Was ist los in Libyen?

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„… [Es] ist ein gespaltenes und zerstörtes Land ohne funktionierende staatliche Institutionen. Die Zahlen der Witwen und Waisen, der „Verschwundenen“ und der Kriegsversehrten gehen in die Zehntausende. Die konfessionellen Spannungen haben zugenommen, und al-Qaida ist im Untergrund nach wie vor aktiv…“ so schreibt Alain Gresh in Le Monde Diplomatique …über den Irak von heute. Irak, das Land, gegen das die USA mit ihrer Allianz der Willigen Krieg führte und es zehn Jahre besetzte. In Libyen hat es die Nato nach nur neun Monaten geschafft, die Situation immer mehr jener im heutigen Irak anzugleichen.


Bereits vor den Kämpfen um die Gaddafi treuen Städte Tripolis, Bani Walid und Sebha gab der Nationale Übergangsrat die Zahl der Todesopfer in Libyen mit 30.000 bis 50.000 an. Wie hoch mag die Zahl der Toten nach den äußerst blutigen Kämpfen und den fortwährendenNato-Bombarierungen um diese drei Städte angestiegen sein? Bis heute sind keine offiziellen Schätzungen veröffentlicht, so wie die ganze Situation in Libyen in einem medienpolitisch schwarzen Loch verschwindet. Libyen ist aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden, man liest nichts von den Zuständen in vielen der Orte, die bis zum Schluss zu Gaddafi standen und von denen heute nur noch Trümmer vorhanden, die Bewohner tot oder geflohen sind. Patrik Haimzadeh, einst französischer Diplomat in Libyen, schreibt dazu in Le Monde Diplomatique: „West-Riyayna [das bis zum Schluss zu Gaddafi gehalten hatte, Anm.d.Verf.] ist heute ein Geisterdorf mit ausgebrannten Häusern, eingeschlagenen Haustüren und geplünderten Geschäften.“ Und an anderer Stelle: „… Menschen aus den Dörfern und Städten, die das gestürzte Regime unterstützt hatten und deshalb Repressalien ausgesetzt sind. Auf den Landstraßen und in den Städten findet eine systematische Hetzjagd auf Autos mit Nummernschilder aus Bani Walid oder Sirte statt: Sie werden angehalten, die Insassen kontrolliert und gefilzt, manchmal auch ausgeraubt.“ Aus dieser Bescheibung kann nur der Schluss gezogen werden, dass Zivilisten, die zu Gaddafi hielten, von der Nato nicht zur schützenswerten Zivilbevölkerung gezählt werden.

Ungläubiges Grauen löste kurz vor Weihnachten in der Sendung „Menschen bei Maischberger“ die Bemerkung von Peter Scholl-Latour aus, Muammar Gaddafi sei keineswegs erschossen, sondern auf brutalste Art und Weise mit einer Eisenstange gepfählt worden. Wie es die neuen Vertreter Libyens mit Rechtstaatlichkeit halten, konnten Fernsehzuschauer bereits vor einiger Zeit jeden Abend begutachten, als die schon in Verwesung übergegangene Leiche Gaddafis auch in unseren Nachrichten zur Schau gestellt wurde, und dies trotz der islamischen Pflicht, die Leiche noch möglichst am Todestag zu bestatten. Es sind Gesten wie diese, die eine Aussöhnung der Stämme wohl für lange Zeit unmöglichen machen werden und weiter zur Spaltung des Landes beitragen.

Auch war Scholl-Latour der Meinung, dass man vor allem in Südlibyen mit einer Somalisierung des Landes zu rechnen habe. Einen Vorgeschmack davon gaben die Erschießung eines Deutschen und weitere Entführungen in Timbuktu. Die Stadt liegt in Mali und ist Kreuzungspunkt zwischen dem Übergang von Sahara zur Sahelzone, also der Übergang des von den Tuareg beherrschten Wüstengebietes zu einer kargen Ackerbauzone. Den Tuareg ist es freigestellt, sich in den Ländern der Sahara, also zwischen Mauretanien, Mali, Algerien, Niger und Libyen frei zu bewegen. Bis auf einige im Wüstengebiet stationierte Grenzposten sind Grenzsicherungen nicht vorhanden. Nur wenige Pisten durchqueren die gesamte Sahara in Nord-Süd-Richtung, eine Teerstraße gibt es nicht. Sahara ist Beduinenland und nur wer sich dort wirklich gut auskennt, ist überlebensfähig. 97 Prozent von Libyen sind Wüste. Wenn diese Wüste auf libyschem Gebiet auch relativ gut mit Straßen erschlossen ist, so bleibt doch ein riesiges, kaum kontrollierbares Staatsgebiet als Rest, denn Libyen ist mit seinen circa 1,8 Mio. Quadratkilometern das viertgrößte Land Afrikas. Wenn auch die Tuareg nur einen relativ kleinen Prozentsatz der Bevölkerung Libyens ausmachen, so waren sie Gaddafi in tiefer Treue verbunden. Gaddafi bot den Tuareg stets Schutz und stellte jedem dieser Wüsten-Beduinen auf Wunsch einen libyschen Pass aus, mit denen sie in den Genuss des libyschen Öl-Wohlfahrtsstaates kamen. Viele Tuareg dienten in Gaddafis Armee. Als Teil dieser Armee sind sie nach dem Sturz des Regimes auf malisches Gebiet geflohen und brachten auch gleich ihre Kurzstreckenraketen und Flugabwehrgeschosse mit.

Seit einiger Zeit ist die Sahara aber auch Rückzugsgebiet für islamistische Gruppen, so genannte Al-Qaida-Gruppen. Tuareg und Al-Qaida stehen sich zwar nicht wirklich nahe, da die Tuareg, obwohl Moslems, für islamistischen Geschmack einen recht laxen Islam ausüben. Auch bezüglich der Rolle der Frau gehen die Ansichten auseinander. Dies heißt aber nicht, dass islamistische Gruppen und Tuareg nicht in Stunden der Not ein Zweckbündnis eingingen. So wohl geschehen Anfang Dezember im Osten Malis bei der Entführung zweier Franzosen, die eindeutig im Dunstkreis westlicher Geheimdiensten agierten (SZ vom 10./11.12.11).

Doch auch im Nordwesten Libyens, entlang der Küste ist die Lage keineswegs stabil. So erhielten wir die Nachricht, dass der Grenzübergang zwischen Libyen und Tunesien, Ras Ajdir, so wie fast die gesamte libysch-tunesische Grenze, auf libyscher Seite unter Kontrolle von Aufständischen ist. Einige Tausend Tunesier, die auf der Suche nach Arbeit sind, können aus diesem Grund nicht nach Libyen einreisen. Ohne ausländische Arbeitskräfte ist die Wirtschaft Libyens aber nicht funktionsfähig. Wann wird da libysche Öl für den Westen wieder fließen. Und darum ging es doch neben der Destabilisierung des Landes vor allem in diesem Krieg.

Und was ist von der Nachricht zu halten, dass der sich in einem bedenklichen Gesundheitszustand befindliche Sohn Muammar Gaddafis,Saif al-Islam al-Gaddafi, inzwischen von der „auf Mord und Anstiftung zum Mord“ lautenden Anklage in Zintan freigesprochen wurde und auf freiem Fuß ist? Diese Nachricht stammt vom Iranischen Rundfunk, während sie bei uns im schwarzen Presse-Loch versank.

Und die Nachrichten aus der Hauptstadt Tripolis? Am 15. Dezember berichtete die SZ, dass General Kalifa Hiftar, einer der ranghöchsten Soldaten des heutigen Libyen, mit seinem Konvoi in eine Schießerei mit den westlichen Truppen verwickelt wurde, bei der es zwei Tote und mehrere Verletzte gab. Von der einen Seite wird behauptet, Hiftar habe eine Straßensperre durchbrochen, um den Flughafen unter seine Kontrolle zu bringen, die andere Seite sagt, auf Kalifa Hiftar, Nachfolger des ebenfalls unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Generals ‚Fatah Junes, sei ein Anschlag unternommen worden. Die Rivalitäten zwischen den einzelnen Gruppen sind groß und die Lage alles andere als sicher. Zwar hat Turkish Airways mit einem Flug aus Istanbul den zivilen Flugverkehr am 7. November offiziell wieder aufgenommen, doch werden Reisende auf der Suche nach einem Tripolis-Flug auf der Homepage der Fluggesellschaft nicht fündig werden. Dafür findet sich auf der Homepage des Auswärtigen Amtes dieser Hinweis: „Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen nach Libyen. Die Lage im ganzen Land ist weiterhin unübersichtlich. Bewaffnete Auseinandersetzungen finden vereinzelt weiterhin statt und sind jederzeit möglich.“

Die Tochter Gaddafis, Aischa al-Gaddafi, bei Kriegsausbruch von der UNO geschasst, wo sie sich als Ehrenbotschafterin des Entwicklungsprogramms gegen die Verbreitung von Aids und die Unterdrückung von Frauen in der arabischen Welt einsetzte, ruft derweil aus ihrem Asyl in Algerien zum Widerstand auf. Und in etlichen Stadtvierteln werden immer aufs Neue Pro-Gaddafi-Parolen an die Hauswände gemalt und die Stunde der Rache beschworen. Denn es gibt sie noch, die eine Million Gaddafi-Anhänger, die während des Krieges am 1. Juli 2011 in Tripolis für Muammar Gaddafi demonstrierten – in einem Land mit insgesamt nur gut sechs Millionen Einwohnern. Davon nahmen die westlichen Medien keine Notiz, während es Schlagzeilen hagelt, wenn in Russland mit seinen 143 Millionen Einwohner gerade mal ein paar Dutzend Menschen auf die Straße gehen.

Des Nachts kommt es in Tripolis zu Schießereien, auch zwischen Milizionären und der Nationalen Befreiungsarmee. Verschiedene Clans mischen mit, ebenso wie Dschihadisten, unterstützt durch den Emir von Katar und seinem inzwischen in vielen arabischen Ländern verhassten Sender al-Jaseera. Und es soll Gaddafi treue Zellen geben, die sich noch ruhig verhalten, um einen günstigen Zeitpunkt für ihre Rache abzuwarten.

Doch wie sieht es im Osten, in der Kyrenaika aus, von wo der Aufstand seinen Anfang nahm? Hier bestimmen nach wie vor die tribalen Führer und Politiker von Großfamilien das Geschehen. Sie sorgten nach dem Sturz des alten Systems für Sicherheit und Ordnung in der Region und sind bemüht, ihren Einfluss und die soziale und ökonomische Teilhabe auszuweiten und ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Auf die regionalen Führer, die ihre alte und neue Macht bestimmt nicht wieder abgeben wollen, ist auch der Übergangsrat in Bengasi angewiesen.

Der Aufstand gegen Gaddafi speiste sich zuerst vor allem von den jungen Menschen aus Bengasi und Umgebung, deren politische Teilhabe in der tribalen Gesellschaft gegen Null geht. Der Anteil der 16- bis 35-Jährigen beträgt in der Kyrenaika etwa fünfzig Prozent. Wie Thomas Hüsgen in seinem Aufsatz „Politische Kultur und die Revolution in der Kyrenaika“ (Libyen, Hg. Fritz Edlinger, 2011) schreibt, „…geht die ökonomische und politische Integration der Massen an Jugendlichen über die Leistungsfähigkeit des Systems hinaus“. Diese städtische Jugend diskutiert über Demokratie und Menschenrechte und interessiert sich für das westliche System, von dem sie sich mehr Chancen verspricht. Doch aus der politischen Realität sind sie auch nach dem Sturz Gaddafis verdrängt, dort haben weiterhin die Stämme das Sagen. Nach den Kämpfen stilisieren sich die jungen Männer als opferbereite Märtyrer und organisieren sich in Bünden, wobei sie sich von der restlichen Gesellschaft immer weiter entfernen.

Davon, dass der Nationale Sicherheitsrat die Lage im Griff hat, kann überhaupt keine Rede sein. Es ist nicht einmal bekannt, wie viele Mitglieder der Übergangsrat hat – es sollen 33 oder 48 sein – geschweige denn, dass man die Namen aller Mitglieder oder ihre früheren Funktionen kennt. Dies hielt den UN-Sicherheitsrat aber nicht davon ab, Mitte Dezember seine Sanktionen gegen die libysche Zentralbank aufzuheben und damit etliche Milliarden Dollar der neuen libyschen Führung zugänglich zu machen. In welchen dunklen Kanälen mögen diese Gelder, die rechtmäßig dem libyschen Volk zustehen, nun versickern?

Gaddafi weg und alles ist gut? Davon kann nun wirklich keine Rede sein. Ein vorher prosperierendes Land, das reichste Afrikas, dessen Bewohner die längste Lebenserwartung auf dem ganzen Kontinent hatten, ist zerstört. Über 20.000 Einsätze hat die Nato geflogen. Anschließend glich die schnelle Beendigung des Nato-Einsatzes mehr einer Flucht als einem geordneten Rückzug. Der Hass der Bürgerkriegsseiten hat sich ins Unermessliche gesteigert. Diese Konsequenzen müssen dem Westen schon vor seinem Kriegseinsatz bewusst gewesen sein, wurden aber zynisch missachtet beziehungsweise wurde die Destabilisierung des Landes bewusst herbeigeführt, denn nur ein schwacher arabischer Staat ist ein guter arabischer Staat. Und der Westen macht weiter – als nächstes ist Syrien an der Reihe.

Ein weiterer Kollateralschaden ist das gnadenlos schlechte Ansehen des Westens und der Nato in ganz Afrika, Lateinamerika und in weiten Teilen der übrigen Welt. Wen es interessiert, der sollte sich auf Youtube die vielen Videos ansehen, in denen Gaddafi als geliebter „Hero of Afrika“ gefeiert wird. Sein Tod machte ihn für viele Menschen endgültig zum Märtyrer. Und die Verschlechterung der gesamten Lebensumstände in einem zerstörten Libyen werden das Land gewiss nicht befrieden. Aber darum ging es ja von Anfang an nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Angelika Gutsche

Ihre Reisen führten sie neben Indien, den USA, Russland und dem Jemen unter anderem auf den afrikanischen Kontinent und quer durch den Balkan.

Angelika Gutsche

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