Architekt im Delirium

Vom Bauen: An der Grenze lösen sich die Regeln der Stadt auf - die Berliner Mauer hypnotisiert Rem Koolhaas und treibt den jungen Architekten in die Exploration des Urbanen

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Das Abendmahl oder die Eucharistie, in einigen Freikirchen nur Brotbrechen genannt, ist eine Handlung im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes, der an das für den christlichen Glauben heilvolle Sterben Jesu Christi erinnert und dieses vergegenwärtigt, sagt Wikipedia.... Cola und Hamburger werden zur Kommunion der Moderne, am Checkpoint Charlie öffnet im Mai 2010 die neue Filiale einer erfolgreichen amerikanischen Burger-Kette, Gastraum und Grillküche in einem denkwürdigen Haus, seine atemlose Geschichte beginnt vor fünfundzwanzig Jahren:

Dämmrig liegt der Hörsaal, am Pult konzentriert ein Licht, ein schmaler Mann gleitet mit intensiver Aufmerksamkeit zügig durch ein Manuskript, will eine Idee fassen, erläutern, kommunizieren, ein holländischer Architekt aus New York oder London, Bilder scheinen hinter ihm auf, schnell getaktet, seinen Gedankenfaden spinnt er in englischer Sprache....... bald haben die ersten Studenten sich gefasst: Slower, slower.... grummelt es hilflos deutsch-englisch aus den vollbesetzten Reihen im Halbschatten, aber der Mann merkt kaum auf, seine Rede hebt sich, wird schneller sogar, bis die Einwürfe verstummen..... Untergrundbahn und Flugzeug huschen über die Leinwand, ein Autokino, unaufhaltbar wie der Surfer vor dem Wellenkamm treibt er seine Erklärung der städtischen Zivilisation bis zum Ende der Lektion culture of congestion, Kultur der Verdichtung, das ist die Stadtformel, die das Office for Metropolitan Architecture (OMA)aus Manhattan in die Internationale Bauausstellung IBA nach Westberlin tragen will.... so zündet die Botschaft von Rem Koolhaas eine Flamme in meinem Herzen (hätten die Alten gesagt) im Frühjahr 1985,schickt mich auf eine Reise nach ungesehenen Bildern, eine rastlose Quest, die mich noch lange treibt.

Die Gruppe OMA präsentiert sich wie eine Popband, the voluntary prisoners of architecture.....wenn Architektur gefrorene Musik ist, so bauen OMA Die Gesänge des Maldoror..... ein durchschlagender Erfolg ist bereits das erste „Album“ aus dem Jahr 1978, die Veröffentlichung Delirious New York, eine szenische Expedition in die hedonistische Kinderstube der megalomanen Himmelskratzer..... frech verpackt als rückwirkendes Manifest für eine Theorie des Manhattism, montiert wie ein Storyboard aus Rückblenden in die Zwanziger und Dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, aus hellsichtigen Erkenntnissen und illustriert mit surrealistisch inspirierten Projektideen.... The City of the captive globe findet den Weg in viele Häuser und Sammlungen:

....Durch unser fieberhaftes Denken in den Türmen gewinnt der Globus an Gewicht. Seine Temperatur steigt allmählich. Trotz schmachvollster Rückschläge lebt seine Trächtigkeit, zeitlos.


Ab 1980 zieht die Internationale Bauausstellung IBA Architektur-Visionen aus vielen Schulen nach Westberlin, aus Venedig und Mailand, aus London, aus Rotterdam, aus Paris und aus New York fliegen die Entwürfe ein zur Rekonstruktion der Südlichen Friedrichstadt, Parzelle um Parzelle, Block um Block soll das durch Krieg und fragmentarischen Wiederaufbau zernagte historische Straßenprofil re-corsagiert werden.... der Fassadenkanon postmodern mit historischen Bezügen und ironischen Zitaten vom Wiener Karl-Marx-Hof bis zu Schinkel und Palladio. Strahlend frisch aus dem Teilchenbeschleuniger breitet OMA zwei einladende Architekturteppiche aus, verspielte Improvisationen über bekannte Themen der Modernen Architektur wie etwa die Gartenhofhäuser von Mies van der Rohe: Kein Haus gleicht dem anderen, das oszillierende Bild eines paradoxen Konzepts der individualisierten Massenbehausung erinnert an das alte Edo...


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Als junger Journalist und Drehbuchautor entdeckt Rem Koolhaas irgendwann um 1970 die Berliner Mauer: Ich wusste nicht, was ich von dieser Reise erwarten sollte. Ich hatte gehofft, die Mauer an einem Tag zu „machen“ und danach den Rest der Städte zu erforschen. Die Mauer war dann so ....endlos, dass sie nicht zu fassen war. Aber ihre Anziehungskraft war hypnotisch. Sie hat mich zu einem ernsthaften Studenten gemacht.

Mit Elia und Zoe Zenghelis sowie Madelon Vriesendorp entwickelt Koolhaas das Projekt Die Berliner Mauer als Architektur (1970); diese Besetzung gilt als Gründungsteam von OMA um 1975, die intelligenten Provokationen der Gruppe lösen gleichermaßen Ablehnung wie Begeisterung aus. Der erste Vorschlag für die Berliner IBA findet keine Gnade: die Gebäudetypologie der niedrigen Bungalows, über Gartenhöfe verwoben zum Teppich ist als desurbanistische Vorortsiedlung am Mauerstreifen konzipiert, die Kommission der IBA aber verordnet Blockrandschließung bis zur Traufhöhe, das Programm muss in die Höhe gestapelt werden: Fünf Geschosse mit Wohnungen in den Großstadthimmel gestemmt, ein großzügiger Laubengang hinter Glaslamellen zur Friedrichstrasse, über dem Dachgeschoss ragt eine Tragfläche wie ein Flügel nach Nordost, und im Erdgeschoß wird das gesamte Grundstücksareal für den Grenzübergang Checkpoint Charlie freigehalten: You are leaving the american sector.....

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In den späten Siebzigern erforschen die Aktivisten von OMA die Kinderstuben der modernen Architektur, sichten die sozialistischen Weltentwürfe von Ernst May oder Ludwig Hilberseimer, durchsieben die Archive der sowjetischen Konstruktivisten nach gestaltenden Strategien und architektonischen Erfindungen, legen die Träume der revolutionären Propheten Malewitsch und El Lissitzky frei und tauchen in das kühle Licht der Künstlerkollektive von WChUTEMAS, INChUK, ASNOWA oder OSA ......

Ratlos studieren unsere Dozenten im West-Berlin der Achtziger Jahre das neue visionäre Rätselstück von OMA, den Entwurf zum parc de la villette... bisher kennt die Gartentheorie den Französischen Stil und den Englischen Stil..... hier ist ein neuer Typus, vielleicht kann man ihn den Dekonstruktivistischen Garten nennen?


Der aufgehende Stern am Westberliner Architekturhimmel heißt Hans Kollhoff...... von zwei ungleichen Brüdern könnte man reden, wenn man Kollhoff und Koolhaas vergleichen will..... Einer ihrer Lehrer war OMU (Oswald Mathias Ungers), der strenge Zuchtmeister, nicht zu Unrecht als Herr der Würfel berüchtigt. Kollhoff wie Koolhaas befassen sich im Gravitationsfeld von Ungers mit einer radikalen Schrumpfungs-Studie für Westberlin, angesichts des demografischen Niedergangs in den Siebzigern das zernarbte Stadtgeflecht zum Stadt-Archipel auszudünnen...... aber sonst haben die beiden Meisterschüler wenig gemein.

Ordnung, Repetition und Reduktion bestimmen das Werk von Hans Kollhoff, OMA und Koolhaas dagegen setzen weiträumige Forschungsreisen in Szene: jeder neue Entwurf überrascht, die erschreckende Schönheit des zwanzigsten Jahrhunderts hat Freud und Riefenstahl inhaliert, ist gereift mit Hitchcock, Dali und den Stones, preist mitAndy Warhol’s Velvet Underground die bösen Blumen und feiert Das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch, den provokativen Slogan der surrealistischen Avantgarde.

Hyper-innovative Visionen entsenden die kreativen Teams von OMA Rotterdam und OMA London in die Welt der Hochglanzbilder und Architekturforen, ihre Ideen gehen auf die Reise: Den Haag, Frankfurt, Karlsruhe, Lille, Agadir in Marokko, Fukuoka in Japan, Pearl River Delta in China, viele Projekte in den Niederlanden und immer wieder in Paris........begabte Kräfte drängeln sich an die Projekte, lang sind die Namenslisten von zeitweiligen Helfern und Mitwirkenden, darunter auch später Bekannte wie Zaha Hadid, Kees Christiaanse, Willem Jan Neutelings, Winy Maas, Alejandro Zaera Polo oder Matthias Sauerbruch, der die Baustelle am Checkpoint Charlie bis zum Ende betreut und kurz danach mit seiner Partnerin Louisa Hutton den Wettbewerb für die Erweiterung der GSW-Hauptverwaltung gewinnt, deren sanft geschwungene Hochhausscheibe nahe der Friedrichstraße in den Berliner Himmel ragt.

Bald nachdem die Wohnungen im Haus am Checkpoint bezogen sind bis hinauf unter das kräftige Flügeldach, kollabiert das Spannungsfeld des Kalten Krieges: die Grenzanlagen werden entschärft und demontiert, die hohe, offene Erdgeschoßzone im Haus von OMA steht daher nutzlos leer und wird später für Ladengeschäfte hergerichtet.


Für lange Zeit bleibt das Haus am Checkpoint die einzige und letzte Manifestation der metropolitanen Architekten. Nach einer offensichtlich missglückten Begegnung bezeichnet Koolhaas den neuen Berliner Senatsbaudirektor Stimmann als arrogant und anmaßend, Koolhaas meidet die Stadt der rekonstruktiven Blockrandbeschlüsse nach dem Traufhöhen-Vaterunser viele Jahre lang, erst ein Direktauftrag aus Den Haag führt dem architektonischen Genpool Berlins ein neues Erbstück von OMA zu: die Niederländische Botschaft öffnet Herz und Blick zur Spree. Koolhaas äußert sich jetzt nachdenklicher über die Berliner Baukultur:

Diese ganze Geschichte der Neunziger war eine Männersache. Ich glaube, dass ein gewisser Aspekt der Traurigkeit der Architektur in Berlin damit zu tun hat. Eine ganze Menge Emanzipation wurde nicht mitgemacht; Sagen wir, die Freiheiten, die heutzutage existieren, nicht immer aggressiv, hart, deutlich sein zu müssen, die Freiheit, mehrdeutige Formen zu finden – für das alles ist die Architektur nicht sehr zugänglich gewesen.


Im Mai 2010 also öffnet die neue Filiale der amerikanischen Burger-Kette am Checkpoint, einen Steinwurf entfernt lockt im Juni zwischen steil klippenden Brandwänden der helle Sand von Charlie’s Beach zum Public Viewing der südafrikanischen Spiele, was bringt der Juli, wie heiß wird der August? Wird Charlie ein mächtiges Ocean-Sound-System und luftige Strandhütten am Beach errichten, um die zahllosen Möglichkeiten des Labyrinths Berlin in weitere Heterotopien zu multiplizieren?

Die architektonischen Strategien von OMA wecken die urbanen Kraftfelder eines Ortes, vielleicht liegt darin ihr Geheimnis. Ein Haus muss sich vergessen, damit die Stadt hinein findet.

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Hier endet der 98. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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archinaut

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