In Kooperation mit Weltkino Filmverleih

„Wir leben mit unseren Geistern“

François Ozon über Wenn der Herbst naht: Inspiriert von einer Kindheitserinnerung verbindet er Alter, Schuld und unterbewusste Begierden zu einem intimen Thriller. Ein Gespräch über Vergänglichkeit, Geister, Freundschaft und die Kraft des Kinos

Foto: Weltkino Filmverleih

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Wenn der Herbst naht

Wenn der Herbst naht

François Ozon

Drama, Thriller

Frankreich 2024

102 Minuten

Ab 28. August 2025 im Kino!

In Kooperation mit Weltkino Filmverleih

Wenn der Herbst naht

Mit Wenn der Herbst naht kehren Sie zu einem eher intimen Film zurück.
Nach Mein fabelhaftes Verbrechen, einer Screwball-Komödie, die mit Ironie und Künstlichkeit spielt, wollte ich wieder ein originales Drehbuch schreiben. Ich hatte Lust, einen Film zu machen, der schlichter und stärker in der Realität verankert ist. In beiden Filmen geht es um Schuld und Mord, aber dieser Film hat einen ganz anderen Ton, eher im Sinne von Albert Simenon, einem Autor, den ich schon immer sehr mochte. Ich wollte einen einfachen, sanften Ansatz in der Regie, gespickt mit Spannung und Nervenkitzel, die sich aus den komplexen moralischen Dilemmata ergeben, denen die Figuren in dieser Grauzone zwischen Recht und Unrecht ausgesetzt sind. Vor allem aber ging es mir darum, Schauspielerinnen eines bestimmten Alters zu filmen, um die Schönheit in ihren Falten zu zeigen, die ihre Lebenserfahrung und den Lauf der Zeit widerspiegeln.
Ich bin entsetzt darüber, wie schnell ältere Menschen in der Gesellschaft und auf den Bildschirmen aus dem Blickfeld verschwinden. Ich habe dem entgegengewirkt, indem ich Schauspielerinnen in ihren Siebzigern und Achtzigern gefilmt habe, die ihr Alter mit Stolz tragen und es ungekünstelt akzeptieren. Ich musste oft daran denken, wie ich kurz vor den Dreharbeiten zu Unter dem Sand mit der damals erst 50-jährigen Charlotte Rampling stand und alle mir schon sagten: „Sie ist zu alt, das wird keinen mehr interessieren!“

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Film gekommen?
Aus meiner persönlichen Geschichte. Als ich ein Kind war, organisierte eine meiner Tanten ein Familienessen, bei dem sie Pilze zubereitete, die sie selbst gesammelt hatte. An diesem Abend waren alle sehr krank, nur sie nicht, weil sie keine gegessen hatte. Ich war fasziniert von diesem Vorfall und verdächtigte meine Tante, die so nett und fürsorglich war, die ganze Familie vergiften zu wollen (was damals, wie ich zugeben muss, auch mein innigster Wunsch war).

Als ich viel später Sacha Guitrys Roman eines Schwindlers sah, fühlte ich mich natürlich an meine Tante erinnert. Wenn wir Wildpilze kochen, versuchen wir dann nicht mehr oder weniger unbewusst, jemanden loszuwerden? Ausgehend von dieser Frage habe ich mir eine Figur ausgedacht, die der Inbegriff einer liebevollen Großmutter zu sein scheint, die aber vielleicht doch ein bisschen unheimlicher ist, als es der äußere Schein vermuten lässt.

Wenn der Herbst naht erforscht den schwarzen Abgrund unserer unterbewussten Begierden.
Ich wollte die Herausforderungen des Älterwerdens mit den Elementen eines Thrillers verbinden. Vieles bleibt unausgesprochen oder wird bewusst der Vorstellungskraft des Publikums überlassen, damit es seine eigene Geschichte erschaffen und das Verhalten der Figuren auf seine Weise interpretieren kann. Das gilt besonders für Michelle und Vincent, den Sohn von Marie-Claude, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Von ihm wissen wir nur, dass er „in seiner Jugend in Schwierigkeiten geraten ist“.
Manchmal erfüllt das Leben unbeabsichtigt unsere tiefsten, dunkelsten Wünsche. Wir neigen dazu, ältere Menschen zu idealisieren oder zu verklären und vergessen dabei, dass sie ein komplexes Leben gelebt haben. Auch sie waren einmal jung, sie haben sexuelle Bedürfnisse, unterbewusste Gedanken und Sehnsüchte. Ich wollte die Ambivalenz in Michelles Wunsch, ihren Enkel wiederzusehen, greifbar machen. Ihre Handlungen sind weder völlig klar noch bewusst gesteuert; sie sind von Zufällen, Umständen und dem Unausweichlichen geprägt.

Ich möchte, dass der Film uns dazu bringt, über unser eigenes Verhalten und unsere Reaktionen nachzudenken, wenn jemand aus unserem Umfeld verdächtigt wird, etwas Verwerfliches getan zu haben – ohne dass es Beweise dafür gibt. Zweifel kommen auf. Wie weit würden wir gehen, um diese Person zu schützen?
Diese Fragen scheinen heute besonders relevant, angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Unruhen.

Sie spielen mit Mehrdeutigkeit, betonen jedoch mehr Michelles lebendige Energie als die Last ihrer Schuld, was sich in der Art zeigt, wie Sie sie in ihrem Alltag filmen.
Es war mir wichtig, den Film mit dem Alltag dieser 80-jährigen Frau zu eröffnen, die in ihrem schönen Haus auf dem Land lebt. Sie kümmert sich um ihren Gemüsegarten, geht in die Kirche, fährt ihre Freundin herum, isst allein… Ihr Leben hier unterscheidet sich stark von dem, das sie einst in Paris führte. Ihre Tage sind von Stille geprägt. Oft bleiben Dinge, die gesagt werden könnten, unausgesprochen. Michelle ist in gewisser Weise zurückhaltend. Sie erschafft ihre eigene Wahrheit, ohne manipulativ zu sein. Es ist ihr Überlebensmechanismus.

Im Zentrum von Wenn der Herbst naht steht auch die Freundschaft zwischen Michelle und Marie-Claude. Sie bestimmt das Tempo des Films.
Die Idee von Freundschaft und Schwesternschaft war auch in Mein fabelhaftes Verbrechen präsent, in dem sich zwei junge Freundinnen gegenseitig helfen. Hier jedoch stehen zwei weitaus ältere Frauen im Mittelpunkt, die denselben Beruf und eine gemeinsame Vergangenheit haben. Ich wollte die Freude einfangen, die sie daran haben, einfache Momente miteinander zu teilen.

Michelle und Marie-Claude sind wie Schwestern, von denen eine eindeutig mehr gelitten hat als die andere. Marie-Claude besitzt weder Michelles Stärke noch ihre Schuldlosigkeit. Sie weiß nicht, wie sie mit der Realität umgehen soll – es fühlt sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Das hat Spuren an ihrem Körper hinterlassen und sie wird krank, weil sie es nicht verarbeiten kann. Sie fühlt sich für die Probleme ihres Sohnes verantwortlich und grämt sich mit der Frage, was sie als Mutter falsch gemacht hat. Michelle hingegen geht leichter damit um und sagt: „Wir haben unser Bestes gegeben!“

Was hat Sie dazu bewogen, Hélène Vincent und Josiane Balasko auszuwählen, diese beiden Freundinnen zu spielen?
Wir haben bereits an Gelobt sei Gott zusammengearbeitet, in dem sie ebenfalls Mütter spielten. Diese Rollen waren zwar kleiner, aber dennoch wichtig. Ich habe die Zusammenarbeit mit jeder von ihnen sehr genossen und wollte sie fortsetzen. Hélène Vincent hat nicht viele Hauptrollen im Kino gespielt. Sie ist eine großartige Darstellerin, die sowohl Härte als auch echte Zärtlichkeit ausdrücken kann. Sie hat eine alltägliche Schönheit, die faszinierend zu beobachten ist. Sie hat sich vollkommen in ihre Rolle vertieft. Zufällig lebt sie in Burgund, nicht weit von dem Ort, an dem wir den Film gedreht haben.

Josiane Balasko verkörpert das Schuldgefühl und die bescheideneren Lebensumstände von Marie-Claude in jeder ihrer Bewegungen. Ihr Körper und Gesicht vermitteln eine starke Menschlichkeit. Pierre Lottin, der Vincent spielt, hatte ebenfalls eine kleine Rolle in Gelobt sei Gott. Er ist sowohl gutaussehend als auch beängstigend und bringt Ambiguität und einen Hauch von Doppeldeutigkeit mit. Er war perfekt für die Rolle dieses charmanten und gefährlichen Mannes, einer zerrissenen Seele, von der wir spüren, dass sie jederzeit wieder aus der Bahn geraten könnte.

Und wie war es, wieder mit Ludivine Sagnier und Malik Zidi zusammenzuarbeiten?
Ich habe das letzte Mal vor über zwanzig Jahren mit Ludivine an Swimming Pool gearbeitet. Es war bewegend und eine große Freude, wieder mit ihr zu filmen und sie in der Rolle einer zerbrechlichen, aggressiven und von Schmerz belasteten 40-jährigen Frau zu zeigen. Was Malik Zidi betrifft, so erweckt allein seine Präsenz und seine Körperlichkeit die Rolle des entfremdeten Ehemanns sofort zum Leben. Er hatte bereits mit Ludivine in Tropfen auf heiße Steine zusammengearbeitet. Nur wenige Filmkenner und ich wissen von dieser Verbindung zwischen ihnen, aber sie trägt dazu bei, die Beziehung der Charaktere zu vertiefen.

Und Sophie Guillemin ist perfekt in der Rolle der Ermittlerin. Sie hat eine Schönheit, ein Licht, eine Sanftheit und diese intensive Art, andere anzuschauen. Ich hatte das Gefühl, dass die Kommissarin eine Frau sein musste. Eine verständnisvolle Frau, die sich entscheidet, den Fall zu beenden und andeutet, dass diese zerbrochene, aber immer noch funktionierende Familie sie an ihr eigenes Leben als alleinerziehende Mutter erinnert.

Im Mittelpunkt des Films steht auch die starke Bindung zwischen Michelle und ihrem Enkel Lucas.
Ich wollte den Kontrast zwischen Jugend und Alter einfangen, die Hände von Enkel und Großmutter verflochten filmen, die Bindung zwischen Großeltern und Enkeln zeigen. Michelle führte ein sehr bewegtes Leben, aber jetzt ist sie im Ruhestand und möchte die Natur, ihre gute Freundin und ihren Enkel genießen. Es gibt Ruhe, Wohlbefinden, eine beruhigende tägliche Routine, eine gewählte Einsamkeit … bis zu dem Moment, in dem sie ihren Enkel nicht mehr sehen darf. Plötzlich fühlt sich alles schwer an. Sie kann morgens nicht mehr aufstehen, schläft den ganzen Tag, fällt in eine Depression.

Michelle ist liebevoll und fürsorglich, aber ihre Tochter ist nicht empfänglich dafür, also lindert Michelle ihr frustriertes Bedürfnis zu geben und zurückzugeben, indem sie es mit ihrem Enkel tut. Oft ist es leichter, wenn man eine Generation überspringt. Am Ende gibt Michelle ihrem Enkel die Schlüssel zu dem Haus, das ihre Tochter – besorgt um Geld und nachtragend wegen Michelles Vergangenheit – gewaltsam von ihr zu nehmen versuchte. Wo die Tochter forderte, erhält der Enkel.

Michelles Vergangenheit verdeutlicht die Schwere dieses Erbes und die Problematik, es weiterzugeben.
Ihre Vergangenheit ist kein Deus ex Machina, der alles erklärt. Eine Tochter kann unabhängig von deren Beruf Probleme mit ihrer Mutter haben. Aber sie wirft Licht auf die Spannung zwischen dieser speziellen Mutter und Tochter.
Michelles und Marie-Claudes Vergangenheit ist ein Kieselstein im Schuh ihrer Kinder. Bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden, dass es allgemein zwei Arten von Reaktionen gibt. Entweder verteidigt das Kind die Mutter und sieht sie als Opfer, das jetzt Hilfe braucht, um Gesundheitsversorgung, Rente usw. zu bekommen. Oder das Kind lehnt die Mutter ab, abgestoßen und schockiert von dem, was sie getan hat. Kurz gesagt, das Verhalten von Vincent und Valérie veranschaulicht diese beiden gegensätzlichen Reaktionen, obwohl natürlich noch mehr dahintersteckt.

Warum wollten Sie den Geist von Valérie darstellen?
Ich habe es immer geliebt, Geister auf die Leinwand zu bringen, seit Bruno Cremer einen in Unter dem Sand gespielt hat. Wir leben mit unseren Geistern, besonders wenn wir älter werden. Da der Film aus Michelles Perspektive erzählt wird, schien es mir wichtig, ihre Angst davor, senil zu werden, und die Schuld, die sie quält, durch die gespenstische Präsenz ihrer Tochter körperlich darzustellen. Ich wollte eine unheimliche Fremdheit und eine psychologische Spannung erzeugen. Wird der Geist Michelle dazu bringen, etwas zu sagen oder zu tun? Am Ende hilft er ihr, fast wie eine Therapie. Valérie lebt in Michelle weiter, aber vielleicht in einer sanfteren Version. Michelle kann mit dem Geist leichter sprechen als mit ihrer Tochter, als sie noch lebte. Der Geist ist Teil von Michelles Überleben und ihrer Heilung und lässt sie sogar zugeben, dass sie erleichtert ist, dass Valérie nicht mehr da ist. Er schafft Raum für eine Art Versöhnung zwischen Mutter und Tochter.

Und die Wahl von Sacha und Evgueni Galperine, den Soundtrack zu komponieren?
Wir hatten bereits bei Gelobt sei Gott zusammengearbeitet, und ich war sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Vor dem Dreh gab ich ihnen das Drehbuch zum Lesen und bat um subtile, atmosphärische Musik, die tiefgründige, unbewusste Spannung erzeugen würde. Bevor sie irgendwelche Bilder sahen, schrieben sie eine wunderschöne Melodie, zu der sie das Geräusch fallender Blätter hinzufügten. Das leitete uns bei der Schnittarbeit und der Schaffung weiterer musikalischer Passagen.

Für die Szene in Vincents Bar schien das Lied „Aimons-Nous Vivants“ von François Valéry emblematisch für den Geist des Films, der – jenseits der Umstände – vor allem Michelles Freundschaften, ihre Resilienz und ihre Fähigkeit, zu überleben, thematisiert.

Die Natur spielt eine zentrale Rolle im Film.
Es war mir wichtig, diese intime Geschichte im Burgund anzusiedeln, einer Region, die ich liebe und in der ich als Kind meine Ferien verbracht habe. Wir haben in Donzy, in der Nähe von Cosne-sur-Loire, gedreht, einer Gegend, die nicht oft gefilmt wird. Nach einigen städtischen Filmen war es schön, diese ruhige Landschaft zu filmen und einen Teil meiner Kindheit wiederzubeleben. Der Film untersucht die Herbstjahre des Lebens, aber auch die herbstliche Schönheit dieser Landschaften. Natur und der Rhythmus der Jahreszeiten spiegeln sich in den Farben, dem Licht, dem Klang und dem Wasser, das durch die Kanäle fließt.

Der Film beginnt und endet im Wald im Herbst. Metaphorisch verschmilzt Michelle mit der Natur, umgeben von Farnen, und geht wie ein Pilz zurück zur Erde. Es ist der Lebenszyklus.

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