Was Dosenmilch mit Gentrifizierung zu tun hat

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Seit kurzem befinde ich mich in einem Gewissenskonflikt: Ich hasse Dosenmilch. Ich hasse jegliche Art von Dosenmilch. Dosenmilch aus der Dose genauso wie Dosenmilch aus diesen kleinen portionierten Plastikgefäßen, die umständlich aufgegnibbelt werden müssen. Der aufmerksame Leser fragt sich, warum ich den Kaffee nicht einfach schwarz trinke. Schwarzer Kaffee ist mir genauso zuwider wie Dosenmilch.

Letztens habe ich Hamburgs ehemaligen Problemstadtteil Wilhelmsburg besucht, der zukünftig mit Hippness, jugendlichem Charme und Progressivität ein neues Aushängeschild für Hamburg sein soll. Die Sonne scheint, irgendwo zwitschert ein Vogel, ich sitze in einem neu eröffneten Café. Das Café ist freundlich eingerichtet. Zusammengewürfeltes Flohmarktmobiliar passend zum Flohmarkt-Geschirr. Individuell geschmackvoll. Mein Latte Macchiato wird mit Kakaoherz auf dem Milchschaum serviert. So lässt es sich leben. Im Fenster hängt ein Schild: Gentrifizierung nein danke! Genau! Seit sich dieses G-Wort auch in Hamburg festgebissen hat, habe ich natürlich Manifeste gegen Mietwucherer unterschrieben und mich gegen das Bernhard- Nocht -Quartier (BNQ) auf St. Pauli ausgesprochen. Nein, ich möchte keine Porsche Cayennes auf St. Pauli, die natürlich in der zweiten Reihe vor der fünfsprachigen Kita warten.

Zurück nach Wilhelmsburg. Heute übe ich mich in Selbstreflexion. Ich fahre keinen Porsche Cayenne und der Kinderwagen ist second hand. Meine Tochter wird weder in Chinesisch unterrichtet noch wird sie mit zwei Klarinette lernen. Dennoch: Ich sitze hier zwischen teilweise bereits aufwendig renovierten Altbauten und schlürfe Latte Macchiato. Nachher bestelle ich vielleicht noch eine Fritz-Cola oder Rhabarbersaft-Schorle. Warum steh ich nicht an einem dieser wackligen Bistro-Tische, die der City-Grill ein paar Meter weiter herausgestellt hat und trinke Filterkaffee? Vielleicht haben die Vollmilch anstatt Dosenmilch. Die Vögel tschiepen auch da.

Wo beginnt Gentrifizierung, wo hört sie auf? Ich bin weder Künstlerin noch Studentin, die die aufgewerteten Stadtteile Hamburgs so lebenswert machen. Habe weder Dreads noch Iro, bin eine Latte Macchiato-Mitschlürferin. Dennoch frage ich mich aufrichtig, ob ich nicht doch Teil der Gentrifizierung bin. Ich gebe mich individuell, aufgeschlossen und weltoffen. Reinald Grebe singt in seinem Lied „Prenzlauer Berg“: „Dort sind alle gleich, irgendwie individuell“. Passt!

Das Schild im Wilhelmsburger Café kommt mir jetzt ein wenig deplatziert vor, als würde sich Ulli Hoeneß einen Button „Fußball-Kommerz nein danke!“ anstecken. Ich frage mich, ob die Café-Betreiber wirklich gegen Gentrifizierung sind oder das Schild im Fenster lediglich einen gewissen Underdog-Charme verbreiten soll. Eine Gentrifizierung des Stadtteils würde dem Café immerhin viele junge individuelle Gäste servieren und alte grobporige Tresen-Hänger im „Guten Tropfen“ peu à peu in die Hochhaus-Siedlung nach Kirchdorf-Süd verbannen.

Ich sympathisiere mit dem FC St. Pauli sei Anfang der 1990er. Vor einigen Monaten haben die "Sozialromantiker" vom FC. St. Pauli von sich reden gemacht und mit Totenkopf auf rotem Untergrund gegen den Ausverkauf des Vereins demonstriert. Finde ich gut. Auch diese Symbolik hängt in den neuen Latte Macchiato Läden auf St. Pauli. Es ist cool, irgendwie dagegen zu sein, obwohl man eigentlich Teil der Misere ist. Aber das muss niemand wissen. Eine schwierige Sache, das mit der Gentrifizierung. Ich beschließe, noch einen Filterkaffee zu bestellen. Aller Anfang ist schwer.

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