Das Erste, was ich als Reaktion auf den Zeit-Artikel von Christiane Florin vernahm, waren die heruntergeklappten Kinnladen meiner Mitbewohner. Denen hatte ich den Text „Ihr wollt nicht hören, sondern fühlen“ gezeigt, weil er mich so empört hatte. Nun bestätigten sie meine Meinung und wir saßen nach Feierabend in unserem Stammcafé und diskutierten möglicherweise genau auf jene emotionale und kritische Weise, die Christiane Florin als Dozentin der Politischen Wissenschaft ihren Studierenden absprach. Hat sie Recht, wenn sie uns vorwirft, wir seien „emotionslos“, „brav“, politisch verdorben und nur noch mit uns selbst beschäftigt?
Diese Kampfansage an ihre Studierendenschaft kann durchaus allgemein gelesen werden. Sie
Diese Kampfansage an ihre Studierendenschaft kann durchaus allgemein gelesen werden. Sie richtete sich an die Studiereren von heute, also auch an mich. Ihre Vorwürfe: unkritisches Denken und Emotionslosigkeit, gepaart mit Ich-Bezogenheit und Desinteresse an den großen gesellschaftlichen Entwicklungen. Stattdessen politische Verweichlichung, die in Flashmobs wie „Stürmt die nächste McDonald's-Filiale“ statt kritischen Diskussionszirkeln à la 68er ihren traurigen Höhepunkt finden. Und ihre Aufforderung, dagegen „Widerstand“ zu leisten!Nun muss ich zugeben, dass sie durchaus einen wunden Punkt trifft. Die Bewegungen der 68er scheinen heute wie aus einem anderen Zeitalter. Die Bildungsproteste, die 2009 eine kleine Hochphase hatten, schafften es einen Sommer lang in die Zeitungen. Danach hielten nur ein paar Versprengte die Fahnen der Solidarität für verbesserte Studienbedingungen hoch. Die heutige Generation der Studierenden ist tatsächlich viel mit sich selbst beschäftigt, der individuellen Suche nach Wohlbefinden und dem privaten Glück statt sich der großen, aufopferungsvollen Geste für die Gemeinschaft verpflichtet zu fühlen. Was Frau Florin allerdings vergisst ist zu fragen: Warum?Wir trinken nicht zum Spaß!Viele von uns sind ausgelaugt. Wir schleppen uns von einem unbezahlten Vollzeitpraktikum zum nächsten. Auch nachdem wir uns durch einen Bachelorabschluss qualifiziert haben, arbeiten wir in Ateliers, Jugendverbänden, politischen Bündnissen und Einrichtungen. Wenn wir Glück haben, bekommen wir dafür 400€ monatlich. Das gilt auch für absolvierte Politikwissenschaftler mit Bachelor, wenn sie anschließend ein Praktikum im Bundestag machen und dort monatelang arbeiten. Nebenher jobben wir ehrenamtlich, um unsere Lebensläufe den beruflichen Anforderungen anzupassen, jetten durchs Ausland und lernen Fremdsprachen, schreiben uns für Masterstudiengänge ein und unterwerfen uns der Bologna-Diktatur.Wir versuchen den Stoff für eine der zehn Klausuren zum Semesterabschluss zu notieren und denken dabei schon an das nächste Referat. Nebenbei arbeiten wir, um Berufserfahrungen zu sammeln und unseren Eltern finanziell nicht zu sehr zur Last zu fallen, und versuchen die Regelstudienzeit einzuhalten. Den Bachelor gibt es nicht für kritisches Diskutieren, sondern für 180 Leistungspunkte. Das waren in meinem Studium 48 Scheine. Wie viele davon hat die 68er Generation gemacht?Warum ihre Studierenden ständig an großen Wasserflaschen rumnuckeln müssten, fragt Christiane Florin und will uns damit provozieren. Aber wir trinken unser Wasser nicht zum Spaß! Wir wollen durchhalten. Und statt einem Tröpfchen Unterstützung, erhalten wir eine Kampfansage. Es gibt bisher nur wenige Dozierende, die ihre Stimmen laut für eine Umstrukturierung dieser bürokratischen Abwärtsschleife namens Bologna-Reform erheben. Auch Frau Florin nicht. Sie ärgert sich lieber über Wasserflaschen, statt über die Studienbedingungen.Aber sie hat nicht verstanden, dass wir uns mit diesem Durst nicht der Wellnesskultur unterwerfen, dass wir diesen Rückzug ins Private gar nicht wollen. Sondern dass wir nach Unterstützung und etwas Sicherheit dürsten. Die Zukunftsangst meiner Generation ist zum Motor unserer standardisierten Leistungsbereitschaft geworden. Wie viele Studierende können heute noch sagen, was sie später arbeiten wollen und vor allem können? Weder ich als Kulturwissenschaftlerin, noch die vielen Politikwissenschaftler haben die Garantie auf einen Job, schon gar nicht auf einen, der nach Möglichkeit glücklich machen soll. Die Chancen auf Festanstellungen sinken, die Forderung nach Flexibilität steigt. Wir müssen verfügbar sein, jederzeit und weltweit. Meine Schulfreunde haben sich nach dem Abitur über ganz Europa verstreut, ein weiterer Umzug nach dem Studium gehört unbedingt dazu. Ich gehöre zu einer Generation, „der die Soziologen so viele Optionen attestieren wie keiner Jugend zuvor“, schreibt die Autorin sehr richtig. Diese Wasserflaschen, sie gelten auch dem Durst nach einem Platz in der Gesellschaft. Und Verständnis.Sie finden uns im NetzViele Entwicklungen sind auf den analogen Lehrplänen der Unis noch lange nicht angekommen. Stattdessen werden sie im Internet längst gelebt. Und zwar weder emotionslos, noch ohne Engagement. Facebook mag ein Ort der Selbstdarstellung sein, klar. Aber es ist auch Ort von Diskussionen, kritisch und voller Emotionen. Das gilt auch für die Politik. „Eure Piraten machen uns ratlos“, schreibt Frau Florin. Die haben immerhin verstanden, dass Transparenz oder Demokratie Begriffe sind, die mit dem Jargon von Gewerkschaftlern nichts zu tun haben. Das Internet ist nicht Karl Popper, aber es bietet eine unermessliche, sich ständig fortschreibende Informationsfülle. Möglicherweise war keine Generation vor uns so gut informiert und so reaktionsschnell. Der Sturz Guttenbergs mit Hilfe der Webseite guttenplag.wikia.com ist ein Beispiel für die politische Macht, welche das Internet den Studierenden eröffnet.Wir könnten nicht einmal die Kanzler in die richtige Reihenfolge bringen, schreibt die Politikdozentin. Aber warum sollen wir das tun, wenn wir sie doch auf dem Smartphone googeln können?Natürlich wollen wir uns einbringen: Nur nicht da, wo Frau Florin uns gerne sehen möchte. Wir würden nicht mehr auf „Gewerkschaftskundgebung für den Mindestlohn“ gehen, schreibt sie. Aber das ist so unzeitgemäß wie unsinnig. Die Informationen holen wir uns auf mindestlohn.de und können sie über unsere digitalen Netzwerke weiterverbreiten – wenn wir mal Zeit haben sollten, von einem festen Job zu träumen. LebenswirklichkeitDiese Form politischer Macht, die Frau Florin noch immer an Gewerkschaften und das Amt von Kanzlern und Ministern bindet, hat tatsächlich nicht mehr viel mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun. Im Netz dagegen kann jeder zum Gestalter werden, schneller und direkter als alle vier Jahre mit einem Kreuzchen für Menschen, die sich derselben Codewörter in blau, grün und rot bedienen und an deren immergleichen Singsang uns langsam das Interesse verloren geht. Diese Form der Repräsentation, sie fühlt sich nicht mehr echt an. Unsere Generation, die durch die Teilhabe im Internet gesellschaftliche und politische Autoritäten nicht mehr als gegeben hinnimmt, ist durchaus aktiv und gestaltet in mächtigen Netzwerken die Gesellschaftsformen aktiv mit. Auch ohne Politikwissenschaftlerin zu sein, scheint mir das eine große Chance zu sein, Demokratie und Politik neu zu denken.Dass Frau Florin einer vermeintlich durch die Medienflut emotional verkümmerten Generation diese Veränderung nicht zugestehen will, ist paradigmatisch für die Angst ihrer Generation. Sie will, dass wir alles so machen, wie sie einst. Immerhin: „Wir Beobachtungsexperten haben zu wenig hingeschaut. Wir müssen lernen, nicht nur ihr,“ gibt Christiane Florin zu. Das ist gut.Wir sind es leid, uns Desinteresse und Selbstbezogenheit vorwerfen zu lassen. Frau Florin, schwimmen Sie doch mal im Netz mit. Da finden Sie uns. Dort stört Sie dann vielleicht auch das Wasser nicht mehr so sehr.Juliane Löffler, geboren 1986, studierte in Potsdam Kulturwissenschaft, Spanische Philologie, Deutsch als Fremdsprache und Design Thinking. Sie schreibt an ihrer Bachelorarbeit und freut sich über die Proteste in Québec gegen höhere Studiengebühren