Die Tektonik des Mülls - ein Theaterabend mit Rimini Protokoll

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Das Stück beginnt mit einem Albtraum, in dem eine mysteriöse Krankheit Kinder dahinrafft. Weil Särge fehlen, werden die Leichen einfach in der Grube verscharrt. Ein kleiner Junge ist noch bei Bewusstsein und fleht seinen Vater an, ihn nicht auf den Müll zu werfen.

Dann wacht der Träumer auf und aufder Bühne stehen vier Wertstoffsammler, die den Begriff Müllsammler diskriminierend finden, und ein Schauspieler. Fast zwei Stunden erzählen sie auf der Bühne des Hebbel am Ufer (HAU 2) in Berlin über ihre Träume, ihre Wünsche, über ihren Alltag und über das was sie ärgert. „Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls“, heißt das neueste Stück der Theatergruppe Rimini Protokoll. Das Künstlerduo ist bekannt dafür, Helden des Alltags auf die Bühne zu stellen und sie ihr Leben darstellen zu lassen. Auch im aktuellen Stück gelingt ihnen ein sehr guter Einblick in das Leben von Menschen, die wir sonst kaum beachten. Drei der Männer stammen aus kurdischen Dörfern, einer aus Mersin. Alle machen deutlich, dass sie die Armut in ihrer Heimat zur Migration nach Istanbul veranlasst hat. Auch wenn in einer Szene deutlich wird, wie sehr auch diesen Job eigentlich hassen, wo sie in Müllcontainer rumkraxeln müssen und neben weggeworfenen Lebensmittel, blutige Binden und tote Tiere finden, so wird aus den Worten der Männerauch klar, was sie noch mehr ablehnen: die Rückkehr in die heimatlichen Dörfer und der dort herrschenden Armut und kulturelle Regression. Darin sind sich die sonst sehr unterschiedlichen Männer fast einig. In einer Szene wird die lange Busfahrt aus der Östtürkei nach Istanbul nachgespielt, die die Männer in regelmäßigen Abständen absolvieren müssen.

Es ist sehr positiv, dass ihre Differenz gut dargestellt wurde. Während einer immer wieder seine islamische Religion erwähnt, betont der einzige Roma in der Gruppe seine gesellschaftliche und geistige Freiheit. Er ist der Redegewandeste und sieht sie als Zeichen seiner Professionalität, während die anderen nicht gerne viele Worte machen. In den verschiedenen Szenen wird auch deutlich gemacht, wie die Wertstoffsammler in die kapitalistischen Markt eingebunden sind. Sie müssen gegen große Firmen konkurrieren, werden von der Bürokratie gezwungen, sich auf eigene Kosten Uniformen zu kaufen, damit sie gute Touristenbilder abgeben. In einer Szene wird der nicht nur im Wirtschaftsteil fast aller Zeitungen so beliebte wirtschaftsliberale Neusprech auf den Berufder Wertstoffsammler angewandt. Über ihre Stärken und Kompetenzen sollen siereden und so entlarven sie das ganze inhaltsleere Geblubber, das sich überall eingeschlichen hat.

Abhängig vom Weltmarkt

Auf der Bühne wird nur mit wenigen Requisiten gearbeitet, natürlich die Karren, mit denen der Müll transportiert und große Säcke, in denen er verstaut wird. Manchmal aber dienen die Säcke auch als Projektionsfläche für ein Video über den Alltag der Männer im Beruf oder in der Freizeit. Auch ein Diagramm der schwankenden Börsenkurse für Eisen oder Aluminium, das die Einkünfte der Männer bestimmt, wird an einer Zeltwand abgebildet. Die Männer stellen sich auch mehrmals die Frage, welche Folgen ihre Beteiligung an dem Theaterprojekt auf ihr Leben hat. Viele ihrer Nachbarn und Freunde haben ihnen davon abgeraten. Einer warnte sogar, in Europa könnten ihnen die Organe entnommen werden. Die Frage nach den Folgen auf ihr Leben bleibt unbeantwortet, aber es wird schon deutlich, dass sie danach nicht mehr einfach so weitermachen werden, wie vorher. Ob das für sie positiv ist, bleibt am Ende offen. Für die Zuschauer jedenfalls war es ein positives Theatererlebnis. Wer Interesse hat und in der Nähe von Berlin lebt, kann das Stück am Montagabend besuchen und sollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.

Peter Nowak

Herr Dagacar und die goldene Tektonik des Mülls läuft am 14.3. um 20 Uhr in Berlin im HAU 2, Hallesches Ufer 32 zum letzten Mal. Mehr Infos: www.hebbel-am-ufer.de

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Geschrieben von

Peter Nowak

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