist ein Problem, mit dem jede Generation konfrontiert ist. Wir verlieren den Kontakt zu dem Sinn für Anstand, den Nicky verkörperte.

Das Prag-Team und die Besetzung

Sir Anthony Hopkins spielt den älteren Nicholas Winton und bringt die Geschichte der Kriegszeit auf den Punkt: „Es geht um mehrere Menschen, nicht nur um einen Mann, der das Leben von Kindern rettete, die in den Gaskammern und Öfen von Auschwitz, Treblinka und Belsen verbrannt werden sollten.“

Eine Schlüsselfigur des Prager Teams war Doreen Warriner, gespielt von Romola Garai: „Nicky Winton kam in der Tschechoslowakei an, als freiwilliger Helfer in der sehr kleinen NGO namens British Committee for Refugees in Czechoslovakia (Britisches Komitee für Flüchtlinge in der Tschechoslowakei). Eine winzige Gruppe mit sehr wenig Geld, die verzweifelt versuchte, Menschen zu helfen, die vor Verfolgung aus Österreich und Deutschland ins Sudetenland der ehemaligen Tschechoslowakei flohen.“

Der Produzent Emile Sherman ergänzt: „Nicky war natürlich nicht der alleinige Retter dieser Kinder. Er war Teil eines Teams. Es ist sehr wichtig, dass der Film nicht nur die unglaublichen Menschen würdigt, die mit ihm zusammenarbeiteten, sondern auch deutlich macht, dass Nicky dies erkannt hatte. Er stellte sich selbst nie in den Mittelpunkt. Das macht ihn so bemerkenswert und verleiht dem Film große emotionale Resonanz. Das Kernteam bestand aus seiner Mutter Babi, Trevor, Martin und Doreen, von denen einige noch mehr opferten und sich selbst in Gefahr begaben – es ist wichtig, dass sie neben ihm geehrt werden.“

Hawes ist sich der Unvermeidlichkeit von Schlagzeilen bewusst und fügt hinzu: „Man neigt dazu, die Geschichte des Überlebenden zu erzählen, des einen Menschen, der bei ‚That's Life‘ landete, der zum Ritter geschlagen wurde. Aber Nicky wäre der Erste, der sagen würde, dass er nicht allein war, und wir erinnern uns im Stillen an Trevor, Doreen, Martin und all die anderen.“

Flynn ist der Meinung, dass Wintons Ankunft in Prag dem übrigen Team, das bereits politische Flüchtlinge rettete, einen neuen Blick auf die politische Situation gewährte: „Er kam neu dazu und konnte sagen: ‚Seht her, wir müssen die Kinder retten‘. Bei Doreen und den anderen hatte sich ein Nihilismus breit gemacht. Sie brauchten jemanden, der sie auf eine neue Art und Weise an die Sache heranführte.“

Garai führt aus: „Aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Großbritannien und anderen Ländern wie Amerika gab es viel Widerstand gegen Flüchtlinge, so dass es eine unglaublich harte Arbeit war. Doreen Warriner schrieb in ihrem Buch wortgewandt über die Anstrengungen und die Gefahren, denen die Menschen ausgesetzt waren und über die Schwierigkeiten, dies den Regierungen und Menschen im Ausland zu vermitteln. Es war Nicky Winton, der sie ermutigte, ihre Bemühungen auf die Kinder zu konzentrieren, die am meisten gefährdet und schutzbedürftig waren. Und das war vielleicht der einfachste Fall, für den man im Ausland plädieren konnte – Menschen zu retten, die unmittelbar von Verfolgung und möglicher Ermordung bedroht waren.“

Lena Olin spielt Nickys dänisch-stämmige Ehefrau Grete Winton. Sie sagt: „Diejenigen, die sich einmischten und sahen, wie sich die Katastrophe entwickelte, litten mehr als die Menschen, die ein Auge zudrückten. Nicky lebte sein ganzes Leben lang mit dem Schmerz, nicht mehr Kinder gerettet zu haben.“

„Historische Figuren wie Doreen könnten leicht aus den Geschichtsbüchern gestrichen werden“, fasst Garai zusammen. „Der Respekt vor der Geschichte, sie akkurat zu erzählen und die Menschen zu repräsentieren, die eine so wichtige Rolle bei der Rettung dieser Kinder spielten – was auch für den späteren Teil der Geschichte gilt – erforderte die gebührende Sorgfalt, um alle ihre Stimmen zu hören.“

Eine Geschichte aus dem II. Weltkrieg oder eine humanitäre Geschichte?

Mit Blick auf die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sagt Produzentin Laurie: „Nicholas war kein Soldat. Er kämpfte nicht in einer Schlacht, er kämpfte für die Menschenwürde. Diese Geschichte zeigt nicht den Zweiten Weltkrieg, aber sie bietet die Chance, einige wichtige Parallelen zwischen damals und der heutigen Welt zu ziehen.“ Drake fügt hinzu: „Es geht um Humanität und darum, die Frage zu stellen: Was ist Heldentum?“

Flynn führt weiter aus: „Es ist kein Kriegsfilm, sondern eine Geschichte, die von realen Menschen handelt. Es geht nicht um Soldaten, sondern um Menschen, die von Konflikten betroffen sind und wie sie damit umgehen. Es geht um kleine und große Taten von Heldentum und Aufopferung. Es geht darum, wie Menschen einander zwischen diesen Konflikten helfen. Es ist die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die vielen Kindern bei der Evakuierung halfen, eine Geschichte darüber, was Menschen tun, wenn sie unter großem Stress und Druck stehen.“

Mit Blick auf Nicholas Wintons anhaltendes Engagement für andere sagt Coxon: „Er reagierte auf humanitäre Not, und das tat er sein ganzes Leben lang. Wenn er eine Not sah, machte er sich auf, um sie zu lindern. Er wäre der Erste, der sagen würde, dass er zu Beginn des Prozesses in Prag nicht wusste, dass sich daraus eine Operation von solchem Ausmaß entwickeln würde.“

Garai stimmt dem zu: „Es geht um Einzelpersonen, die ihr Leben riskierten, um Menschen zu helfen, die dringend auf Hilfe angewiesen waren. Damals gab es noch keine großen Flüchtlingsorganisationen. Leider brauchen wir diese Menschen immer noch, und es ist wichtig, sie anzuerkennen, sie zu feiern

und uns immer wieder zu fragen, wie viel Platz wir für andere schaffen können.“ Vera Schaufeld fügt hinzu: „Als Nikolas die Verfolgung sah, hat er gehandelt und etwas getan. Wir haben immer noch so viele Menschen, die Schutz brauchen und in Gefahr sind.“

Coxon fährt fort: „Leider ist das eine Geschichte, die nicht aus der Mode kommt. Die Moral von Nickys Geschichte ist: tu etwas. Man muss den Krieg nicht lösen, man muss die Armut in der Welt nicht lösen, man muss nur einen Beitrag leisten.“

20.03.2024, 13:44

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One Life | Trailer (dt.)

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Sir Nicholas Winton (1988) | That’s Life

Video Sir Nicholas Winton who organised the rescue and passage to Britain of about 669 mostly Jewish Czechoslovakian children destined for the Nazi death camps before World War II in an operation known as the Czech Kindertransport


Johnny Flynn | Interview

Video Johnny Flynn is interviewed for One Life. Directed by James Hawes, Anthony Hopkins and Johnny Flynn both play Nicholas Winton at different stages of his extraordinary life